Eine eigene Form von Theater

Von Britta Kuntoff |
Um Besonderes zu schaffen, braucht es besondere Menschen. Der Leiter der Kulturkirche Sankt Jacobi in Stralsund ist so einer. Franz Triebenecker bringt Menschen mit einer geistigen Behinderung auf die Bühne oder inszeniert mit Langzeitarbeitslosen Theaterstücke, die zu Highlights im Kulturbetrieb der Stadt am Sund werden.
"Mir ist so heiß" - "Mein Arm tut weh" - "Ich hab das so im Kreuz" - "Mir tut mein Knie weh" – "Au, ich hab’ Rückenschmerzen" - "Mein Kopp!"

Selten hat Klagen und Jammern über Wehwehchen, Schmerz und Pein so viel Freude bereitet wie hier in Stralsund an einem grauen kalten Herbsttag. Draußen fegt der raue Wind die letzten Blätter durch die engen Gassen der alten Hansestadt, drinnen spielen sich Herbert Heisel, Gunnar Fröhlich, Susi Anwar und Wolfgang Schulz erst richtig warm.

"Wir haben schon verschiedene Rollen schon gespielt. Dat Aushorchen zu Fürchten zu lernen, dat ham wir gespielt, Jacobus ham wir gespielt."
"Ich hab schon mal die Dreigroschenoper-Szenen gespielt, auch in der Jakobikirche, da war ich mal bei die Eckigen mit dabei."
"Wir sind die Theatergruppe "Die Eckigen"."

"Die Eckigen", das sind zwanzig Schauspieler mit einer geistigen Behinderung. Wenn sie auftreten, dann spielen sie vor ausverkauften Haus und begeistertem Publikum. Dass das so ist, liegt am Herzblut der Akteure auf der Bühne - und an der Passion für Schauspielerei von Franz Triebenecker. Der 47-Jährige ist Leiter der Kulturkirche St. Jakobi und führt seit über 15 Jahren Regie bei den "Eckigen".

Probenausschnitt:
""So passt mal auf, die andern, die nicht mitspielen an der Stelle. Das Zukucken. Die beiden hier, so wie die hier stehen, das ist okay.. Das ist jetzt kein privates Zukucken. Sondern das sind Schauspieler, die jetzt .. nee, Mecki, so nicht. Mecki, wenn Du so kuckst und spielst, klaust Du denen auf der Bühne die Show, das darfst Du auch nicht."
Proben für das von Triebenecker geschriebene Stück "Der verlorene Sohn".

"Wir gehen jetzt auf Anfang." - "Herr Triebenecker, die Jacke ausziehen?" - "Wie?" - "Die Jacke ausziehen?" - "Das musst Du wissen." - "Nee, nicht das Licht an- und ausmachen!"

Franz Triebenecker bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Kein graues Haar durchzieht seinen blonden Schopf. Ein Fels in der Brandung mit Jeans, Kapuzenjacke und Turnschuhen. Ein Nordlicht, das nicht segelt, aber Marathon läuft. Ein Vorpommer, der auf Menschen zugeht. Einer, der viel kann und bescheiden bleibt. Triebenecker trinkt gelbe klebrige Brause und Kaffee schwarz. Den Keks dazu lehnt er erst ab und isst ihn dann doch.

"Kontrolle ist nicht so sehr mein Ding. Auch die Selbstkontrolle nicht."

Dafür hat der Vater zweier heute erwachsener Kinder Durchsetzungskraft. Der Regisseur erzählt beim gemeinsamen Mittagessen von Verantwortung, die er früh übernommen hat: Weil Opa, Vater, Onkel und Cousins Reichsbahner waren, ist Franz Triebenecker schon mit 18 Jahren Lokführer für Personen- und Güterzüge. Er bleibt es zehn Jahre lang.

"Zumindest bin ich in den Nachtschichten sehr viel zum Lesen gekommen und hab so das Studium vorbereiten können, und den Lebensweg, der sich für mich als Wunsch angedeutet hat, dann auch besser umsetzen können später."

Viermal die Woche, nach acht Stunden Schicht, paukt der Sohn einer Kindergärtnerin für das Abitur, studiert dann in Leipzig und Berlin, schreibt seine Promotion über Nietzsche. Ein Freund begeistert den heutigen Kulturwissenschaftler für die Idee, Theater mit geistig-behinderten Menschen zu machen. In Stralsund, in seiner Heimat. Geplant war das ganze als gelegentliches Freizeitprojekt:

"In dieser Arbeit haben wir aber so viel Spielfreude gemerkt und auch so viel Freude am Veröffentlichen, dass wir gesagt haben, okay, wir gehen den Schritt, wir machen jetzt auch ein fertiges Stück. Haben da, das weiß ich noch ganz doll, ganz viel Vorsicht walten lassen, wenn es um Komik ging. Waren dann aber so überrascht von dem fertigen Ergebnis, von der Reaktion zwischen den Schauspielern und den Publikum, dass wir dann gesagt haben, okay, wir lassen jetzt alle Vorsicht und machen jetzt richtig Theater."

Anfang der Neunzigerjahre hat Stralsund Potenzial - und ein paar engagierte Bürger mit Fantasie und offenen Augen. Franz Triebenecker ist so einer: Die Kirche St. Jacobi fristet ihr Dasein sein 40 Jahren als Baustofflager. Heute ist sie Kulturkirche: Der Kulturmanager lässt eben nicht locker. Typisch.

"Ich war einmal hier drin und hab den Raum gesehen und dann hab ich zu den damals Verantwortlichen gesagt, jetzt muss ich hier unbedingt Theater spielen!"

Das hat geklappt. Seit sieben Jahren lädt der Mann mit der Liebe zur Kunst Musiker, Autoren oder Performance-Künstler aus aller Welt ein. Im Kirchenschiff läuft eine bedeutende Ausstellung mit Bilden des Malers Friedensreich Hundertwasser. Das alles zu organisieren, Partner zu suchen und zusammen zu führen - und zwar mit kleinem Budget und großem finanziellen Druck - ist Triebeneckers Job. Seine Leidenschaft jedoch ist und bleibt das Theater.

"Wenn wir Theater spielen, wenn wir mit unseren eigenen Ausdrücken in die Öffentlichkeit gehen, erfahren wir natürlich eine unheimlich starke Reflektion in der Öffentlichkeit. Das heißt, wir lernen uns in der Öffentlichkeit ausdrücken, wir werden von der Öffentlichkeit anerkannt, es gibt eine Interaktion zwischen einer Öffentlichkeit, die ich suche und die mich bestärkt."

Das ist ihm wichtig – die Interaktion. Menschen zusammen zu bringen, ins Zentrum zu rücken. Und zwar genau solche, die gerade nicht im Scheinwerferlicht stehen. Wie die Schauspieler von Tiebeneckers zweitem Ensemble namens Arbi. Alles Menschen, die lange arbeitslos waren und in schwierigen Lebenssituationen stecken. Mit ihnen ein Stück zu inszenieren, verlangt eine große Lust auf Neues - und auch Mut. Beides hat der Mann, der keine Berührungsängste kennt und mit seiner Arbeit gern ein bisschen provoziert.