"Eine Debatte, die im Parlament hätte geführt werden müssen"

Ulrich Kirch im Gespräch mit Ernst Rommeney und Martin Steinhage · 13.02.2010
Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Ulrich Kirsch, begrüßt die Klarstellung von Außenminister Guido Westerwelle (FDP) zum Einsatz deutscher Soldaten am Hindukusch - und kritisiert zugleich das Parlament.
Deutschlandradio Kultur: Außenminister Westerwelle hat in dieser Woche den Bundeswehreinsatz erstmals als "nicht internationalen bewaffneten Konflikt" bezeichnet, wie zuvor schon der Bundesverteidigungsminister. Sind Sie nun zufrieden?

Ulrich Kirsch: Der Deutsche Bundeswehrverband erhebt diese Forderung schon lange und hätte sich gewünscht, dass nicht der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland das feststellt, sondern der Auftraggeber, das Parlament. Ich bin der Auffassung, dass das Parlament sich eine Reihe verpasster Gelegenheiten vorwerfen lassen muss. Denn das ist eine Debatte, die im Parlament hätte geführt werden müssen.

Deutschlandradio Kultur: Was muss denn aus Sicht des Bundeswehrverbandes geschehen, damit die Neubewertung des Außenministers aus Sicht der Soldaten tatsächlich auch juristisch wasserdicht ist, dass das rechtsverbindlich ist?

Ulrich Kirsch: Das ist in der Tat die Kernfrage überhaupt. Ich würde ganz gerne noch mal zurückschauen ins vorvergangene Jahr. Da hatten wir einen Oberfeldwebel, der südlich Kundus seine Waffe zum Einsatz gebracht hat. Was war passiert? Er war an einem Checkpoint eingesetzt und musste das alles überwachen, was dort stattfand. Und es näherte sich ein Fahrzeug an. Es war Nacht. Es war staubig. Es war heiß. Er beobachtet alles das durch sein Nachtsichtgerät.

Und dieses Fahrzeug näherte sich mit hoher Geschwindigkeit an, fuhr wieder weg, näherte sich wieder an. Dann sah er gerade noch einen Kameraden mit seinem Nachtsichtgerät, der dann mit einem Mal nicht mehr da war. Und er ging fest davon aus, hier findet ein Angriff statt.
Dann hatte er seine Waffe, sein MG zum Einsatz gebracht, hat auf das Nummernschild gezielt. Wenn man mit dem MG schießt, dann wandert die Waffe aus und dann schlugen Geschosse in das Fahrzeuginnere ein und, an Tragik nicht zu überbieten, wurde eine Frau mit zwei Kindern getötet.

Damit war – es war ein Tötungsdelikt – natürlich das anzulegen, was der Gesetzgeber vorgesehen hatte, nämlich das nationale Strafrecht. Und damit war die Staatsanwältin, in diesem Fall eine Staatsanwältin, zuständig, wo dieser Oberfeldwebel eben herkam. Sein Wohnort war dort entscheidend.

Und das war die Staatsanwältin aus Frankfurt/ Oder, die das nun zu bewerten hatte. Die Staatsanwältin in Frankfurt/ Oder kennt nun eher eine Polizeikontrolle am Stadtrand von Dresden, aber nicht so ganz gut einen Checkpoint südlich Kundus. Die hat sich außerordentlich viel Mühe gegeben. Sie hat eine technische Rekonstruktion durchführen lassen auf dem Truppenübungsplatz in Hammelburg. Dort wurde alles noch mal nachgestellt. Dann hat sie nach neun Monaten festgestellt, dass dieser Oberfeldwebel alles richtig gemacht hatte.

Das kann natürlich nicht sein. Das können wir nicht machen. Wenn wir Menschen durch das Parlament in einen Einsatz schicken, Soldaten in einen Einsatz schicken, dann muss natürlich auch die rechtliche Seite so abgestimmt sein, dass hinterher nicht jemand neun Monate warten muss, bis er ein Ergebnis hat. Von daher sind wir immer der Auffassung gewesen, dass das nationale Strafrecht hier nicht das richtige sein kann und auch diejenigen, die das national zu bewerten haben, nicht die Günstigen sind, sondern das muss man anders organisieren.

Deswegen sind wir der Auffassung, dass man die Expertise vor Ort braucht, damit ein Staatsanwalt vor Ort ermitteln kann, und natürlich auch die polizeiliche Expertise vor Ort braucht, damit die Aufgaben, die durch die Polizei zu erfüllen sind im Rahmen einer Ermittlung, wenn es um einen Tötungsfall geht, dass das halt vor Ort der Fall ist.

Das könnte man lösen über die Juristen, die wir im Einsatz haben, dann nicht unter dem Dach des Bundesministeriums der Verteidigung, aber unter dem Dach des Bundesministeriums der Justiz. Die wechseln dann halt. Und bei unseren Feldjägern könnte man das genauso machen dann unter dem Dach des Bundesministeriums des Inneren. Denn dort ist die Zuständigkeit, wenn es um diese Fragen geht.

Dann ging es ja auch in der Vergangenheit immer um die Frage einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft. Das könnte man dadurch lösen, dass grundsätzlich die Bundesanwaltschaft Zuständigkeit hat. Denn die Bundesanwältin ist für Bundesangelegenheiten zuständig.

Wenn man sich das alles Mal anschaut, wird eins deutlich: Wir sind grottenschlecht vorbereitet, was diese Dinge angeht. Und das ist überfällig. Das muss geregelt werden. Deswegen haben wir als Berufsverband mal Ausführungsbestimmungen zum Artikel 96 geschrieben. Der Artikel 96 sagt etwas zur Militärgerichtsbarkeit. Die wollen wir nicht. Die ist auch nicht erforderlich. Das kann man auch anders regeln. Aber die Ausführungsbestimmungen dort dazu könnten so ausschauen, wie ich es gerade gesagt habe, und dann würde das Sinn machen.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie müssen uns doch noch mal erklären: Wenn Sie keine Militärgerichtsbarkeit wollen, dann wollen Sie in der zivilen Justiz einen eigenen Strang für Militärdienste?

Ulrich Kirsch: So ist es, mit einer eigenen Kammer auf Bundesebene, nicht um etwas Besonderes für Soldaten zu schaffen, sondern um die Expertise dort zu haben. Denn das wird ja an diesem Fall mit dem Oberfeldwebel deutlich, dass die Staatsanwältin in Frankfurt/ Oder sich zwar ganz viel Mühe gegeben hat, aber sie hat sich unheimlich schwer getan, das zu bewerten. Wir brauchen also Expertise an Menschen, die das halt auch bewerten können.

Deutschlandradio Kultur: Einmal unterstellt, die Politik und die Justiz folgen Ihren Vorstellungen, es käme so, wie Sie es eben beschrieben haben. Wenn wir es jetzt mal an einem Beispiel vielleicht deutlich machen: Was würde das etwa für Oberst Klein bedeuten, der im September den Luftangriff auf die Tanklastzüge im Flussbett bei Kundus veranlasst hatte? Was würde ihm dieses helfen? In welcher Situation befände er sich dann beispielsweise, wenn das jetzt schon gelten würde, was Sie beschrieben haben?

Ulrich Kirsch: Also, wenn die Bundesanwaltschaft jetzt zur Überzeugung kommt, dass es sich um einen nicht international bewaffneten Konflikt handelt - letzte Woche hat der Außenminister das zwar so festgestellt, aber das ist ja deswegen nicht rechtsverbindlich, was er dort gesagt hat, er hat das politisch bewertet - also, wenn die Bundesanwaltschaft jetzt zu dieser Überzeugung kommt, dann gilt das Völkerstrafgesetzbuch.

Das Völkerstrafgesetzbuch sieht vor, dass der militärische Nutzen bei einem Einsatz, wie er hier ganz konkret stattgefunden hat am Kundus-Fluss, dass der militärische Nutzen höher sein kann als die Rücksichtnahme darauf, dass gegebenenfalls zivile Menschen in der unmittelbaren Nähe dieser Tanklastfahrzeuge sind. Das ist im Artikel 11 des Völkerstrafgesetzbuches oder Paragraf 11, weiß ich jetzt nicht genau, so festgehalten. Deswegen gilt trotzdem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Und deswegen gilt trotzdem, dass ich alles versuchen muss, um zivile Opfer zu vermeiden. Aber der militärische Nutzen wird dort höhergestellt.

Und im Moment haben wir das nationale Strafrecht. Wenn Oberst Klein nach dem nationalen Strafrecht bewertet werden würde, dann hieße das letztendlich, dass es ein Totschlagsdelikt wäre. Und dann müsste man eben abwarten, das kann man nicht prophezeien, wie sich dann ein Gericht dazu äußern würde.

Deutschlandradio Kultur: Aber die Rechtslage, die Sie da beschreiben, die gab es schon im September. Im Grunde wusste Oberst Klein, in welcher Rechtslage er sich befindet. Ich nehme mal an, er hat sich auch danach verhalten. Und das wissen auch die Staatsanwälte, die das jetzt ermitteln. Und es muss auch das Gericht wissen. Was soll sich nun ändern an der Rechtssicherheit für die Soldaten? Warum beschweren die sich?

Ulrich Kirsch: Die Soldaten beschweren sich deswegen, weil sie eben anders gestellt sind als ihre Kameraden aus der internationalen Gemeinschaft. Deutschland ist das einzige Land in Afghanistan, das sich zunächst entschlossen hat, das nationale Strafrecht anzulegen, und in allen anderen Bereichen gilt das Völkerstrafrecht. Insofern wird das als Ungleichbehandlung verstanden. Und eins ist auch klar: Wenn Oberst Klein nach dem nationalen Strafrecht bewertet wird und wir die zivilen Opfer sehen, dann hätte ich größte Bedenken, dass das gut für ihn ausgehen würde - muss ich ganz klar sagen.

Ich bin aber der Auffassung, dass es gut für ihn ausgehen muss, denn er hat dort einen militärischen Entschluss gefasst. Er hat sicherlich Regeln, die es gab, außer Acht gelassen.
Das könnte man unter die Überschrift stellen: Er wählte Ungnade, wo Gehorsam keine Ehre fand. Denn so ein bisschen in diese Richtung geht es. Er hat sich militärisch entschieden, diese beiden Kampfflugzeuge einzusetzen, weil er eine große Bedrohung gesehen hat.
Er hatte drei Möglichkeiten des Handelns: nichts tun, Infanterie einzusetzen oder aber die F15 zu nutzen, die im Luftraum waren. Hätte er Infanterie eingesetzt, hätten wir viele, viele Verwundete gehabt. Wir hätten garantiert gefallene Soldaten gehabt. Und ich hätte dann den Aufschrei hören wollen, der in Deutschland stattgefunden hätte.

Wenn er nichts getan hätte, dann hätte er etwas unterlassen. Und so hat er sich entschlossen, die F15 einzusetzen, zu nutzen. Das ging nicht, ohne gewisse Regeln außer Acht zu lassen, so wie sich das heute darstellt. Und es wird natürlich noch spannend sein, welche anderen Befehlsstränge es da gegebenenfalls noch gegeben hat. Das weiß ich nicht, denn ich kenne die Berichte nicht. Die sind geheim eingestuft. Deswegen bin ich genauso drauf angewiesen, was jetzt der Untersuchungsausschuss zutage bringt.

Von daher kommt es den Soldatinnen und Soldaten darauf an, dass sie klar und deutlich wissen, welches Regelwerk nun Gültigkeit hat. Und wenn Sie einem Amerikaner – das habe ich mal bei irgendeiner Talkrunde gemacht – erklären wollen, dass das nationale Strafrecht aus Deutschland im Norden Afghanistans gilt, der versteht Sie gar nicht.

Deutschlandradio Kultur: Aber trotzdem sagt Ihnen die SPD, die war ja dagegen, dass das auch ins Mandat hineinkommt, dieser Begriff des "nicht internationalen bewaffneten Konfliktes", sagt Ihnen die SPD, Sie kann Ihnen da in diesem Punkt gar nicht helfen, weil es durchaus der Kommandeur entscheidet. Und nach seiner Entscheidung und nach seiner Rechtfertigung wird das auch vor Ort bewertet und auch von den Gerichten bewertet. Das heißt, nicht das Parlament sieht die Situation, sondern derjenige, der vor Ort ist. Also, die Rechtslage würde durch solch eine Erklärung gar nicht geändert werden.

Ulrich Kirsch: Doch, doch, die wird schon geändert, weil das Parlament kann das politisch bewerten, wie es einzustufen ist, zum guten Schluss muss es dann - das sehen wir jetzt ganz konkret in dem Fall - die Bundesanwaltschaft bewerten. Und der Generalstaatsanwalt in Dresden, der das ja zunächst auf dem Tisch hat, hat gesagt: "Ich denke", das war seine Überzeugung, "hier liegt was anderes vor als nationales Strafrecht".

Deutschlandradio Kultur: Na, dann läuft's doch gut.

Ulrich Kirsch: Ja, nö, ich hab ja auch nix dagegen, dass es so läuft, hab ich auch immer wieder geäußert. Die Generalbundesanwältin hat unlängst auch mal bestätigt, dass eigentlich eine kluge Einschätzung von mir war, die ich dazu abgegeben habe. – Nein, läuft ja.

Deutschlandradio Kultur: Oberst Kirsch, eine ganz andere Frage, die aber nicht minder wichtig ist als das, was wir jetzt die ganze Zeit besprochen haben: Wird eigentlich der Einsatz der Bundeswehr im Norden Afghanistans in diesem Jahr nach Ihrer Einschätzung noch gefährlicher werden als in den Jahren zuvor?

Ulrich Kirsch: Also, der Einsatz im Norden Afghanistans war an bestimmten Stellen schon immer gefährlich. Das ist nur in Deutschland nicht gesagt worden. Es ist schöngefärbt worden in der Vergangenheit.

Schauen wir uns den Norden mal ganz konkret an: Wir haben im Norden im Grunde genommen vier Einsatzorte. Das ist zum einen der Einsatzort Mazar-e-Sharif. Das ist ein riesiges Feldlager, ein logistischer Umschlagplatz kann man im Grunde genommen sagen. Dort befindet sich auch das Einsatzgeschwader der Luftwaffe. Und dann haben wir das regionale Wiederaufbaukommando, das sogenannte Provincial Reconstruction Team (PRT) in Kundus und in Faizabad.

Und dann haben wir noch eine kleine Außenstelle in Talucan südlich Kundus.
Wir haben in Kundus seit einiger Zeit, seit einigen Monaten eine andere Lage, als das in der Vergangenheit der Fall war. Wir haben eine hohe Anzahl von Aufständischen, die versuchen, das, was dort gut läuft, zu stören.

Wir hatten auch schon eine wesentlich höhere Gefährdung in Faizabad ganz oben im Nordosten, fast an der chinesischen Grenze. Das hat sich aber erledigt und ist ruhig. Und damit haben wir natürlich eine wesentlich höhere Gefährdung unserer Frauen und Männer im Raum Kundus. Unsere Frauen und Männer, die dort im Einsatz sind, die erleben annähernd täglich Kampfgefecht, Verwundung. Sie erleben eben auch Tod. Sie müssen selber töten. Das ist die Lageänderung, die wir haben. Die hatten wir früher nicht.

Und insofern kommt es mit einem Mal nicht nur auf den Schutz an – es hieß ja immer, deutsche Soldaten sind immer nur in geschützten Fahrzeugen unterwegs –, sondern es kommt auch drauf an, dass man wirken kann, dass man sich seiner Haut erwehren kann. Insofern ist der Einsatz erst einmal im Raum Kundus wesentlich gefährlicher geworden als das der Fall war. Und wer wollte es unsern Frauen und Männern verdenken, dass sie dort sagen, "wir sind im Krieg"? Die machen die Trennung nicht, die wir vorhin völkerrechtlich schon mal gemacht haben.

Von daher haben wir eine grundlegende Lageänderung. Hinzu kommt, dass die Taliban in der Lage sind geordnet vorzugehen. Sie sind in der Lage Reserven heranzuführen. Sie sind in der Lage taktische Grundsätze inzwischen zu beherrschen. Von daher hat sich das alles geändert.
Nun kommt es aber in Afghanistan ja darauf an – und das ist nicht nur im Norden so, sondern das gilt für das gesamte Land -, dass die Lebensumstände der Menschen verbessert werden, denn darum geht es ja in erster Linie der internationalen Gemeinschaft, um damit Stabilität zu erzeugen. Die Afghanen sitzen oben auf dem Zaun und gucken: Wer ist der Stärkere? Sind die Taliban stärker, gehen sie zu den Taliban. Ist die internationale Gemeinschaft stärker, gehen sie zur internationalen Gemeinschaft, wobei da nicht die militärische Stärke gemeint ist, sondern die Verbesserung der Lebensbedingungen. Um die geht es nämlich.

Da ist vieles im Hintertreffen. Da ist vieles versäumt worden. Es ist nie gesehen worden, dass die Herkulesaufgabe darin besteht, dass ressortübergreifend die Anstrengungen übernommen werden müssen, also dass nicht nur das Bundesministerium der Verteidigung eine Rolle zu spielen hat, sondern natürlich auch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit.

Deutschlandradio Kultur: Wird das mit dem neuen Mandat besser?

Ulrich Kirsch: Das weiß ich noch nicht. Da sind zarte, bessere Ansätze da, aber zart. Ich komme gerne noch mal darauf zurück.

Und natürlich das Bundesministerium des Inneren, was den Polizeiaufbau angeht. Und das hat alles nicht in dem Maße geklappt, wie es eigentlich sein sollte. Wir Deutschen haben immer die vernetzte Sicherheit verkauft, den Comprehensive Approach, aber haben es nie in dieser Form nachhaltig praktiziert, wie es eigentlich sein müsste.

Denn wenn Sie mal zu den Polizisten schauen, da ist es uns eigentlich nie gelungen – und wir waren Lead Nation auf diesem Gebiet -, die Polizeikräfte nach Afghanistan zu bringen, die eigentlich erforderlich waren. Das ist natürlich auch nicht so ganz günstig möglich, wenn ich auf der einen Seite 9000 Polizeistellen in Deutschland abbaue, auf der anderen Seite dann aber Polizeiausbildung auch noch in Afghanistan machen will.

Also, da ist insgesamt immer eine Schieflage drin gewesen. Und deswegen ist durch den stockenden Wiederaufbau auf der anderen Seite eine höhere Gefährdung durch die Taliban entstanden, die dann aber auch die Möglichkeit hatten, in diesen Raum einzusickern, sich in diesem Raum zu etablieren, weil wir gar nicht die Kräfte haben, den gesamten Raum abzudecken.

Also, was kann man nur tun? Man kann es im Prinzip nur lösen über die afghanischen Kräfte. Deswegen kommt der Ausbildung der afghanischen Kräfte so eine hohe Bedeutung zu. Bei der Ausbildung der afghanischen Kräfte stoßen wir aber natürlich auch an Grenzen. Denn die Afghanen tun sich unheimlich schwer, auf der Ebene des Kandaks, das ist ein Bataillon, Planungsfähigkeit abzubilden.

Das liegt einfach daran, dass viele Afghanen nicht lesen und nicht schreiben können. Und wenn Sie Operationsplanungen durchführen wollen, dann brauchen Sie Stäbe, die in der Lage sind, so was planvoll vorzubereiten und dann auch durchzuführen. Denken Sie allein nur an die Logistik – Betriebsstoff, Munition, Verpflegung, alles, was dazu gehört. Da ist die Grenze. Und das ist natürlich auf der Ebene darüber, auf der Ebene einer Brigade zum Beispiel, noch schwieriger.

Das sind jetzt die Sorgen, die ich habe, dass wir zwar mit mehr Kräften jetzt in die Fläche gehen, aber da so ein bisschen noch ins Ungewisse hinein marschieren, weil die Afghanen alleine diese Fähigkeiten nicht haben. Und damit ist eins klar: Wenn ich "walk and talk" mache, was das Richtige ist, es ist das Richtige ...

Deutschlandradio Kultur: Sie machen gemeinsame Streifen?

Ulrich Kirsch: Ja, und aber eben, um Verbindung mit den Menschen aufzunehmen. Wenn ich mit gepanzerten Fahrzeugen unterwegs bin und mit den Leuten nicht rede, dann werde ich das Ziel nicht erreichen. Das war auch immer unsere Ansage aus Deutschland, wie wichtig das ist. Also, "walk and talk", da drauf kommt es an. Das ist natürlich gefährlicher, als wenn ich in einem geschützten Fahrzeug von A nach B fahre und nicht aussteige. Aber da kommt nichts bei rum. Also, diese Aufgabe muss anders gelöst werden.

Lassen Sie mich aber auch noch einen Gedanken mit einbringen: Mit militärischen Kräften können Sie nur 20 Prozent der Gesamtlast abarbeiten. 80 Prozent bestehen daraus, dass ich eben eine Justiz brauche, dass ich Verwaltung brauche, dass ich natürlich die Polizei brauche, klar, hatte ich schon angesprochen, und dann eben Verwaltungsstrukturen und Wirtschaftsstrukturen. Das macht 80 Prozent aus. Und in der Vergangenheit ist alles viel zu sehr auf die militärische Karte gesetzt worden.

Denken Sie mal zurück, als es um Afghanistan ging in der letzten Legislaturperiode, haben alle immer auf Dr. Franz Josef Jung geschaut, wenn es um Afghanistan ging. Ja, der hatte nur mit seinem Ressort 20 Prozent der Last abzuarbeiten. Hat jemand auf Frau Wieczorek-Zeul geschaut? Hat jemand auf Herrn Schäuble geschaut? Herr Schäuble hat zu mir immer gesagt, ich sei ein "Faktenleugner", als ich gesagt habe, der Polizeiaufbau würde nicht funktionieren in Afghanistan. Das war so die Art und Weise des Umgangs.

Und hier hat Gott sei Dank ein Umdenkungsprozess stattgefunden. Ich halte es auch für richtig, dass wir nun einen Kabinettsausschuss haben, der von der Kanzlerin geführt wird, mit den zuständigen Ressortministern. Der Sonderbotschafter ist noch ein bisschen überfällig. Da ist ja immer noch Herr Mützelburg in Amt und Würden, der damals von Frank-Walter Steinmeier als Außenminister eingesetzt wurde. Aber der Mützelburg hängt sich da sehr rein, also, das ist nicht das Thema. Aber es ist jetzt der richtige Ansatz und es ist jetzt auch der richtige Ansatz, dass die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland als Regierungschefin ihre Richtlinienkompetenz eben auch mit wahrnimmt und die Ressorts zusammenbringt. Also, da ist ein Silberstreifen am Horizont zu entdecken.

Wenn Sie das Mandat ansprechen, da war auch unsere Forderung immer, alles das auch zu mandatieren, was eben nicht militärisch ist. Hm, wenn ich die letzte Mandatsverlängerung nehme, dann ist ein zarter Versuch zu erkennen, das zu machen, aber das greift noch alles viel zu kurz. Ich verlange, dass natürlich die anderen Ressorts auch genau gesagt bekommen, wo die linke und rechte Grenze ist und was sie zu leisten haben.

Deutschlandradio Kultur: 850 zusätzliche Soldaten soll das Kontingent im Norden Afghanistans bekommen. Reicht das aus?

Ulrich Kirsch: Es muss ausreichen, denn wir haben nicht mehr Kräfte zur Verfügung. Unsere Infanterie ist endlich.

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie wollten mehr haben oder nicht?
Ulrich Kirsch: Nee, ich sowieso nicht.

Deutschlandradio Kultur: Ich meine, die Bundeswehr.

Ulrich Kirsch: Ach so. Nein, also, ich halte die 500 zusätzlichen Infanteriekräfte für sachgerecht. Das sehe ich auch als eine Nachjustierung an. Und die 350, um die es dann darüber hinaus geht, das ist im Grunde genommen die Schwankungsreserve beim Kontingentwechsel, also, wenn die Gesamttruppenteile dann wechseln.

Das Problem ist, die Streitkräfte sind anders gestrickt worden, als wir sie heute eigentlich benötigen. Es ging um die wahrscheinlicheren Einsätze im Rahmen der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung. Und es ging aber auch um Eingreifkräfte für Szenarien, die heute eher unter die Überschrift zu stellen wären: "Das war der Große Vaterländische Krieg." Aber das ist nicht das, was wir heute brauchen. Wir brauchen heute Infanteriekräfte. Und wir haben in der Bundeswehr in den Streitkräften nur 33 Infanteriekompanien.

Und wir haben zwei Luftlandebrigaden und wir haben derzeit immer so sieben, acht Kompanien im Einsatz. Bei 33 Kompanien kann man ausrechnen, 21, 24 sind ständig gefordert. Und ich habe sie mit 3 multipliziert, weil der Einsatzrhythmus vier Monate dauert. Deswegen muss man das für ein Jahr mit drei multiplizieren. Dann kann man sich selber ausrechnen, wie hoch die Durchhaltefähigkeit bei 33 Kompanien ist.

Deutschlandradio Kultur: Da fragt der militärische Laie, der ich bin: Wo bleibt denn dann bitteschön die Strukturreform? Wann wacht man denn da auf?

Ulrich Kirsch: Ja, die ist überfällig. Ich lege diesen Finger schon lange in die Wunde, dass wir zu infanterieschwach sind für die Aufträge, die wir haben. Nur das können Sie auch nicht von heute auf morgen korrigieren. Denn selbst, wenn Sie heute Kommandobehörden verschlanken oder Kommandobehörden auflösen, um dann auch insgesamt mehr Kräfte zu gewinnen für diese Aufträge, dann dauert das ein paar Jahre, bis Sie das umgesetzt haben.

Wir müssen einfach erkennen, wir haben nicht mehr Kräfte. Und ich befürchte im Moment, dass man an den Einsatzrhythmus herangeht. Vier Monate ist jetzt die Grundlage für unsere Frauen und Männer. Und ich befürchte, dass man da auch rauf geht auf sechs Monate. Das ist aber kontraproduktiv und würde dann auf dem Rücken unserer Soldatinnen und Soldaten ausgetragen werden. Denn vier Monate ist ein Einsatzzeitraum, der richtig Sinn macht.

Auch was die Untersuchungen durch die Wissenschaft betrifft, da hat man festgestellt, dass vier Monate der richtige Zeitraum ist. Und wir müssen ja auch mal an die Familien denken und da dran denken, dass auch die Ehen unserer Soldatinnen und Soldaten weiterhin eine Chance haben müssen. Und die Scheidungsrate ist eh schon groß genug.

Deutschlandradio Kultur: Dann ist ja die Alternative, entweder weniger Auslandseinsätze oder die Bundeswehr stärker befähigen, Auslandseinsätze zu fahren. Das hieße ja, sich verstärkt einstellen auf asymmetrische Kriegsführung. Denn das ist ja in den meisten Fällen.
Ulrich Kirsch: Das ist sicherlich richtig. Das tun im Übrigen auch die Amerikaner. Die machen ja alle vier Jahre mal so ein Review und die haben gerade festgestellt, dass sie ihre Streitkräfte umgliedern müssen, dass sie wesentlich mehr kleine mobile Einheiten brauchen, also Fähigkeiten, die insbesondere in Richtung Infanteriekräfte letztendlich auch gehen. Ich drücke es mal so ganz allgemein aus.

Ja, in der Tat, das ist die Frage: Was können wir denn noch leisten? ich bin der Auffassung, dass wir uns schleunigst Gedanken machen müssen, wie sind wir denn im Moment auf dem Balkan noch aufgestellt? Wie schaut's denn auf dem Balkan aus? Denn ich darf dran erinnern, wir sind nicht nur in Afghanistan. Wir sind weiterhin auf dem Balkan.

Wir sind am Horn von Afrika. Wir sind vor der Küste des Libanon. Wir sind mit vielen Militärbeobachtern auf dieser Welt unterwegs. Wir haben permanent zwischen 7500 und 10.000 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Das hört sich erst mal nicht viel an, aber die müssen Sie auch gleich mit drei multiplizieren, weil es ja immer Einsatzvorbereitung, Einsatzdurchführung, Einsatznachbereitung gibt. Dann gibt es natürlich auch Zeiträume, wo jemand nicht in den Einsatz geht. Und wenn Sie das dann alles hochrechnen, dann kommen Sie auf die Zahlen, die wir heute haben.

Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie mich doch mal die Zahlen nehmen. Das sind ungefähr 25.000 Soldaten im Einsatz und 200.000 Berufssoldaten haben Sie. Das versteht doch keiner, dass man eine Armee von 200.000 für eine Servicetruppe von 25.000 hat.

Ulrich Kirsch: Die Frage ist vollkommen berechtigt. Und für einen Kämpfer brauchen Sie durchschnittlich noch mal vier bis fünf, die den Rahmen sicherstellen – das ist die Ausbildungsorganisation, das ist aber auch alles das, was Logistik betrifft und vieles andere mehr –, sodass sich das dann hinterher schon rechnet. Trotzdem müssen wir die Streitkräfte noch mehr auf das ausrichten, was wir heute tun.

Und wenn ich mir mal angucke, wie viele Kommandobehörden und wie viele Ämter wir haben und wie viele Häuptlinge wir insgesamt haben, dann muss man über diese Anzahl definitiv nachdenken. Und ich gehe mal davon aus, wenn wir bei einer Strukturreform hinterher drei Kommandobehörden mehr haben und zwei Brigaden weniger, dann war definitiv was falsch. Also, es muss genau in die andere Richtung gehen. Und dafür werbe ich gleichermaßen.

Aber wir stoßen eben mit dem Kopf an die Decke: Und Politik muss erkennen, dass das eben endlich ist. Und Militär muss es sagen, dass es endlich ist. Und Militär muss sich viel mehr angewöhnen, noch deutlich zu machen, wie die Alternativen des Handelns sind, und darf nicht politisch vordenken. Das haben wir vielleicht in der Vergangenheit zu viel getan - nach dem Motto: Wir denken schon mal vor, was politisch vielleicht durchsetzbar ist. Das ist nicht unsere Aufgabe. Die Aufgabe der militärischen Seite ist, den militärischen Ratschlag zu geben, und zwar nach den objektiven Kriterien, die es gibt.

Deutschlandradio Kultur: Herr Oberst, wir danken für das Gespräch.

Ulrich Kirsch: Ich bedanke mich.
ISAF-Soldaten der Bundeswehr patrouillieren in der Nähe von Feisabad, in Nordafghanistan.
ISAF-Soldaten der Bundeswehr patrouillieren in der Nähe von Feisabad, in Nordafghanistan.© AP