Eine Frage der Definition
Was Geistesgestörtheit ist, verursacht oder heilt, darüber sind sich die Experten nicht einig. Wie der englische Professor für Sozialgeschichte der Medizin, Roy Porter, in seinem Buch "Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte" aufzeigt, hat jede Epoche ihre ganz eigene Auffassung davon, wann ein Mensch als geistig gestört gilt.
Schilderungen des Wahnsinns existieren seit Anbeginn der Menschheit. In den alten Kulturen, so Roy Porter in seiner kleinen Kulturgeschichte, führte man absonderliches Verhalten auf übernatürliche Kräfte zurück, auf Dämonen und Götter. Geheilt werden konnten die Erkrankten durch Gebete, Opfer, Beschwörungen. Allerdings kam schon damals Widerspruch auf.
So suchten Hippokrates und seine Jünger im Körper selbst nach den Ursachen geistiger Verwirrungen und erklärten sie mit veränderten Körpersäften. Ein kranker Körper verursachte krankhafte Ideen, Wahnsinn. Zugleich sahen Theaterautoren den Menschen als bewusstes Subjekt, keinen Spielball der Götter, das in freier Entscheidung in Gewissensnot und innere Konflikte gerät.
"Von Hochmut, Ehrgeiz oder Stolz zerfressene Helden werden von Schande, Kummer und Schuld übermannt; sie zerreißen sich und treiben in den Wahnsinn: Der psychische Bürgerkrieg wird eine endemische Eigenschaft der menschlichen Existenz."
Das klingt ein wenig wie aus einem Psychologielehrbuch der Neuzeit. Jedenfalls beherrscht seit diesen Zeiten die Dichotomie zwischen körperlichen und seelischen Ursachen die Medizingeschichte, tobt ein wahrer Glaubenskrieg zwischen denen, die Wahnsinn als organische oder genetische Störung ansehen und denen, die Geisterverwirrung auf seelische Konflikte zurückführen, als Reaktion des Geistes auf soziale, familiäre, wirtschaftliche Probleme verstehen.
Allerdings hatte jede Epoche ihre höchst eigenen Vorstellungen davon, was als seelisch gestört anzusehen war. Roy Porter:
"In allen Gesellschaften werden gewisse Menschen als verrückt bezeichnet. Ungeachtet einer möglichen, streng klinischen Rechtfertigung ist dies Teil der Maßnahmen zur Aussonderung andersartiger, abnormer und potentiell gefährlicher Mitbürger."
In Irrenanstalten weggeschlossen, mit Psychopharmaka ruhiggestellt, in Psychoanalyse in Kindheitstraumata zurückversetzt – die Neuzeit kennt zahlreiche Methoden, mit dem Wahnsinn umzugehen. Und Roy Porter erwähnt sie alle, ohne allerdings in die Tiefe zu gehen. Er verweist durchaus auf die Schwächen mancher Theorien, zeigt zum Beispiel, dass Foucaults "große Gefangenschaft", das heißt die Zwangseinweisungen von Armen und Verrückten durch die Gesellschaft in Frankreich durchaus nicht generell für Europa galten oder zeichnet nach, wie Freuds Entdeckung des Unbewussten sehr gegensätzliche Schlussfolgerungen nach sich zog. Er legt sich bewusst nicht fest, weil er nicht mehr als die ewige Diskussion um die Definition des Wahnsinns und seiner Ursachen darstellen wollte – nichts ist seiner Ansicht nach entschieden, alles im Prinzip so offen wie vor 2000 Jahren. Die Erfolge sind gering. Heute gibt es mehr Behandlungsbedürftige als jemals zuvor. Die Psychiatrie entdeckt ständig neue Störungen und damit neue Aufgabenbereiche, neue Einnahmequellen. Der kurze Abriss ist amüsant zu lesen, nicht zuletzt aufgrund der oftmals absurden Argumentation der jeweiligen Spezialisten. Roy Porters flüssig formulierter Gang durch die Geschichte des Wahnsinns zeigt nachdrücklich, wie wenig wir bislang über den Geist wissen. Der Sozialgeschichtler der Medizin ist leider vor drei Jahren allzu früh gestorben. Solche Medizingeschichten bräuchten wir mehr.
Roy Porter: Wahnsinn – Eine kleine Kulturgeschichte
Übersetzung Christian Detoux
Dörlemann Verlag Zürich 2005
239 Seiten, 18,20 Euro
So suchten Hippokrates und seine Jünger im Körper selbst nach den Ursachen geistiger Verwirrungen und erklärten sie mit veränderten Körpersäften. Ein kranker Körper verursachte krankhafte Ideen, Wahnsinn. Zugleich sahen Theaterautoren den Menschen als bewusstes Subjekt, keinen Spielball der Götter, das in freier Entscheidung in Gewissensnot und innere Konflikte gerät.
"Von Hochmut, Ehrgeiz oder Stolz zerfressene Helden werden von Schande, Kummer und Schuld übermannt; sie zerreißen sich und treiben in den Wahnsinn: Der psychische Bürgerkrieg wird eine endemische Eigenschaft der menschlichen Existenz."
Das klingt ein wenig wie aus einem Psychologielehrbuch der Neuzeit. Jedenfalls beherrscht seit diesen Zeiten die Dichotomie zwischen körperlichen und seelischen Ursachen die Medizingeschichte, tobt ein wahrer Glaubenskrieg zwischen denen, die Wahnsinn als organische oder genetische Störung ansehen und denen, die Geisterverwirrung auf seelische Konflikte zurückführen, als Reaktion des Geistes auf soziale, familiäre, wirtschaftliche Probleme verstehen.
Allerdings hatte jede Epoche ihre höchst eigenen Vorstellungen davon, was als seelisch gestört anzusehen war. Roy Porter:
"In allen Gesellschaften werden gewisse Menschen als verrückt bezeichnet. Ungeachtet einer möglichen, streng klinischen Rechtfertigung ist dies Teil der Maßnahmen zur Aussonderung andersartiger, abnormer und potentiell gefährlicher Mitbürger."
In Irrenanstalten weggeschlossen, mit Psychopharmaka ruhiggestellt, in Psychoanalyse in Kindheitstraumata zurückversetzt – die Neuzeit kennt zahlreiche Methoden, mit dem Wahnsinn umzugehen. Und Roy Porter erwähnt sie alle, ohne allerdings in die Tiefe zu gehen. Er verweist durchaus auf die Schwächen mancher Theorien, zeigt zum Beispiel, dass Foucaults "große Gefangenschaft", das heißt die Zwangseinweisungen von Armen und Verrückten durch die Gesellschaft in Frankreich durchaus nicht generell für Europa galten oder zeichnet nach, wie Freuds Entdeckung des Unbewussten sehr gegensätzliche Schlussfolgerungen nach sich zog. Er legt sich bewusst nicht fest, weil er nicht mehr als die ewige Diskussion um die Definition des Wahnsinns und seiner Ursachen darstellen wollte – nichts ist seiner Ansicht nach entschieden, alles im Prinzip so offen wie vor 2000 Jahren. Die Erfolge sind gering. Heute gibt es mehr Behandlungsbedürftige als jemals zuvor. Die Psychiatrie entdeckt ständig neue Störungen und damit neue Aufgabenbereiche, neue Einnahmequellen. Der kurze Abriss ist amüsant zu lesen, nicht zuletzt aufgrund der oftmals absurden Argumentation der jeweiligen Spezialisten. Roy Porters flüssig formulierter Gang durch die Geschichte des Wahnsinns zeigt nachdrücklich, wie wenig wir bislang über den Geist wissen. Der Sozialgeschichtler der Medizin ist leider vor drei Jahren allzu früh gestorben. Solche Medizingeschichten bräuchten wir mehr.
Roy Porter: Wahnsinn – Eine kleine Kulturgeschichte
Übersetzung Christian Detoux
Dörlemann Verlag Zürich 2005
239 Seiten, 18,20 Euro