Eine Frage der Sichtweise

Was wir vom Mittelalter über das Fremde lernen können

Menschen auf dem Globus halten ein großes Teleskop.
Für Wilhelm von Rubruck und Marco Polo war das Fremde das, worüber sie so viel wie möglich herausfinden wollten. © imago/ ikon images
Von Marina Münkler |
In weiten Teilen der Welt nimmt seit einiger Zeit die Fremdenfeindlichkeit zu. Woher kommt der Hass? Im finsteren Mittelalter waren die Menschen vom Fremden fasziniert, sagt Marina Münkler. Aus einfachem Grund.
Als der Franziskanermönch Wilhelm von Rubruck nach langer und beschwerlicher Reise als einer der ersten Europäer 1251 an den Hof des mongolischen Großkhans in Karakorum kam, notierte er in seinem Bericht, er fühle sich, "als sei er in eine andere Welt" gekommen. Die Welt, auf die er traf, war ihm so fremd, dass er kein anderes Wort wusste, als sie eine andere Welt zu nennen. Dabei war sich Wilhelm bewusst, dass es nur eine Welt gab: jene Welt, die Gott geschaffen und mit den Nachkommen von Adam und Eva besiedelt hatte. Von einer anderen Welt zu sprechen, war deshalb für einen frommen Franziskanermönch des 13. Jahrhunderts eigentlich unmöglich. Wilhelm schränkte seine Behauptung denn auch ein: Es sei ihm erschienen, als ob er in eine andere Welt gekommen wäre.
Knapp 20 Jahre später traf der venezianische Kaufmannssohn Marco Polo ebenfalls beim mongolischen Großkhan ein. Zu diesem Zeitpunkt residierte der Großkhan nicht mehr in Karakorum, sondern in Peking. Auch Marco Polo erlebte eine neue Welt, aber er fühlte sich nicht befremdet. Stolz vermerkte er in seinem Bericht, dass der Großkhan ihn überaus freundlich begrüßt und in seinen Dienst genommen habe. Die Welt der Mongolen begeisterte ihn, dem Fremden begegnete er mit Respekt. Er lernte, sich in dieser Welt zu bewegen und blieb mehr als 20 Jahre dort.

Je unvertrauter, desto größer das Interesse

Die Mongolen, so lässt sich daraus schlussfolgern, waren den Europäern nicht gleichermaßen fremd: Für Wilhelm von Rubruck bildeten die Mongolen ein negatives Gegenbild zu der Welt, aus der er kam. Für Marco Polo dagegen waren sie ein unerreichbares Vorbild. Alles an der Herrschaft des mongolischen Großkhans erschien ihm prächtig und bestens organisiert. Woraus diese Gegensätze resultierten, lässt sich leicht erklären. Wilhelm von Rubruck sah die Mongolen als Feinde der Christenheit, Marco Polo betrachtete sie als Freunde der europäischen Fernhandelskaufleute, die es ihnen ermöglichten, zu den Reichtümern des Ostens vorzustoßen.
Für Marco Polo waren die Mongolen auch ein Lernumfeld. Aber nicht nur er, sondern auch Wilhelm von Rubruck war durchaus bereit zu lernen. Auch er bemühte sich darum, an den Mongolen positive Seiten zu entdecken und die Relativität seiner eigenen Maßstäbe anzuerkennen. Beide reagierten also auf das Fremde mit aufmerksamem Interesse, mit Neugierde. Dazu beschrieben sie drei Aspekte, die im Deutschen nur über ihre Artikel getrennt sind: Der Fremde, die Fremde, das Fremde. Sie widmeten sich den Menschen, den Ländern und den Gewohnheiten. Gingen beide zunächst von einer negativ oder positiv aufgeladenen, jedenfalls prinzipiellen Gegensätzlichkeit von eigen und fremd aus, so bemühten sie sich in ihren Berichten um Genauigkeit und Differenziertheit der Beschreibung. Und je unvertrauter auf der Skala des Unvertrauten das Fremde war, desto größer war das Interesse.

Der eigenen Identität sicher

Dieses Interesse gründete darauf, dass sie nicht meinten, über das Fremde schon alles zu wissen. Das Fremde war vielmehr das, worüber man so viel wie möglich herausfinden musste. Es war das, was man in seine Wissensordnung zu integrieren versuchte, und dazu war ein genauer Blick unerlässlich. Dieser genaue Blick hing nicht zuletzt vom Bewusstsein ihrer eigenen Identität ab. Beide, und das unterscheidet sie vielleicht am meisten von vielen heutigen Europäern, waren sich ihrer Identität sicher. Sie blieben, was sie waren: ein Franziskanermönch und ein Fernhandelskaufmann auf der Suche nach Wissen. Anders als es das verbreitete Bild vom finsteren Mittelalter nahelegt, zeigte es sich hier als auf Aufklärung bedachtes Zeitalter.

Marina Münkler, geboren 1960, ist Professorin für Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Seit 2017 ist sie auch Mitglied im Wissenschaftsrat, dem wichtigsten wissenschaftspolitischen Beratungsgremium in Deutschland. Sie hat zum Begriff des Fremden geforscht und zum Phänomen der Interkulturalität. 1998 erschien "Marco Polo"; 2000 "Erfahrung des Fremden" und "Lexikon der Renaissance"; 2003, herausgegeben mit Werner Röcke und Steffen Martus, "Schlachtfelder. Zur Codierung von Gewalt im medialen Wandel". Ihr 2016 gemeinsam mit ihrem Ehemann Prof. Herfried Münkler veröffentlichtes Buch "Die neuen Deutschen" sorgte für ein breites Medienecho.

Mehr zum Thema