Eine extreme Forderung in Zeiten postmoderner Identitätspolitiken

15.10.2012
Neben der "ersten Welt" des wirklichen Lebens mit allen Mühen exisitert in jedem von uns auch die "zweite Welt" der Wünsche und Fantasien, so die These des Philosophen und Kulturwissenschaftlers Robert Pfaller. In seinem Buch untersucht er die Zusammenhänge zwischen beiden.
Der aus Wien stammende Philosoph und Kulturwissenschaftler Robert Pfaller (geboren 1962) ist ein Epikureer unter den gegenwärtigen Philosophen. Mit seinen Veröffentlichungen "Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur" (2002) und "Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie" (2011) plädiert er nicht nur für eine maßvolle Lebenspraxis des Genusses – Epikur spricht von der "Lust des Bauches" - im vollen Bewusstsein aller damit verbundenen Risiken. Vor allem geht es Pfaller darum, Bewegung in unsere mit Verbotsschildern gepflasterte und in Sicherheitsvorkehrungen erstarrte Wirklichkeit zu bringen.

Seinem Buch "Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere", das sich als eine "materialistische Theorie" versteht, liegt die These zugrunde: Um überhaupt "Bei-Verstand-Sein" zu können, muss "etwas Zweites, Anderes" existieren oder dieses wenigstens als Fiktion in uns virulent sein. In Zeiten "postmoderner Identitätspolitiken" eine extreme Forderung.

Pfallers Buch gliedert sich in vier große Kapitel: "Die Kunst in der Wirklichkeit", "Frequently asked questions. Materialistische Miniaturen", "Die Wirklichkeit in der Kunst", "Aus einer zweiten Welt". Sie sind zwischen 2009 und 2011 entstanden und resultieren aus der eigenen Forschungs- und Lehrtätigkeit des Autors, der seit 2009 Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst in Wien ist, sowie aus externen Ausstellungsprojekten und Symposien.

Brillant ist sein Beitrag "Mein Geschmack und ich", aber auch die Miniatur "Geht es um Leben und Tod oder nur um das kleine Glück?", in der anhand des Kult- wie Skandalfilms "Das große Fressen" (1973) über das Programm einer exzellenten (Über-)Kultivierung des Genusses nachgedacht wird, bei der selbst die Furcht vor dem Tod verschwindet. Diese Schamlosigkeit wie Dekadenz seien gegenwärtig undenkbar. "Wir fürchten heute nämlich den Tod weitaus mehr als schlechtes Leben".

Es ist Pfallers lustvolles und konsequentes Insistieren auf der eigenen (Lebens-)Melodie, die seine umfassende Kulturkritik als Gesellschaftskritik anschaulich macht. Da sein Sprechen stets engagiert ist, wird bei der Lektüre eine rezeptive Wachheit und Unruhe erzeugt, die dem Gegenstand aufs Feinste gerecht wird. Schließlich geht es um nichts Geringeres als darum, die "versteinerten Verhältnisse" (Karl Marx) "zum Tanzen" zu bringen.

Doch um die "eigne Melodie" vorsingen zu können, bedarf es eben jener "zweiten", die der Träume, Wünsche und Fantasien. Die Grundaussage des Autors ist salomonisch. Auf dem glatten Parkett pseudopolitischer Lügen sieht er gegenwärtig im Phantom der namenlos Schwachen Sozialabbau und Genussfeindlichkeit programmatisch gerechtfertigt. Diese "Politik der Schwäche" hilft niemandem, so sieht es Pfaller, und führt zu einer weiteren Rekrutierung von "fiktiven Geiseln".

Besprochen von Carola Wiemers

Robert Pfaller, Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2012
268 Seiten, 19,99 Euro.

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Der Schriftsteller Robert Pfaller und Moderator René Aguigah sitzen während der Frankfurter Buchmesse auf dem Blauen Sofa
Robert Pfaller und René Aguigah auf dem Blauen Sofa.© Deutschlandradio - Bettina Fürst-Fastré