Eine Frage der Identität

Von Heinz-Peter Katlewski · 05.02.2010
"Jude in Deutschland - wozu?" Das fragten Zentralrat und Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. 350 junge Erwachsene kamen nach Bad Kissingen, um auf dem jüdischen Jugendkongress eine Antwort zu finden.
"Ich glaube, es ist sehr interessant für einen selbst als nicht in Israel lebender Jude, wenn man schon eine Migration mitgemacht hat, sich die Frage zu stellen: Wer bin ich eigentlich, was verbinde ich persönlich, emotional oder rational mit dem Begriff 'Judentum'? Was bringt mir das? Was bringe ich dem Judentum?"

Aviva lebt in Hamburg. Ursprünglich kommt sie aus Lettland. Ihre Eltern hatten entschieden, dass ihre künftige Heimat in Deutschland sein wird. Nicht nur in ihrem Fall war es so. Als Diana die weite Reise in ein neues Land antrat war sie elf Jahre. Heute lebt sie in Lübeck.

"Wir sind hierher gekommen, weil aus Lettland viele, viele Juden ausgewandert sind, entweder Deutschland, Amerika oder Israel. Und wir haben Deutschland ausgesucht, weil Deutschland sehr europäisch ist, sehr kulturell, und das haben meine Eltern sehr geschätzt."

Die große Mehrheit der Kongressteilnehmer, aber auch rund 90 Prozent der Juden in Deutschland kommen heute aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Allerdings nicht alle. Melana zum Beispiel, eine Studentin aus Oldenburg:

"Ich bin ebenfalls in Deutschland geboren und aufgewachsen und war damit immer die Minderheit in meiner jüdischen Gemeinde, in der Klasse, in der Schule war ich immer die Einzige."

Jüdische Identität in Deutschland bedeutet nicht zuletzt, sich einer Minderheit zugehörig zu fühlen, einer, die auch noch eine eigene Geschichte hat, die ihrer eigenen Religion folgt und die nicht nur Sorgen der Mehrheit, sondern auch eigene beschäftigen. Umso reizvoller ist für manche die Vorstellung, selbst einer Mehrheit anzugehören. Nicht nur für Diana verbindet sich diese Sehnsucht mit Israel:

"Also ich fand's eigentlich am spannendsten in dem Seminar von Geli Aron. Das ist ein israelischer Journalist, jemand, der seine Jugend in Deutschland verbracht hat und dann nach Israel ausgewandert ist. Und ich fand seine Motive für die Auswanderung sehr interessant, und gleichzeitig habe ich mich selber wieder gefragt, ob ich tatsächlich mein ganzes Leben lang nun in Deutschland leben möchte. Oder soll ich doch lieber nach Israel oder nach Amerika auswandern. Also, ich bin zu einer Schlussfolgerung gekommen, dass ich auf jeden Fall öfters nach Israel fahren sollte, weil ich, wenn ich in Israel bin, dann habe ich das Gefühl, ich bin irgendwo zu Hause angekommen. Und das ist eigentlich das, was mich am meisten berührt hat."

Aber dann gab es noch Irritationen. Neben drei Rabbinern des - den meisten hier vertrauten - orthodoxen Judentums, waren auch drei aus den liberalen Strömungen im Programm des Jugendkongresses vertreten. Darunter eine Rabbinerin:

"Zunächst einmal war ich wirklich sehr, sehr überrascht, eine weibliche Rabbinerin zu sehen. So etwas habe ich noch nie in meinem Leben erlebt, und für mich ist das eigentlich außergewöhnlich, ich bin's nicht gewohnt, und momentan zumindest würde ich das für mich zumindest nicht unterstützen."

Nicht nur für Diana war die Begegnung mit Gesa Ederberg, der Rabbinerin der Berliner egalitären Synagoge Oranienburger Straße, eine neue Erfahrung. Auch für Alex. Er kam als 15-Jähriger mit seinen Eltern nach Deutschland und ist nun im fränkischen Amberg Teil einer orthodox geprägten Gemeinde.

"Sehr ungewöhnlich. Ich kenne zwar die Rabbinerin, ich akzeptiere sie, ich erkenne sie zwar nicht als Rabbinerin an. Aber ich find, wie gesagt, das ist ein schönes Beispiel auch wieder einmal für die Pluralität. Es war ein tolles Gebet am Freitagabend wo eben die Liberalen und die Orthodoxen gemeinsam gebetet haben. Das habe ich zum ersten Mal in Deutschland erlebt. Wieso nicht? Aber dass es endlich auch mal gemeinsame Veranstaltungen gibt, dass die miteinander reden und nicht nur diskutieren oder sogar streiten. Das ist eine Riesenentwicklung – und das ist gut so."

Nicht durch mannshohe Stellwände wurden Männer und Frauen beim Gottesdienst am Freitagabend getrennt, sondern durch eine Reihe von Kübeln mit Zimmerpflanzen. Für die orthodoxen Rabbiner war damit die Mindestanforderung für die Trennung der Geschlechter im Gottesdienst erfüllt. Die Liberalen, die diese im Talmud begründete Praxis nicht für geboten halten, konnten damit leben. Zu den Gottesdiensten am Samstagmorgen luden allerdings Orthodoxe und Liberale gesondert ein. Orlya aus Konstanz:

"Ich persönlich war dieses Jahr nicht beim liberalen Gottesdienst. Ich war 2006 mit einigen Freunden drin auf dem Jugendkongress in Düsseldorf damals, und ich muss zugeben, wir haben nach ein paar Minuten den Raum verlassen, weil uns hat die gesamte Art einfach nicht gefallen, war zu partymäßig."

Während bei diesem ersten Experiment vor einigen Jahren Rabbinerstudenten vom Potsdamer Abraham-Geiger-Kolleg einen liberalen Gottesdienst gestalteten, waren es dieses Mal gestandene Persönlichkeiten, die in jüdischen Einheitsgemeinden amtieren: neben Rabbinerin Gesa Ederberg, der niedersächsische Landesrabbiner Jonah Sievers und von der Berliner Synagoge Pestalozzistraße Tovia Ben Chorin. Vielleicht zog deshalb Melena, die auch in einer orthodox geprägten Gemeinde aufgewachsen ist, ein anderes Fazit:

"Ich habe heute das erste Mal an dem liberalen Gottesdienst teilgehabt, und ich fand es einfach großartig. Es hat mir wirklich sehr gut gefallen. Jeder wurde mit einbezogen, ich konnte das erste Mal richtig folgen. Mir wurde erklärt, auch noch mal auf deutsch, worum es geht, und die Religion kam einfach näher an mich ran."

Der orthodoxe Gottesdienst zog mit 40 Besuchern dennoch doppelt so viele Beter an wie der liberale. Die weitaus meisten der 350 angemeldeten Kongressteilnehmer waren in den Beträumen des Tagungshotels nicht zu sehen. Sie zogen es vor, den Vormittag zu schwänzen und nutzten die Zeit zu privaten Gesprächen, zum Plauschen und zum Flirten. Auf rege Nachfrage stießen dafür die Arbeitsgruppen. Auch dort stand die Frage nach der Identität im Zentrum. Ewgenij aus Aachen erinnert sich, dass er als Siebenjähriger – damals noch in seiner alten Heimat Moskau – erfuhr, dass der Jude ist:

"Ich kann halt nur sagen, dass bei uns in der Familie dieses Jüdischsein eigentlich nur rein national wahrgenommen wurde, genauso wie man Tatare oder Russe oder Ukrainer oder sonst was hätte sein können."

Im Alltag spielte das keine Rollte. Ewgenij ist der erste in seiner Familie, der sich ernsthaft mit der Religion auseinandersetzt, dennoch versteht er sich als Atheist. Die Hamburgerin Aviva dagegen ist die Religion wichtig. Bereits in Lettland ging sie in die Synagoge und besuchte eine jüdische Schule. Aber hier beim Jugendkongress sind auch ihre Prioritäten zunächst einmal andere:

"Ohne jetzt den Wert dieser Veranstaltung mindern zu wollen, würde ich sagen, dass es in erster Linie auch darum geht, viele, interessante, junge, dynamische jüdische Menschen kennen zu lernen aus ganz Deutschland, eine schöne Zeit zu verbringen, aber eine Zeit, die dann auch mit aktuellen Inhalten gefüllt ist."