"Eine fast grenzenlose Begegnung mit sich selbst"

Moderation: Joachim Scholl · 18.05.2011
Gustav Mahlers Musik irritiert und begeistert auch heute noch, meint der Bariton und Mahlerforscher Thomas Hampson. Mahler zu hören, sei wie in einem Gespräch zu sein, "wo vieles diskutiert wird, das vielleicht nicht sofort spontan erkennbar ist". Heute jährt sich Mahlers Todestag zum 100. Mal.
Joachim Scholl: Der Amerikaner Thomas Hampson ist einer der bedeutendsten Sänger der Gegenwart. Gefragt auf allen Opern- und Konzertbühnen dieser Welt, mit vielen Preisen ausgezeichnet, gilt Thomas Hampson zugleich als einer der besten Kenner und Interpreten des deutschen romantischen Liedes – und insbesondere Gustav Mahler hat es Thomas Hampson angetan. In diesem Frühjahr hat der Sänger 14 Lieder auf CD veröffentlicht, Mahlers Vertonung der Liedsammlung "Des Knaben Wunderhorn", und zusammen mit Thomas Hampson wollen wir uns an Gustav Mahler und seine Kunst erinnern, zum heutigen 100. Todestag des Komponisten. Herzlich willkommen im Radiofeuilleton, Thomas Hampson!

Thomas Hampson: Danke vielmals, guten Tag!

Scholl: Sie sind Jahrgang 1955, musikalisch aufgewachsen in einer Zeit, in der Mahlers Musik wiederentdeckt wurde und weltweit triumphierte. Wie verlief Ihr Weg zu Mahler, wie kamen Sie mit seiner Musik in Berührung?

Hampson: Eigentlich sehr viel später. Ich habe eigentlich mit dieser Neuerweckung gar nichts zu tun gehabt. Ich kam aus der westlichen Seite von Amerika und meine musikalische Kenntnis war nicht unbedingt gerade in der Linie von Mahler. Und ich hatte eigentlich in meiner Studienzeit, Anfang der 80er-Jahre, meine erste Begegnung mit Mahler. Ich habe seine Sinfonie in meinem Auto aufgelegt, weil ich ein Lied von den "Kindertotenliedern" vorbereiten sollte für meine Klasse. Ich dachte, ich muss einfach seine Musik besser kennenlernen. Bin ich dann losgefahren, und nach zehn Minuten habe ich festgestellt, dass ich 35 km/h ... die Autobahn runter, das war ein bisschen lebensgefährlich, und seit diesem Moment bin ich völlig von seiner Musik und seinem Leben benommen, geführt, bedankt, alles Mögliche.

Scholl: Gustav Mahler on an American Highway, das ist auch eine aparte Kombination.

Hampson: Ja, das ist auch gut. Die erste Sinfonie in Washington State, ja.

Scholl: Sie haben nicht nur fast sämtliche Lieder Mahlers irgendwann in Ihrer Karriere gesungen, Sie sind inzwischen ein anerkannter Mahler-Experte und -Forscher. Was hat Sie dazu gebracht, sich so intensiv mit ihm auseinanderzusetzen?

Hampson: Wissen Sie, ich finde schon sehr interessant, einfach so viel zu kennen und zu verstehen, wie man kann, und insbesondere bei Mahler, weil alles von Mahler, seiner Zeit, seiner eigenen Suche nach seinen eigenen philosophischen Antworten ... Er war so belesen, er hat einfach immer selbst geforscht und gelesen und Zusammenhänge ... um dann das wieder in seiner Musik hörbar zu machen. Als Künstler ist es nicht aus Verpflichtung, es ist aus Begeisterung und Liebe zu ihm, dass er mir einfach immer wieder woanders seine Gedanken sozusagen geschickt hat, einfach weiterzulesen, weiterzuverstehen, ich meine, vergessene Philosophen wie Gustav Fechner, oder vielleicht eigenartige Zusammenhänge mit Friedrich Rückert, die selbst in dem deutschsprachigen Raum vergessen worden sind. Die Welt von Gustav Mahler – sein Herz, sein Hirn, seine Seele – ist eine fast grenzenlose Begegnung mit sich selbst, ehrlich gesagt, und das ist, was mich nach wie vor beschäftigt und begeistert.

Scholl: Mahler stand nicht nur biografisch, sondern auch ästhetisch an der Schwelle der Moderne um 1900. Was war das Neue, das Ungewohnte in seiner Musik, seiner Sinfonik auch, die viele Zeitgenossen ja irritierte?

Hampson: Die Zeitgenossen, die tatsächliche Avantgarde seiner Zeit war sehr begeistert. Der normale Konzertgeher bis zum Experten der Zeit, die waren irritiert, wahrscheinlich vor allem zuerst von der Länge seiner Arbeit. Die Sinfonien waren einfach sehr, sehr lang, manchmal sogar ... die spätere Sinfonie sprengte jede Form der gekannten sinfonischen Form sozusagen. Dazu: Ich glaube, das Emotionelle, das die Leute so entweder begeistert oder irritiert – und das gilt fast für die heutige Welt – über Mahler, ist inmitten eines Gespräches zu sein, das heißt, inmitten der Musik von Mahler zu sein und metaphorisch gesehen ein Gespräch, wo vieles diskutiert wird, das vielleicht nicht sofort spontan erkennbar ist, das heißt, man könnte sagen, profane und metaphysische ...

Gleichzeitig habe ich, ich meine, auch das, was Musik in der eigenen Fantasie transportiert, und dann auch blitzartig in der nächsten Sekunde das Banalste, das überhaupt vielleicht in der Musik vorkommen könnte, darstellt. Das wird ihm immer wieder vorgeworfen, auch auf höchst persönliche Art, die nicht angebracht sein soll in einem sinfonischen Werk, es wird behauptet, das ist gar keine musikalische Form. Der Hanslick hat gesagt in seiner Zeit, es mag interessant sein, aber es ist nicht Musik, wie ich erkenne.

Scholl: Hanslick, damals einer der berühmtesten Kritiker seiner Zeit. Es ist Ihr Verdienst nun, Thomas Hampson, immer wieder auf den "literarischen" Mahler aufmerksam zu machen. In seinen Liedern zeigt sich eben diese ganz intensive Beziehung zu Literatur, zu Texten, zur Poesie, und wir wollen jetzt ein Beispiel hören. Aus Ihrer im Frühjahr erschienenen CD mit Vertonungen der Liedsammlung "Des Knaben Wunderhorn" hören wir das Stück "Rheinlegendchen", dessen Text viele Menschen kennen, ohne vielleicht auch zu wissen, woher er stammt: "Bald gras' ich am Neckar, bald gras' ich am Rhein". Thomas Hampson singt, es spielen die Wiener Virtuosen.

(Musikeinspielung)

Diese Aufnahme, die wir gerade gehört haben, Herr Hampson, haben Sie erstmals mit Orchesterbegleitung eingespielt, den Wiener Virtuosen – ein Kammermusik-Ensemble, das aus Musikern der Wiener Philharmoniker besteht. Was hat Mahler an diesen Texten aus "Des Knaben Wunderhorn" anscheinend so gereizt, fasziniert, dass er sie vertonte?

Hampson: Wenn wir sprechen von "Des Knaben Wunderhorn" als Gedichtesammlung und was Mahler daran gereizt hat, ist es sicherlich diese sehr vordergründige lebendige Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Facetten des menschlichen Lebens, bisschen groß gesagt. Die Lieder, die Gedichte kamen aus allererster Hand, aus allererster Beschreibung, von einer gewissen emotionellen lebendigen Auseinandersetzung. Ob es der Außenseiter eines Militärliedes ist oder ein Ländler wie dieses "Rheinlegendchen", oder eine Parabel wie Antonius zur Fischpredigt – die waren äußerst charakterisierend, lebendige Aussagen in Gedichtsform, was er einfach in seiner Genialität mit Wort und Ton nicht nur in Verbindung gebracht hat, aber, wie er selbst beschrieben hat: wie ein Felsblock, aus dem heraus ein Kosmos, ein lebensbestehendes Ereignis, das Wort und Ton ebenbürtig bleibt, (…) Wiedergebung von Leben in Musik und Ton oder in Musik und Wort, wenn ich so was beschreiben darf.

Scholl: Man umrankt Mahlers Musik gern mit der Metaphorik des Tragischen, der Wehmut, der Sehnsucht, auch nach dem Tod. Zentral stehen hier die "Kindertotenlieder" nach den furchtbar traurigen Gedichten von Friedrich Rückert. Diese Lieder nun aus "Des Knaben Wunderhorn", der Liedsammlung von Clemens von Brentano und Achim von Arnim, die zeigen ja einen durchaus fröhlichen, humoristischen Mahler. War das auch Ihre Absicht, Thomas Hampson, mal einen anderen, diesen Mahler zu zeigen?

Hampson: Ich muss leider widersprechen. Ich finde eigentlich in fast aller seiner Musik keine Todessehnsucht. Todessehnsucht heißt für mich: einer, der da sitzt und sagt, das ist alles so grauenvoll hier im Leben, ich möchte lieber woanders ... sobald wie möglich mich verabschieden. Und das ist eigentlich nicht die Aussage von Gustav Mahler, denn Mahler sucht den Sinn des Todes im Sinne vom Leben.

In dieser Zeit, knapp diese zehn Jahre, insbesondere von 1892 bis 1901, suchte er diese Antwort oder die Zusammenstellung eher in den Metaphern und Parabeln der Natur. Und "Des Knaben Wunderhorn" ist natürlich die perfekte Quelle davon. "Des Knaben Wunderhorn" oder Volksgedicht ist nicht das, was von einer Volksperson gedichtet wurde in irgendwelchen Ur-Caven oder unter einem Urbaum. Es ist tatsächlich das, was in dem Bewusstsein des Volkes geblieben ist in den Aussagen. Und das, was da gesammelt wurde von Clemens von Bretano und Achim von Arnim und dann dazugedichtet, war eher im Sinne von was in dem Bewusstsein des Volkes geblieben ist. Und das ist, warum diese Gedichtsammlung so machtvoll oder so aussagenreich ist.

Mit Rückert ist er schon in einer Phase seines Lebens, wo er sehr interieur sozusagen seine eigene Psyche und spirituelle Suche in seinem Leben, metaphysisch gesehen, gesucht hat. Und dann kommen wir auf diese sonderbare Sammlung von "Kindertotenliedern", die stammen aus der Zeit, wo der Rückert selbst zwei kleine Kinder verloren hatte und in sechs Monaten über 430 Gedichte geschrieben hat in seiner eigenen Trauer, seiner eigenen Suche: Sinn des Todes, Sinn des Lebens, die Transzendenz dessen und vor allem auch eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Idee von der Fortsetzung des Lebens, Existenz, trotz des körperlichen Tods. Natürlich – das ist ein Nachhall von Goethe selbst.

Ich glaube, es ist eine wesentlich reichere Auseinandersetzung mit derselben Suche nach Antworten des Lebens und Tods, aber in unterschiedlichen Formen, zuerst einmal eher in der Natur, und dann zweitens eher in der Metaphysik, die den Rückert in seiner Zeit als einen der Giganten der deutschen intellektuellen Dichter, Philosophen, Übersetzer und so weiter angenommen hat und sehr zuliebe Gustav Mahler gewesen ist.

Scholl: "Oft denke ich, sie sind nur ausgegangen", so heißt eine Zeile aus diesen berühmten Gedichten, es zerreißt einem immer noch das Herz, wenn man an tote Kinder dabei denkt. Und Gustav Mahler – als seine eigene Tochter starb – hat ja dann gesagt: Ich hätte die "Kindertotenlieder" nie schreiben können angesichts des Todes meines eigenen Kindes.

Hampson: Das ist ein wesentlicher Punkt, weil, ich meine, Entschuldigung, dass ich darauf haue, aber ich habe wirklich ein Bedürfnis ... die "Kindertotenlieder" in einem wesentlich größeren Sinne von Überlegung von Tod und Leben und vor allem Hoffnung und Liebe, als einfach einen makabren oder nicht makabren, aber furchtbar sinnlosen, traurigen Nachruf von verstorbenen Kindern. Verstorbene Kinder von Dichtern oder Komponisten war überhaupt keine Eigenart.

Und die "Kindertotenlieder" hatten in der Entstehung noch die Absicht von Gustav Mahler ... überhaupt nicht mit seinem persönlichen Leben zu tun. Und das ist mir schon wichtig, Entschuldigung, als Mahler-Forscher und -scolar hier, das wirklich deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass die "Kindertotenlieder" eine Art Requiem ist. Es ist eine völlig hoffnungsbeladene ... natürlich furchtbar traurig, die Zusammenhänge, aber auf jeden Fall wohlüberlegte Aussagen von Freudenslicht, von Engelsbedürfnis, von besserer Erinnerung, von Transzendenz des menschlichen Lebens durch den Tod in einer weiteren Existenz und so weiter. Es ist nicht einfach eine Sackgasse von Trauer.

Scholl: Verweis angenommen, Mr. Hampson – ich werde nie wieder so etwas sagen.

Hampson: Entschuldigen Sie meine strenge Lehre heute!

Scholl: Sigmund Freud hat Mahler als "rätselhaftes Bauwerk" bezeichnet, das war bei Ihrer legendären Begegnung ein Jahr vor Mahlers Tod. Percy Adlon hat aus dieser Episode einen wunderschönen Film gemacht. Um in diesem Bild des Bauwerks zu bleiben, Herr Hampson – welche Kammer in dieser Architektur öffnen nun diese Wunderhorn-Lieder Ihrer Meinung nach?

Hampson: Oh, das ist eine sehr schöne Metapher, und ich finde "rätselhaftes Bauwerk" eine phänomenale Beschreibung von Gustav Mahler. Ich glaube, "Des Knaben Wunderhorn" ist ein Arbeitszimmer, gleichmöglicher Spielraum für Kinder und Begegnungen von Freunden mit schöner Aussicht in die Natur, aber immer wieder abschließbar in das Innigste, wo er dann weiter überlegen könnte, warum Menschen tun, was die überhaupt tun.

Scholl: Thomas Hampson, herzlichen Dank, dass Sie sich für uns Zeit genommen haben. Alles Gute für Sie und auch für "Des Knaben Wunderhorn". Thomas Hampson und die Wiener Virtuosen interpretieren diese Lieder Gustav Mahlers, die CD ist bei der Deutschen Grammophon erschienen. Und dann haben wir auch noch diesen Tipp: Am kommenden Sonntag läuft im Fernsehen die Dokumentation "Auf der Suche nach Gustav Mahler" von und mit Thomas Hampson um 20.15 Uhr auf 3Sat. Und jetzt hören wir noch "Des Antonius von Padua Fischpredigt".

(Musikeinspielung)