Eine Flüchtlingsdrama in Frankreich

31.01.2010
Mit "Welcome" macht der französische Filmregisseur Philippe Lioret auf die Probleme der französischen Einwanderungspolitik aufmerksam. Der mehrfach ausgezeichnete Film führte zu einer Debatte im französischen Parlament und der Öffentlichkeit.
Britta Bürger: Bernd Sobolla über den Film "Welcome" des französischen Regisseurs Philippe Lioret, den ich jetzt sehr herzlich bei uns begrüße, gemeinsam mit Hauptdarsteller Vincent Lindon. Bonjour messieurs et bienvenue!

Philippe Lioret und Vincent Lindon: Bonjour!

Bürger: In jedem guten Spielfilm steckt auch ein Dokumentarfilm. Gilt dieses Credo von François Truffaut auch für Sie, Philippe Lioret?

Lioret: Nun, das war sogar eins der Grundprinzipien meines Films, weil wenn man etwas Romaneskes schaffen will, wenn man einen Film machen möchte, der etwas Romanhaftes hat, dann muss man natürlich einen dokumentarischen Teil davon benutzen, der sehr genau recherchiert ist und sehr präzise ist.

Bürger: So ein dichtes Drehbuch, das kann gar nicht nur am Schreibtisch entstehen - der Film zeigt schonungslos, was hinter den schon beinah abgenutzten Begriffen Flucht und Flüchtling steht, an Anstrengung, an Kampf, an Gefahr. Wo und wie haben Sie für diesen Film recherchiert und was haben Sie dabei erlebt, bevor Sie es dann zu einer Geschichte geformt haben?

Lioret: Bevor wir das Drehbuch geschrieben haben, haben mein Koautor und ich uns erst mal in diese Welt begeben, wir haben versucht, mit diesen Emigranten zusammen zu leben und haben uns vollgesaugt, ein bisschen wie ein Schwamm, auch mit dieser Atmosphäre. Weil für mich ist ... Die Macht des Kinos und die Macht der Fiktion funktioniert dann, wenn eben auch das Dokumentarische wenigstens authentisch wirkt. Und dann mussten Identifikationsfiguren gefunden werden, es musste eine Dramaturgie entstehen, um diese Geschichte zu erzählen, weil ich sehe mich in erster Linie als ein Geschichtenerzähler - und das braucht einprägsame Figuren.

Bilal, diese Hauptfigur, besteht dann aus jungen Männern, die ich kennengelernt habe. Der eine war ein junger Kurde, der andere ein junger Afghane. Und der eine ist geflohen vor einem Bürgerkrieg, und hätte man ihn zurückgeschickt, hätte es den sicheren Tod bedeutet. Und er war derjenige, der nach England wollte, der dort eine Freundin hatte. Und dann habe ich auch den Ehemann von einer Frau kennengelernt, die bei einer Hilfsorganisation gearbeitet hat, und diesem Ehemann war das letztendlich ein bisschen egal, was seine Frau da gemacht hat - er war eher dafür noch dagegen. Aber das war letztendlich die Figur, die zu Simon geführt hat, die Hauptfigur, die jetzt Vincent Lindon spielt. Und als ich das erste Mal Vincent in einem Café von dieser Figur erzählt habe, da waren wir uns klar, da waren wir uns sicher, diesen Film werden wir zusammen machen. Aber am Anfang stand praktisch eine journalistische Recherche.

Bürger: Bilal, dieser junge Kurde aus dem Irak, er hat das Ziel, durch den Ärmelkanal nach Großbritannien zu schwimmen, und er lässt sich dafür von Ihnen, Vincent Lindon, trainieren, Sie spielen den Schwimmlehrer. Was verbindet Sie emotional mit diesem Jungen?

Lindon: Also wenn ich Ihnen jetzt die Wahrheit sage, dann kann ich diese Frage nur in zwei Aspekten beantworten. Da war zuerst der Punkt, als ich das Drehbuch las und die ersten Wochen, als ich diesen Film gedreht habe. Diese Figur von dem Bilal, die hat mich jetzt nicht komplett umgehauen am Anfang. Für mich war am Anfang des Films einfach nur ein Mann, der seine Frau zurückerobern wollte, der ja auch ein bisschen beweisen wollte, dass er nicht nur so ein Egoist ist, dass auch in ihm menschliche Regungen stecken, dass er einem jungen Emigranten helfen kann. Das stand für mich am Anfang dieser Geschichte.

Und dann langsam während der Dreharbeiten hat sich das ein bisschen entwickelt, und ich habe diese Geschichte der Frau so ein bisschen vergessen und habe nur diesen Jungen gesehen, weil ich selbst als Schauspieler Vincent Lindon mich dann doch sehr stark mit Simon, meiner Figur identifiziert habe und auch mit diesem Hauptdarsteller.

Wir hatten dann eine sehr, sehr persönliche Beziehung zueinander - einerseits in unseren Rollen, aber auch privat. Weil er war ein Neuling, er hat ja das erste Mal überhaupt Kino gespielt, und ich habe ihn dann als Schauspieler ein bisschen angeleitet. Und in meiner Rolle als Simon habe ich ihm ja auch geholfen, dass er schwimmen lernt, damit er dann den Ärmelkanal durchqueren kann. Also das ist sozusagen auf beiden Ebenen passiert. Und da ist etwas sehr, sehr Schönes passiert: Wenn Kino und Realität sich vermischen, wenn etwas, was für die große Leinwand geschaffen worden ist, dann plötzlich auch gesellschaftskritisch wird - und diese Einheit fand ich spannend. Und da, finde ich, hat sich der Regisseur ein sehr, sehr großes Geschenk gemacht - einmal an sich selbst, aber natürlich auch an mich.

Letztendlich bin ich jetzt als Schauspieler auch gereift, und ich werde nicht mehr der Gleiche sein, der ich vor diesem Film war. Und genau wie Simon im Film eine Entwicklung durchmacht, mache auch ich, Vincent Lindon, eine Entwicklung durch und würde mal sagen, ich bin nach diesem Film kein schlechterer Mensch geworden.

Bürger: Es ist aber auch ein Geschenk für uns Zuschauer. Sie haben mich mit Ihrer Darstellung sowohl bei der Berlinale im Kino als auch jetzt zu Hause, als ich den Film noch mal auf DVD geguckt habe, ziemlich zum Weinen gebracht. Und wenn ich anfangen würde, diese Szenen zu beschreiben, dann würde sich das viel, viel kitschiger anhören, als es im Film tatsächlich ist. Der ist völlig frei von Kitsch. Wie erreichen Sie diese hohe Emotionalität im Spiel?

Lindon: Ich werde Ihnen versuchen eine sehr schnelle, kurze Antwort zu geben, weil ich mag nicht erklären, wie ich arbeite. Aber ich finde, dass es nur drei, vier Filme gegeben hat, die mir so viel gegeben haben. Was mich interessiert, ist nicht die Psychologie einer Figur, sondern wie sie sich bewegt, wie sie sich anzieht, wie sie spricht. Und der Regisseur und ich, wir haben eigentlich die gleiche Phobie, weil uns die Psychologie primär nicht interessiert.

Gut, ich kann das jetzt hier im Radio nicht wirklich vormachen, aber ganz wichtig bei dieser Figur war die Geschwindigkeit, in der er sich bewegt. Er trainiert Kinder, er bringt Kindern Schwimmen bei, das heißt, er hat einen sehr, sehr langsamen Gang, schlendert und schlurft so ein bisschen in seinen Badelatschen durch diese Schwimmhalle und bewegt sich ein bisschen wie in Zeitlupe. Und wenn er von einem Kollegen gerufen wird - Simon! -, dann dreht er sich nicht nervös um, sondern so ganz langsam dreht er seinen Kopf. Und als ich diese Bewegung für mich gefunden hatte, da fühlte ich mich wohl in dieser Rolle.

Bürger: Zu Gast im Deutschlandradio Kultur sind heute der französische Filmregisseur Philippe Lioret und der Schauspieler Vincent Lindon. Gemeinsam haben sie das Flüchtlingsdrama "Welcome" realisiert, einen Film, der unter anderem mit dem Lux-Filmpreis des Europaparlaments ausgezeichnet worden ist und mit dem Panorama-Publikumspreis bei der letzten Berlinale.

In Frankreich haben den Film weit über eine Million Zuschauer gesehen, darunter vermutlich viele, die mit der französischen Einwanderungspolitik ebenso unzufrieden sind wie Sie. Ihr Film problematisiert, dass es in Frankreich ein Gesetz gibt, dass Menschen, die illegalen Einwanderern in irgendeiner Weise helfen, hart bestraft werden können, und das gilt nicht nur für professionelle Schlepper, sondern für jeden, der einem Illegalen zum Beispiel sein Handy leiht, ihn mit dem Auto mitnimmt oder zum Essen einlädt. Was ist aus der großen öffentlichen Debatte in Frankreich geworden, zu der Ihr Film ja beigetragen hat? Es gab ja den Versuch, dieses Gesetz zu kippen.

Lioret: Nun, diese Debatte, die hat sich natürlich weiter entwickelt. Also ich kam mir so ein bisschen vor wie der Zauberlehrling, der dann plötzlich von den Ereignissen überrollt wird. Also mein Film ist im französischen Parlament gezeigt worden, weil es geht um dieses Gesetz unerlaubter Hilfe für illegale Einwanderer, und dafür kann man mit fünf Jahren Gefängnis bestraft werden oder mit einer Geldstrafe von 30.000 Euro. Und alles, was wir wollten, war, dass dieses Gesetz um einen winzigen Passus erweitert wird, indem es eben heißt, dass diese unerlaubte Hilfe nur dann strafbar ist, wenn man das aus kommerziellen Gründen tut. So werden letztendlich Schlepper und Banden in einen Topf geworfen mit Leuten, die einem illegalen Einwanderer vielleicht nur etwas zu trinken oder zu essen geben.

Aber die Mehrheit des französischen Parlaments ist sehr rechts, ist sehr konservativ, und alle standen wie ein Mann hinter Sarkozy und hinter seinem Minister Eric Besson, der dieses Gesetz verteidigt, und so ist diese Gesetzesänderung leider nicht durchgekommen. Und natürlich hat mich das schon gewurmt, aber nicht wirklich verwundert. Letztendlich ist das eben auch nur ein Film, und mit einem Film kann man nur sehr schwerlich wirkliche Gesetze verändern.

Bürger: Derzeit hat Präsident Sarkozy ja gerade wieder eine Debatte über die nationale Identität angekurbelt: Wer oder was ist ein richtiger Franzose? Hat er sich damit eigentlich ein Eigentor geschossen? Anscheinend bekommt er ja ordentlich Applaus von Rechtsaußen.

Lioret: Nun, Sarkozy rühmt sich immer, dass er die rechtsextreme Front National praktisch abgeschafft hat, aber die Wahrheit ist, die Wähler von Front National wählen heute die Partei von Sarkozy, die UMP. Und was diese Nationalität angeht, da werde ich Ihnen einfach mal ein Beispiel geben: Mein bester Freund, er ist in Algerien geboren, aber als Franzose, der lebt aber seit 50 Jahren in Frankreich, er ist gerade mal 51 Jahre alt. Und er hat Probleme, einen neuen französischen Pass zu bekommen, weil sein Vater, der als Franzose geboren wurde, in der damals französischen Kolonie Algerien, nicht einwandfrei beweisen kann, Franzose zu sein. Und das ist eine absolut absurde Diskussion.

Ich glaube, der Vater von Sarkozy war Ungar. Wie wäre das jetzt, wenn Sarkozy mal seinen Pass verlieren würde, und sein Vater, der als Ungar französisch eingebürgert wurde, könne nicht mehr beweisen, dass er als Franzose geboren worden ist. Das würde ja letztendlich beweisen, dass Sarkozy gar kein richtiger Franzose ist, und dann müsste er natürlich zurücktreten, weil das geht nicht, dass jemand, der nicht eingebürgert worden ist, Präsident der Republik sein kann.

Bürger: Philippe Lioret, hat dieser Film "Welcome" Sie noch stärker politisiert?

Lioret: Ja, dieser Film hat mich politisiert, hat einen politischen Menschen aus mir gemacht, weil ich gebe zu, davor war ich relativ unpolitisch. Aber hier habe ich mich wirklich aufgelehnt, das konnte ich mir einfach nicht mit anschauen, weil es war unlogisch, es war unmenschlich, und man führt die Leute in den Verrat, in die Lüge. Und wenn man sich das nur anschaut: Wir haben einen Minister für die nationale Identität, Eric Besson, und dieser Mann war vor zwei, vor drei Jahren noch in der Sozialistischen Partei und ist einfach rechts übergelaufen, ehrlich gesagt, weil er wahrscheinlich ein Auto mit Chauffeur haben wollte und nicht länger mit der Metro zu Fuß fahren wollte. Und dieser Mann, der mal von der Linken kam, ja, der übt eine Art Terror aus auf illegale Einwanderer, aber auch auf Mitglieder von Hilfsorganisationen.

Und das hat mich einfach auch angekotzt, da habe ich mich einfach auch aufgelehnt, das konnte ich mir einfach nicht anschauen. Und normalerweise gefällt mir die Welt nicht, wie ich sie sehe, und ich flüchte mich in meine Filmwelt, drehe Fiktionen, aber ich kann die Aktualität nicht ausblenden. Und das hat mir dieser Film und die Beschäftigung mit diesem Stoff klargemacht.

Bürger: Philippe Lioret und Vincent Lindon, danke für Ihren Besuch, und auch Jörg Taschmann Dank für die Übersetzung. Der Film "Welcome" ist gerade in den deutschen Kinos angelaufen, und ich vergebe das Prädikat "besonders wertvoll!".