Eine breitere Fächerung von politischen Botschaften

Moderation: Britta Bürger · 23.07.2013
Eine Ästhetik der Krise will Julia Tulke, Ethnologiestudentin der Berliner Humboldt-Universität, anhand griechischer Street Art untersuchen. Einige Künstler wollten eine regelrechte Konterpropaganda zu dem herstellen, was Medien über die Krise des Landes berichteten, sagt sie.
Britta Bürger: Hausfassaden, Brandmauern, selbst der Marmor der Athener Nationalbibliothek, all das ist seit Monaten eine einzige Wandzeitung, Galerie und Protesttafel. Die griechischen Innenstädte überwuchern von Streetart und Graffiti, von Protestparolen und realistischen Bildern leidender Menschen. Darunter immer wieder Bilder von Kindern mit Pistolen und Gasmasken. Die Berliner Ethnologiestudentin Julia Tulke schreibt über diese Ausdrucksformen gerade an der Berliner Humboldt-Universität ihre Masterarbeit, interessiert an der Ästhetik der Krise. Schön, dass Sie zu uns gekommen sind, Julia Tulke, herzlich willkommen!

In Griechenland wurde schon immer viel und gerne protestiert, auch schon immer viel gepinselt und gesprayt, doch meist waren das ziemlich simple, antifaschistische und anarchistische Parolen. Wie hat sich das in der jetzigen Krise verändert, welche Themen werden durch Streetart gesetzt?

Julia Tulke: Ich denke, da hat vor allem die Ermordung von Alexis Grigolopoulos 2008 einen großen Einfluss gehabt, um quasi so einen ersten Boost auch auszulösen, an dem Leute mehr als die üblichen faschistischen Parolen an die Wand geschrieben haben. Und zwar ging es da natürlich viel um die Proteste, um die Straßenkämpfe, um die Militarisierung auch …

Bürger: Ein Schüler, der bei einer Demonstration von Polizisten erschossen wurde...

Tulke: Richtig, genau. Und das war, glaube ich, der erste Moment, wo wirklich eine breitere Fächerung von politischen Botschaften im öffentlichen Raum aufgetreten ist. Und seitdem hat sich das natürlich auch mit der Vertiefung der Krise noch weiter auseinandergefächert, und mit der Austeritätspolitik kommt natürlich auch noch mal ein wichtiger Einfluss hinzu, wo einfach im öffentlichen Raum dann auch viel mehr das Elend und Leiden der normalen griechischen Bevölkerung ein Thema wird.

Bürger: Es gibt extrem viele Bilder von überaus realistisch aussehenden Menschen. Geben Sie uns ein paar Beispiele, wie diese Menschen gezeigt werden?

Tulke: Ja, das sind oft, wie Sie schon meinten, Kinder und junge Erwachsene, auf deren Körper dann diese Krisenbilder projiziert werden. Es gibt beispielsweise … Es gibt da ganz verschiedene Darstellungsformen eigentlich. In der Regel sind das Zeichnungen, also Stiftzeichnungen von Künstlern, die dann an die Wand geklebt werden, also Paste-ups. Und da gibt es beispielsweise ganz schöne Porträts, also wirklich Gesichtsausdrücke von einem Künstler, der heißt Dimitris Taxis, die in überlebensgroßer Form quasi an die Wände geklebt werden und dann irgendwie so ein Mosaik von so Emotionen auch an den Wänden darstellen. Es gibt auch eine andere Paste-up-Serie von einem anderen Künstler, der heißt WD, der hat junge Menschen dargestellt, die quasi mit abgebrochenen Flügeln durch den öffentlichen Raum fliegen. Es gibt da ganz verschiedene Ausdrucksformen, aber oft eben sehr verzweifelte Formen auch.

Bürger: Gerade in Kurzbotschaften stecken ja häufig auch Anspielungen auf komplexe politische oder auch historische Zusammenhänge. Manchmal ist das ein einziges Wort, das die Menschen an ganze Kapitel der Geschichte erinnert. Gibt es dafür auch Beispiele? Bezüge zu früheren Phasen der griechischen Geschichte?

Tulke: Das gibt es auf jeden Fall, in Graffiti gibt es sehr häufig Parolen, die sich dann beispielsweise mit Wortspielen befassen. Beispielsweise gibt es einen Künstler, Apson, der macht ganz komplexe Arbeiten, wo er beispielsweise dann aufgreift, wie die normale Bevölkerung Nazikollaborateure bezeichnet hat, also das griechische Wort dafür, und damit dann Wortspiele schafft, die sich auf die aktuelle Situation beziehen. Aber das ist natürlich für mich auch immer sehr schwer nachzuvollziehen gewesen, weil ich des Griechischen nicht allzu mächtig bin.

Das heißt, das ist immer leider nur vermittelt worden durch Gespräche mit Freunden, die mir dann solche Zusammenhänge erklärt haben. Ich weiß, dass es sehr viele Bezüge gibt zu der Résistance gegen die Nazizeit und auch zum Bürgerkrieg, das sind auch die Zeiten, wo politische Botschaften schon quasi mit Pinsel und Farbe an die Wände geschrieben wurden, also, das ist vielleicht auch so ein bisschen die Vergangenheit für so politisches Graffiti und taucht insofern häufig auf. Aber das ist natürlich schwer nachzuvollziehen, wenn man der griechischen Sprache und den Diskursen nicht so nahe ist.

Bürger: Die sind überwiegend auf Griechisch, die Botschaften, oder gibt es die auch auf Englisch, vielleicht auch auf Deutsch, vielleicht in touristischen Städten gezielt an Besucher gerichtet?

Tulke: Es gibt öfter Arbeiten auf Englisch, es gibt dann auch Künstler, die das strategisch so machen, weil sie eben auch ein breiteres Publikum erreichen wollen und nicht nur die griechische Bevölkerung, die dann natürlich auch im Internet ihre Bilder verbreiten wollen und Leuten ein Bild von der Krise präsentieren wollen. Die Graffiti-Botschaften, die ja dann meistens eher auch den politischen Gruppen zugehörig sind, die sind natürlich intern gemeint und nur auf Griechisch ausschließlich, das sind dann schon die eher künstlerischen Streetartists, die auch auf anderen Sprachen sich verständigen. Man sieht ganz wenig mal Deutsch oder Spanisch oder Französisch, das gibt es ab und zu, aber das hat da auf keinen Fall eine wirklich große Bedeutung.

Bürger: Ein öffentliches Tagebuch der Krise, an den Fassaden Athens lässt sich die Verzweiflung und Wut der Menschen ablesen. Die Berliner Ethnologiestudentin Julia Tulke untersucht diese Ästhetik der Krise in ihrer Masterarbeit und zeigt eine Auswahl dieser Bilder ab Donnerstag auch, jetzt nicht nur allesamt im Internet, sondern in einer Ausstellung in Berlin. Sie haben ja in Athen auch mit Künstlern Kontakt aufgenommen, sich als Ethnologin also richtig reingegeben in die Szene. Sie haben bei einigen der Streetartkünstler gewohnt. Sind das überwiegend junge Politaktivisten oder auch erfahrene, gestandene Künstler?

Tulke: Es gibt da natürlich ein breites Spektrum. Allgemein ist die Graffitiszene in Athen und in Griechenland auch im Allgemeinen sehr jung, weil sie eben auch nicht so eine weit zurückreichende Tradition hat. Graffitikultur hat vielleicht im Beginn der 90er langsam sich begonnen zu entfalten, aber die breite Fächerung im Streetart eben wirklich erst in den letzten zehn bis 15 Jahren.

Insofern ist da fast niemand über 30, es sind auch überwiegend männliche Künstler, auch wenn ich ein paar weibliche Künstlerinnen gefunden habe und mit denen auch interessante Gespräche geführt habe. Aber es ist ein breites Spektrum auf jeden Fall auch an politischer Affiliation. Es gibt natürlich diejenigen, die quasi politisch sind und sich dann Streetart als Ausdrucksmittel wählen, um ihre politische Meinung und auch Befindlichkeit auf die Straße zu bringen, es gibt aber auch Menschen, die sich eher im Kunstbetrieb verorten, dann ihre Arbeiten auch einfach wahrscheinlich, um Grenzen von künstlerischem Schaffen auszuloten, auf die Straße bringen und meines Erachtens dann auch durch das Auf-der-Straße-Arbeiten politisiert werden auf gewisse Weise, weil das natürlich immer eine andere Bedeutung bekommt, seine eigene Kunst auf der Straße noch mal öffentlich und im öffentlichen Raum zugänglich zu machen.

Bürger: Aber was treibt die an, ist das auch so eine Art Protest gegen die Darstellung der Krise in den griechischen Medien?

Tulke: Auf jeden Fall. Es gibt auch einige Künstler, die da von Konterpropaganda reden und ganz klar die Darstellung der Krise in Medien und von Politik unterwandern wollen, ganz strategisch, also quasi einfach die Aspekte der Krise zu zeigen, die nicht in populären Medien Beachtung finden. Da, finde ich, gehört auch ganz klar diese Gasmaskencharaktere rein, die ganze Stadt ist eigentlich überzogen mit Figuren, die Gasmasken tragen, quasi die ikonische Darstellung eines Protestierers. Und so was wird dann quasi auch in den öffentlichen Raum eingeschrieben.

Bürger: Wie viel Gewaltpotenzial steckt in diesen Bildern und Mitteilungen?

Tulke: Es gibt natürlich eine gewisse Verbindung mit auch militanten, politischen, sozialen Bewegungen. Ich glaube aber, dass die Leute, die sich künstlerisch ausdrücken, darüber auch ihre Auseinandersetzung mit dem System finden und nicht zwingend über andere Gruppen, die sich damit zwar solidarisieren, aber nicht selbst zwingend solchen Gruppen anhängen.

Bürger: Ja, das ist die Frage, ob das so eine Art Entladung auch ist oder ob es ein ohnehin gesellschaftlich aggressiv aufgeheiztes Klima noch heißer macht?

Tulke: Ich denke, es ist schon eine Form von Entladung, aber es will natürlich auch die Situation der Auseinandersetzung auch präsent machen. Sonst sind ja Proteste natürlich temporäre Ausdrücke von politischem Unmut. Wenn aber an jeder Ecke Gasmasken zu sehen sind oder Protestierer oder Bilder von Molotowcocktails, Bilder von Polizei, dann schreibt es das natürlich in das Stadtbild ein und macht das auch präsent für die Leute, die daran vorbeigehen. Man kann sich dem quasi dann nicht mehr entziehen. Das muss aber nicht zwingend meines Erachtens mili… nicht zwingend politische Bewegungen oder politische Auseinandersetzung anfeuern, sondern will, glaube ich, einfach nur dafür sorgen, dass so was nicht totgeschwiegen wird von den Medien und einfach präsent bleibt im öffentlichen Raum.

Bürger: Als ich zuletzt in Athen war, da tobten gerade die Proteste in Istanbul auf dem Gezi-Park. Und da habe ich eine Streetart gesehen, da stand ganz groß Resistanbul. Also, das drückte auch so eine Solidarität aus mit den Protestierenden in anderen Ländern. Können Sie das beobachten? Sie haben ja Ihre Bachelorarbeit auch schon über dieses Thema am Beispiel Mexiko geschrieben, dass sich die Streetartkünstler vernetzen, Ägypten jetzt, Istanbul, Athen. Gibt es da Verbindungen?

Tulke: Es gibt, denke ich, auch Verbindungen, aber ich denke, es ist vor allem auch eine Solidaritätsbekundung, ohne dass man dafür jetzt zwingend mit Aktivisten im Kontakt stehen muss. Aber mir ist das auch aufgefallen, dass vor allem jetzt zu Occupy Gezi und Resistanbul auch in Berlin, in Amsterdam und überall eigentlich vor allem die Hashtags eben an die Wände geschrieben wurden, was jetzt ja irgendwie eine ganz allgemeine Assoziation mit diesem Protest eigentlich ist und gar nicht so zwingend eine klare Verbindung voraussetzt. Man sieht aber ja beispielsweise auch in Berlin Solidaritätsbekundungen mit Griechenland, ich denke, das ist schon ein wichtiges Instrument auch der Solidarisierung international, weil sich Künstler ja auch relativ einfach übers Internet vernetzen können und auch durch easyJet beispielsweise innerhalb von Europa sehr mobil sind.

Bürger: Haben die griechischen Stadtverwaltungen eigentlich vor der puren Menge der Streetart kapituliert? Es wird ja anscheinend nichts mehr übertüncht!

Tulke: Ja, man hat auf jeden Fall den Eindruck, dass da quasi eigentlich alles verlorengegeben worden ist. Also, wenn selbst auf der Nationalbibliothek ganz große rote Parolen, die da mit Graffiti drauf geschrieben sind, ein halbes Jahr stehen bleiben, auch wenn das eben ein Gebäude mit politischer Bedeutung, nationaler Bedeutung ist, dann ist das schon eine besondere Situation. Es ist aber auch einfach … Es gibt aber tatsächlich auch so viel, es ist quasi so eine Naturgewalt, dass man sich dem fast nicht mehr so stellen kann. Also, die wären auch wahrscheinlich damit überfordert, das quasi wirklich effektiv zu bearbeiten.

Bürger: Die Ästhetik der Krise, Julia Tulke hat die aktuelle griechische Street Art untersucht. Ihre Fotos findet man im Internet und eine Auswahl ist ab Donnerstag im Berliner Raum für drastische Maßnahmen zu sehen. Herzlichen Dank für Ihren Besuch im Studio!

Tulke: Vielen Dank!

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