Eine Frage der Wahl
Irgendwie fing die Geschichte im brandenburgischen Neuglobsow an. Dort, so stand es im "Neuen Deutschland", wurde der "Wahlvorschlag für die Gemeindevertretung nicht bestätigt". Nach ein paar Tagen kam dann ein "veränderter Wahlvorschlag" durch und die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 konnten landesweit wie gehabt über die Bühne gehen.
Doch das Ergebnis der Wahl fiel diesmal nicht wie üblich aus. Zum ersten Mal in der DDR-Geschichte wurden nicht die 99 Prozent Ja-Stimmen abgegeben. Ein neues Demokratieverständnis begann sich zu Wort zu melden. Damals. Und heute? Dorf, Stadt, Land - drei Beispiele aus der Gegenwart gehen dieser Frage nach.
Wird es Neuglobsow in deutsche Geschichtsbücher schaffen? Wird man vielleicht auch Mildensee wenigstens als Fußnote irgendwo aufspüren können, wenn es um deutsche Geschichte und das Jahr 1989 geht?
Wir lassen die Fragezeichen dazu an ihrem Platz, hören aber mit Fragen nicht auf: Wie ist es denn heute da und dort und anderorts um das Privileg auf Mitbestimmung bestellt? Hat sich das neue Demokratieverständnis, es kam ja nicht irgendwie einfach so um die Ecke geschlendert und fragte: Willst du mich haben? Es wurde erkämpft, damals, in der DDR, 1989. Und 2009, in der BRD, wird es da wahrgenommen?
Die Fragezeichen sind gesetzt, die Berichte dazu folgen nun.
Damals war's. Vor 1989 war damit immer die Nachkriegszeit gemeint. Heute meint "damals" meistens 1989 und die Zeit der Wende. Dazu gehören die letzten Kommunalwahlen in der DDR vor ziemlich genau 20 Jahren. Damit fing nicht alles, aber so manches. Zum Beispiel in Neuglobsow war so ein Anfang. In dem brandenburgischen Dorf am Ufer des Stechlinsees kippten die Dörfler im März 1989 die vorgegebene Liste für den Bürgermeister und die Gemeinderäte. Eine unerhörte Begebenheit. Und ein Novum, dass erstmals Mitglieder der Opposition genau den Ablauf der Wahlen verfolgen und im Anschluss belegen konnten: Vielerorts seien die Ergebnisse gefälscht worden.
Claudia van Laak war 20 Jahre später, also dieser Tage wieder in Neuglobsow unterwegs. Hier ihr Bericht.
Wird es Neuglobsow in deutsche Geschichtsbücher schaffen? Wird man vielleicht auch Mildensee wenigstens als Fußnote irgendwo aufspüren können, wenn es um deutsche Geschichte und das Jahr 1989 geht?
Wir lassen die Fragezeichen dazu an ihrem Platz, hören aber mit Fragen nicht auf: Wie ist es denn heute da und dort und anderorts um das Privileg auf Mitbestimmung bestellt? Hat sich das neue Demokratieverständnis, es kam ja nicht irgendwie einfach so um die Ecke geschlendert und fragte: Willst du mich haben? Es wurde erkämpft, damals, in der DDR, 1989. Und 2009, in der BRD, wird es da wahrgenommen?
Die Fragezeichen sind gesetzt, die Berichte dazu folgen nun.
Damals war's. Vor 1989 war damit immer die Nachkriegszeit gemeint. Heute meint "damals" meistens 1989 und die Zeit der Wende. Dazu gehören die letzten Kommunalwahlen in der DDR vor ziemlich genau 20 Jahren. Damit fing nicht alles, aber so manches. Zum Beispiel in Neuglobsow war so ein Anfang. In dem brandenburgischen Dorf am Ufer des Stechlinsees kippten die Dörfler im März 1989 die vorgegebene Liste für den Bürgermeister und die Gemeinderäte. Eine unerhörte Begebenheit. Und ein Novum, dass erstmals Mitglieder der Opposition genau den Ablauf der Wahlen verfolgen und im Anschluss belegen konnten: Vielerorts seien die Ergebnisse gefälscht worden.
Claudia van Laak war 20 Jahre später, also dieser Tage wieder in Neuglobsow unterwegs. Hier ihr Bericht.
Neuglobsow
Beschaulicher könnte es kaum sein. Kleine Wellen schlagen an den Steg. Die Frühlingssonne dringt durch das Hellgrün der Buchen. Kein Autolärm, keine Hektik, keine aufgeregten Nachrichten. Ruhe am Stechlinsee.
Fischer Rainer Böttcher ist wie jeden Tag auf dem Stechlin unterwegs. Ob er nach drei oder nach fünf Stunden zurückkehrt, das ist egal. Das Leben in Neuglobsow geht weiter gemächlich seinen Gang. Das war schon immer so und wird es auch bleiben.
Außer am 22.März 1989. An diesem Tag findet in der HO-Gaststätte "Seeterrasse" eine denkwürdige Versammlung statt. Es geht um die Kommunalwahlen - um den SED-Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters und um die Liste der zu wählenden Gemeindevertreter. Eigentlich eine Routineveranstaltung, diese Liste wird immer so abgenickt wie die örtliche Parteiführung es will. Doch Bürgermeister Bernd Jörchel ist unbeliebt im Dorf. Obwohl in Neuglobsow keine neuen Eigenheime gebaut werden dürfen, erhält ein Genosse von außerhalb eine Baugenehmigung, erinnert sich Rainer Böttcher. Das ärgert die Dorfbewohner mächtig.
Rainer Böttcher: "Dann kam der Antrag von jemandem: Können wir die Kandidaten nicht einzeln abstimmen? Das wurde sofort verneint, entweder die ganze Liste oder nicht. Und dann hat sich mit Abstand die große Mehrheit für das 'Oder nicht' entschieden."
Auch Rainer Böttcher, heute Ortsvorsteher von Neuglobsow. Die Stimmung ist aufgeheizt an diesem Abend. Zum ersten Mal meckern die Dorfbewohner nicht mehr in ihren vier Wänden, sie stehen auf und ergreifen öffentlich das Wort gegen die SED-Funktionäre.
Walter Humboldt: "Ja, ick habe ooch gesagt: Hört auf zu diskutieren, das ist doch alles Lug und Trug, was ihr erzählt. In ein, zwei Jahren steht eine Bäckerei, da hat gar nichts gestanden. Das war nur, um die Leute zu beruhigen. Aber die konnten uns nun nicht mehr hintrösten, weil davor schon einiges falsch gelaufen ist, und da hat man sich keine Märchen mehr erzählen lassen."
Sagt Walter Humboldt, früher Wirt der "Seeterasse". Die Funktionäre sind verblüfft, ihnen fällt nichts anderes ein, als die Versammlung abzubrechen. Sie erstellen eine neue Liste ohne den alten Bürgermeister. Im fernen Berlin ist man alarmiert und schickt die Stasi nach Neuglobsow, erinnert sich Ehefrau Gisela Humboldt.
"Also das war sowieso schon so, dass die Leute rebellisch waren. Die wollten, dass sich was anderes tut. Und woran ich mich noch erinnere: der ganze Ort voller Stasi."
Rainer Böttcher: "Nach der Wende haben mir auch Leute erzählt: Na, Rainer, weißt du nicht, hinter der Bühne, die Richtmikrophone? Das wusste ich zum Beispiel nicht. Dass da so viele Fremde waren, dass ick nicht mal alleine auf Toilette gehen konnte, das kann ich bestätigen. Ick wusste gar nicht, wie mir geschieht. Ich gehe aufs Klo, kommt mir einer hinterher gerannt, was dachte der, was ich da mache. Man konnte ja noch nicht einmal alleine pinkeln gehen, na ja."
27 Jahre alt ist Rainer Böttcher in diesen denkwürdigen Wochen im Frühling '89. Dass sein Dorf Neuglobsow als erstes der DDR einen SED-Wahlvorschlag torpediert, dass er, der Fischer vom Stechlinsee, dieses historische Ereignis befördert hat - das wird ihm erst später bewusst. Gastwirt Humboldt jedoch reklamiert das Wort "Heldendorf" für sein Neuglobsow.
Walter Humboldt: "Als erster Ort haben wir praktisch die Partei abgewählt. Nicht wie Leipzig sich das angemaßt haben, wir sind die Heldenstadt Leipzig. Wir waren das Heldendorf Neuglobsow. Es wussten vielleicht nicht alle, wo das liegt, aber sie haben es ja auch im Fernsehen gebracht."
Und danach: Mit allgemeinen und freien Wahlen zieht auch die Marktwirtschaft nach Neuglobsow. Die "Seeterasse" wird geschlossen, Walter Humboldt fährt mit dem Hähnchenwagen über die Dörfer. Es tut ihm in der Seele weh: Seine alte Gaststätte verfällt mehr und mehr, wird zum Schandfleck in Neuglobsow. 18 Jahre lang steht die "Seeterasse" leer, erst jetzt wird sie saniert.
Walter Humboldt: "Von der Sache her, am Anfang die Euphorie war ja nicht verkehrt, aber man hat auch einen Haufen Dreck mitgekriegt."
Rainer Böttcher sieht das anders. Er engagiert sich im Gemeinderat, will Neuglobsow nach vorn bringen, wird zum Bürgermeister gewählt. Funktioniert die kommunale Demokratie? Der Fischer überlegt lange, dann nickt er.
"Ich glaub schon. Damals hatte die Gemeindevertretung mehr Rechte, aber ich hatte immer den Eindruck, dass der einzelne Bürger nicht so viele Rechte hatte."
Über die Ereignisse in Neuglobsow berichtete immerhin, wenn auch etwas karg, seinerzeit das "Neue Deutschland" - erstaunlich. Ebenfalls überraschend das Geschehen im kleinen Mildensee. Das liegt bei Dessau, also in Sachsen-Anhalt, aber nicht am Rande des Demokratieverständnisses. Wenige Wochen nach dem Fall der Mauer werden allerorten Runden Tische gegründet, neue Parteien ins Leben gerufen. Und wieder steht ein Dorf mit am Anfang mit "Demokratie wagen". In einer geheimen und freien Wahl wählen die Bewohner am 3. Februar 1990 einen Bürgermeister und einen Gemeinderat. Lange vor der ersten freien Volkskammerwahl im März 1990. Die ersten demokratischen Wahlen in der DDR fanden damit also in dem 3.000-Seelen-Ort Mildensee statt, konstatiert Susanne Arlt. Und auch dies.
Mildensee
Pfarrerin Eva-Maria Schneider blättert die Zeit zurück, wälzt Geschichte.
Eva-Maria Schneider: "Also Sie sehen hier, dass ist noch das ganze alte Material, wie wir gearbeitet haben, mit Zettel und handschriftlich und ja ... "
Auf dem runden Holztisch vor ihr liegen, akkurat gebündelt in einem orangefarbenen Papierordner, die Unterlagen zu einem wahrhaft historischen Ereignis. Die ersten freien demokratischen Wahlen in der DDR fanden nicht erst zur Volkskammerwahl am 18. März 1990 statt, sondern schon einen Monat zuvor. In Mildensee, einem Ortsteil von Dessau, wählten die Bürger bereits Anfang Februar ihren Gemeinderat und Bürgermeister.
Eva-Maria Schneider: "Ich zeige Ihnen mal hier so einen Umschlag. Da sind also die Wahlscheine drinne, die abgegebenen Stimmzettel."
Der braune Umschlag mit den aufbewahrten Wahlzetteln ist prall gefüllt und ordentlich versiegelt. Der Stempel wirft allerdings Fragen auf. Ein Siegel der evangelischen Kirche Dessau-Mildensee beglaubigt nämlich, dass bei der Gemeinderatswahl am 3. Februar in Mildensee alles mit rechten Dingen zuging. Pfarrerin Eva-Maria Schneider zuckt mit den Schultern und schaut dabei ein bisschen spitzbübisch drein.
"Es gab ja keine Regeln, es gab ja keine Ordnung, wir haben das dann einfach so gemacht."
Einfach so? Die wundersame Geschichte der ersten freien demokratischen Wahl in der DDR beginnt im November 1989: Die Mauer ist gefallen und mit ihr ein ganzes System. Aufbruchstimmung macht sich breit. In Mildensee treffen sich die Bewohner, diskutieren im Pfarramt hitzig die Ereignisse. Es soll sich etwas ändern in der DDR, aber auch in ihrem Ort. Denn Mildensee verfällt, seitdem es in den 50er Jahren Ortsteil der Bauhausstadt Dessau wurde. Das sei der Anfang von Ende gewesen, sagt Eva-Maria Schneider. Denn Dessau kann über jedes Schlagloch, jeden Ziegel, jeden Farbtopf entscheiden. Im Laufe der Jahre kommen immer weniger Gelder in Mildensee an.
Eva-Maria Schneider: "Zu DDR-Zeiten galten wir noch nicht einmal als Stadtteil, sondern als Außenbezirk, Betonung liegt auf 'außen', außen vor, am Rande, nicht wichtig. Und dagegen haben wir uns schon immer gewehrt und fanden das nicht richtig. In den 80er Jahren verstärkte sich das Gefühl, dass die Stadt den Ort aufgeben will. Der Ort war sehr stark überaltert, zwei Drittel waren Rentner. Man hatte das Gefühl, Mildensee soll leer gewohnt werden."
Nach dem Fall der Mauer brechen all diese Verletzungen hervor. Mildensee möchte sich dieser Bevormundung entledigen, die Bewohner wollen wieder selbst die Geschicke ihres Ortes in die Hand nehmen. Aber wie? Schließlich schlägt jemand vor, einen eigenen Bürgermeister und einen eigenen Gemeinderat zu wählen. Andächtige Stille im Gemeindehaus. Niemand weiß, wie eine demokratische Wahl vonstatten geht. Pfarrerin Eva-Maria Schneider schlägt vor, es so zu machen wie die Kirche. Und so wird die Wahlordnung der evangelischen Landeskirche Anhalt Vorbild für die erste freie Kommunalwahl in der DDR nach dem Fall der Mauer. Als erstes mussten wir Kandidaten für den Gemeinderat suchen, erinnert sich Eva-Maria Schneider.
"Also damals war es eigentlich so schwierig gar nicht. Wir haben das so gemacht, dass wir gesagt haben: Es soll wirklich aus dem Ort rauskommen diese Vorschläge, die ganze Geschichte muss von Mildensee getragen werden, sonst funktioniert es nicht. Und da haben wir im Ort verteilt, diverse Kisten aufgestellt und haben halt die Einwohner gebeten, Vorschläge zu machen."
Schließlich erteilt auch die ungeliebte Dessauer Stadtverwaltung den Dörflern ihren Segen. Jedoch nur unter einer Bedingung: Mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten müssen ihre Stimme abgeben. In Dessau denkt man hämisch, das schaffen wir doch nie, erinnert sich Schneider. Von den 56 potentiellen Kandidaten stellen sich schließlich 27 zur Wahl. Die Beteiligung liegt bei 55,4 Prozent. Die Parteizugehörigkeit aber fehlt auf dem Wahlzettel.
Eva-Maria Schneider: "Weil es uns nicht darum ging, welche Partei jetzt hier im Gemeinderat vertreten ist, sondern es ging uns um Menschen, um Inhalte; um Menschen, die für den Ort und für die Menschen im Ort sich verantwortlich fühlen und da etwas tun wollen."
Hans-Georg Lingner ist einer von ihnen. Der gelernte Zimmermann wird schließlich nach dem Fall der Mauer der erste demokratisch gewählte Bürgermeister der DDR. Mildensee erlebt in den kommenden Jahren einen rasanten Aufstieg: Anschluss an die Kanalisation, neu asphaltierte Straßen, die Lebensqualität in dem Dorf wächst.
Hans-Georg Lingner: "Es gab kein Parteigerangel, oder es hat keiner behauptet irgendwie, was unbedingt parteilich durchsetzen zu wollen. Es ging um die Sache, und das ist das Gute gewesen. Und deswegen sind wir so vorangekommen."
Fast 20 Jahre später ist in Mildensee inzwischen Ernüchterung eingekehrt. Der Kampf um die eigene Grundschule ging verloren, der Fleischer hat sein Geschäft längst geschlossen, manche Straße könnte schon wieder eine neue Asphaltdecke gebrauchen. Aber eines ist geblieben in Mildensee, sagt Pfarrerin Eva-Maria Schneider: Der Glaube an die Macht der Gemeinschaft.
"Was mich immer wieder neu freut, weil wir es der Stadt gezeigt haben. Weil es wirklich ein Zeichen dafür ist, wie gut der Zusammenhalt hier in Mildensee ist, was hier für eine gute Gemeinschaft ist. Das ist ja damals durchaus eine ganz mutige Geschichte gewesen, dass darf man nicht vergessen. Es war noch immer DDR zu der Zeit, zu der wir hier angefangen haben, da konnte ja noch keiner so genau sagen, wo läuft es hin und das war schon durchaus mutig."
Gegen das Einheitslisten-Wahlsystem in der DDR regte sich 1989 zunehmend Widerstand. Bereits 1988 mahnte die evangelische Kirche auf einem regionalen Kirchentag in Görlitz eine Reform des Wahlsystems an. Sie kritisierte die "fehlende Möglichkeit" der Auswahl von Kandidaten.
Dann kam die Wende und es kamen viele Kandidaten. Auch nach Sachsen. Bei der Landtagswahl 1990 beteiligten sich noch 72,8 Prozent der Wahlberechtigten am Urnengang. 14 Jahre später, also im Jahr 2004, waren es nur noch 59,6 Prozent. Und bei den letzten Kommunalwahlen 2008 ließ gar mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten das wichtigste bürgerliche Recht ungenutzt verfallen. 20 Jahre nach den letzten Kommunalwahlen in der DDR. Was Damals mit Heute verbindet - Alexandra Gerlach hat sich ein Bild gemacht.
Sachsen
Der Dresdner Matthias Rößler, Jahrgang 1955, erinnert sich noch ganz genau, wie er den politischen Aufbruch in der DDR vor 20 Jahren miterlebte.
Matthias Rößler: "Für mich war das Schlüsselerlebnis die Kommunalwahl. Ich war vorher schon auf unserem sächsischen Kirchentag, da spürte man, es würde Veränderungen geben. Und meine Frau und ich, wir haben alle Kandidaten der Nationalen Front durchgestrichen. Unter strenger Beobachtung. Ich muss gestehen, ich hatte ein bisschen weiche Knie."
Rößler hat in der DDR Maschinenbau studiert und promoviert, Grundwehrdienst geleistet und als Entwicklungsingenieur im Schienfahrzeugbau gearbeitet. Das Aufmucken in der Wahlkabine war für ihn riskant.
"Aber als dann nichts passierte, auch bei mir nicht in der Universität, ich keine Konsequenzen auch erleben musste, bin ich immer mutiger geworden. Und wir sind dann, Freunde, meine Frau und viele andere auf die Suche nach Gruppen gegangen, die auch oppositionell sich engagiert haben und sind dann alle irgendwann beim Neuen Forum gelandet."
Für Rößler, der seit 1990 als direkt gewählter Abgeordneter im sächsischen Landtag sitzt, und der in mehreren Kabinetten sowohl als Kultus- wie auch als Wissenschaftsminister Politik im Freistaat Sachsen mitgestaltet hat, war es nie eine Frage, sich nicht politisch zu engagieren.
"Für mich stand natürlich anders als bei vielen anderen Bürgerrechtlern nicht eine andere, eine bessere DDR im Vordergrund. Ich wollte eigentlich, wie die Mehrheit der Bevölkerung hier in Ostdeutschland, leben wie im Westen. Und als sich eine realistische Chance bot, bin ich ohne Wenn und Aber in die Politik eingestiegen."
Insgesamt traf das vor 20 Jahren jedoch nur auf eine Minderheit in der DDR zu. In der Euphorie des Aufbruchs, bis weit in die Wendezeit hinein, seien viele DDR-Bürger begeistert gewesen von der Idee der Demokratie, sagt Rößler, doch das habe sich geändert. Das belegen auch Studien, die der Dresdner Politikwissenschaftler Prof. Hans Vorländer durchgeführt hat.
Hans Vorländer: "Wir hatten in den 90er Jahren Zustimmungswerte zur Demokratie von etwa 80 bis fast 90 Prozent. Und das ist zurückgegangen auf fast 60 Prozent. Das ist ein dramatischer Zustimmungsverlust zur Idee der Demokratie. Und was eigentlich noch dramatischer ist, was einen sehr nachdenklich stimmt, ist, dass die Zustimmung zur konkreten Art und Weise, wie in der Bundesrepublik die Demokratie praktiziert wird, dass diese Zustimmungsrate noch tiefer gefallen ist und nur noch etwa um die 35 Prozent beträgt."
Das spiegelt sich auch in der Wahlbeteiligung wieder. Woher kommt dieser drastische Rückgang? Frage an den langjährigen Dresdner Stadtrat der Linkspartei, Andre Schollbach, der zur Wendezeit noch Kind war.
"Die Menschen haben ein gutes Gefühl dafür, was in diesem Lande passiert, und sie fühlen sich oftmals ohnmächtig. Man sieht es auch an den Wahlergebnissen - die letzten Kommunalwahlen in Dresden, da waren 46 Prozent Wahlbeteiligung, bei der Oberbürgermeisterwahl waren es noch 34 Prozent Wahlbeteiligung. Das ist eine Entwicklung, bei der man sich Gedanken machen muss."
Der ehemalige Leipziger Nikolaikirchenpfarrer Christian Führer erzählt eine Anekdote, um deutlich zu machen, das es angesichts der gewaltigen Erwartungen an den Aufbruch in die Demokratie geradezu zwangsläufig schon in ganz kleinen Alltagserfahrungen zu Enttäuschungen der DDR-Bürger kommen musste.
"Ich entsinne mich noch: Im Februar 1990, da kamen die Holländer mit ihrem Blumenkohl und ihren Radieschen im Winter, da stand ein alter Opa neben mir und moserte, der hatte gerade ein paar Radieschen erstanden: 2,20 Mark! Das kostete in der DDR 20 Pfennige! Ich sage: Haben Sie in der DDR jemals im Februar Radieschen gekauft? (Lachen) Ach, ja, na eben! Es ist einfach, es musste zu Enttäuschungen kommen."
Für den CDU-Politiker Matthias Rößler zeigt sich in der Rückschau, dass vor allem die hohen Erwartungen der DDR-Bürger an die sozialen Leistungen des Staates enttäuscht wurden:
"Also wenn es darum ging, was der Staat an Aufgaben leisten sollte, da waren die Ostdeutschen sicher immer viel Staatsgläubiger, noch Staatsgläubiger als die Westdeutschen. Die werden jetzt zwar auch immer Staatsgläubiger, das wird sich bald angleichen."
Andre Schollbach, Fraktionschef der Linkspartei im Dresdner Stadtrat, ergänzt, dass viele der Bürger sehr wohl zu schätzen wüssten, was in den zurückliegenden 20 Jahren geschaffen worden sei, allerdings:
"Nun gibt es eben große Teile der Bevölkerung, die für sich diese Vorteile nicht empfinden können, weil sie eben einen Abstieg erlebt haben in den vergangenen Jahren. Oder weil sich Hoffnungen, die erzeugt worden sind, nicht erfüllt haben."
Diese Meinung teilt auch der pensionierte Pfarrer Christian Führer. Für die gelernten DDR-Bürger, so frotzelt er, habe indessen mit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise eine neue verwirrende Phase für das Demokratieverständnis begonnen. Führer auf einem Podium der Leipziger Volkszeitung:
"Ich nenne mal die beiden Vokabeln, die mich am meisten erstaunt haben, die ich nicht dachte, dass ich sie nach dem Ende der DDR jemals wieder höre: ENTEIGNUNG und VERSTAATLICHUNG von Banken. Also das ist doch wirklich, da hat sich doch etwas getan hier."
"Waren Sie erschrocken oder erfreut?"
"Nee, ich muss sagen, ich war erstaunt, wie plötzlich doch die Wahrheit ans Licht kommt. Und ich kann nur sagen, wir müssen aufpassen, dass wir nicht von der Perestroijka in die Katastrojka geraten."