Eine feine Gesellschaft

Von Walther Stützle |
Eine feine Gesellschaft: Oben der Totenkopf in Soldaten-Hand – unten ein kaum verhüllter Unterleib: Obszön aber nur der Totenkopf-Missbrauch – so jedenfalls das moralische Verdikt der beflissenen Sittenwächter der Nation; ja, was sind wir doch für gute Menschen, mokieren uns, täglich neu ins Bild gesetzt, über die Verfehlungen junger Menschen im fernen Afghanistan und baden selbst in heimatlicher Selbstgerechtigkeit.
Nahezu alle Notabeln der Republik eilten an die Mikrofone, ja selbst der Nato-Generalsekretär wurde ins Feld geführt, um Abscheu gegenüber den Entgleisten zu bekunden. Zwar hat noch gar kein Gericht getagt und Recht gesprochen, aber endlich gibt es eine kleine Gruppe dümmlicher Uniformträger, über die der ganze Politikerfrust ausgegossen werden kann angesichts der vielen Ungereimtheiten bei den vielen Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Und gleichzeitig läuft in manch Fernsehprogramm unangefochten die perfekte Anleitung zur pornographischen Verzerrung der menschlichen, zumal der weiblichen Würde und in ungezählten Computerspiel-Geschäften der Verkauf von Kriegs- und anderen Gewaltspielen; in vielen Großstadt-Schulen leidet der Unterricht massiv unter der äußerst mangelhaften Erziehung der schulpflichtigen Söhne und Töchter und nicht selten verlassen Fahrgäste den Bus lange vor dem eigentlichen Ziel, nur um drohender Gewalt freizeitunfähiger Jugendlicher zu entkommen.

Doch wie der Verlotterung öffentlicher Sitten endlich Einhalt geboten werden kann – darüber gibt es kaum eine öffentliche Debatte, geschweige denn brauchbare Politiker-Ideen. Gewiss und um Missverständnisse zu vermeiden: das würdelose Benehmen einiger Soldaten in Afghanistan verdient Aufklärung und gegebenenfalls auch eine gerechte Strafe; fraglos auch, dass Entrüstung erlaubt und angebracht ist. Vor allem aber müssen sich die, die nun so messerscharf urteilen und verurteilen sich fragen, ob sie angesichts der von ihnen angerichteten gesellschaftlichen Flurschäden wirklich ein gutes Gewissen haben dürfen!

Sind es nicht gerade die so genannten besseren, die feinen Kreise, in denen Ehe und Familie fortgesetzt verspottet werden? Fällt niemandem auf, dass verwahrloste Kinder nicht vom Himmel fallen, sondern die Opfer einer pflichtvergessenen Gesellschaft sind? Und stimmt es etwa nicht, dass so genannte Medienmanager mit pornographischer Gewaltverherrlichung Millionen-Einkommen auf ihre Konten lenken? Nein, zur Selbstgerechtigkeit gegen wenige Entgleiser in Uniform haben die Vielen kein Recht, die, jahrelang und leider erfolgreich, beharrlich an der Beseitigung des moralischen Kitts unserer Gesellschaft gearbeitet haben. Sie aber; die Übelbolde in Uniform, sind Kinder eben dieser feinen Gesellschaft und die Bundeswehr ist eines ihrer Spiegelbilder – in guten, aber eben auch in schlechten Zeiten.

Ganz gewiss: Das Ansehen der Bundesrepublik ist in den letzten Tagen arg strapaziert worden. Doch es gibt auch Gutes zu berichten. Denn was wäre wohl gewesen, hätten die Marine-Soldaten auf den Schiffen vor dem Libanon nicht so besonnen auf den Anflug durch israelische Kampfflugzeuge reagiert, sondern diese, weil gewiss bedrohlich, mit ihren hochmodernen Abwehrwaffen vom Himmel geholt? Gottlob haben die Kommandanten Nerven bewahrt, haben das törichte Spiel israelischer Piloten mit überlegener Ruhe und nicht mit tödlicher Gegenwehr beantwortet. Wo aber bleibt das Wort der Anerkennung, wo der Dank dafür, von der Bundesrepublik Deutschland Schaden abgewehrt zu haben!

Zwei Vorgänge von unterschiedlichem Charakter, mag manch Kritiker einwenden. Vielleicht – aber eben auch mit einer sie verbindenden Gemeinsamkeit: In Afghanistan folgen Soldaten einem klaren Mandat mit zunehmend ungewissem Ausgang. Vor der Küste des Libanon operiert die Marine mit einem unklaren Mandat unter Gefahren, die niemand vernünftig zu kalkulieren weiß. Da ist auch die öffentliche Bekundung der Kanzlerin, sie werde politisch neu verhandeln, sollten die Soldaten mit dem Mandat nicht zufrieden sein, kein Trost. Tatsächlich ist sie ein Offenbarungseid, der den Soldaten signalisiert, dass die politisch Verantwortlichen sie in eine Mission geschickt haben, die die Führung selbst nicht ganz versteht. Schlimmer kann es für verfassungs- und gesetzestreue Soldaten nicht kommen – es sei denn, es ginge wirklich etwas tödlich schief; dann aber werden viele versuchen, es den Wenigen auf den Schiffen vor dem Libanon in die Schuhe zu schieben, um sich selbst zu entlasten. Denn wir sind ja gut und können nichts dafür, wenn einige versagen und Berlins weiße Weste beschmutzen. Eine feine Gesellschaft.

Walther Stützle, Journalist und Autor, Jahrgang 1941, war von 1998 bis 2002 Staatssekretär des Verteidigungsministeriums, ist Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, sowie Honorarprofessor an der Universität Potsdam.