Eine brasilianische Familiensaga

02.09.2013
"Dieser Autorin gehört die Zukunft", sagte der portugiesische Literaturnobelpreisträger Jose Saramago über seine brasilianische Kollegin Adriana Lisboa. Sie hat bereits zehn Bücher veröffentlicht. Jetzt wurde ihr Roman "Der Sommer der Schmetterlinge" ins Deutsche übersetzt - eine düstere Familiengeschichte, die nicht zuletzt ein Spiegel der Geschichte Brasiliens ist.
Der Ort: eine Fazenda in Brasilien, Bundesstaat Rio de Janeiro. Die Protagonisten: zwei Mädchen, später Frauen, Clarice und Maria Inês. Die Zeit: unbestimmt. In Schleifen, Ellipsen über Jahrzehnte, in jähen Sprüngen vor und zurück nähert sich die Erzählerin Adriana Lisboa ihrem Stoff. Lisboa, 1970 in Rio geboren, hat in Frankreich und Japan gelebt, wohnt nun in den USA. Sie ist Musikerin, das spürt man an ihrem Stil. Zehn Bücher hat sie publiziert, "Der Sommer der Schmetterlinge" erschien im Original 2001.

Die Schmetterlinge sind Metapher, Leitmotiv, immer wieder flattern sie durch den Roman, über einen Steinbruch am Rand der Fazenda zum Beispiel, einen gefährlichen Ort, der für die Mädchen zu den "verbotenen Dingen" gehört. Die Eltern haben Geld, die Mädchen eine sorgenfreie Kindheit; ein Idyll, dieses Bild, doch es trügt. In Wirklichkeit bestimmt das Verbotene den Alltag - Dinge, die man nicht anschaut, Dinge, die man besser nicht nennt. Clarice, Jahrgang 1950, ist die Ältere, "gehorsam wie ein abgerichtetes Hündchen". Als Teenager passiert ihr etwas, da schickt die Mutter sie fort. Was ihr passierte, bleibt lange Geheimnis, von der Autorin raunend umkreist.

Tod im Steinbruch
Clarice wird Bildhauerin, doch das Geheimnis wirft sie aus der Bahn, sie trinkt, nimmt Drogen, schneidet sich die Pulsadern auf. Maria Inês ist Ärztin in Rio, sie meidet die Schwester. Erst spät, nach Jahren, finden die zwei zueinander. Es sind die Siebziger, beide stehen vor den Trümmern ihrer Ehen.

Die Eltern sind tot, da treffen sich die zwei auf der Fazenda, um über das Unsagbare zu reden. Und wir erfahren, worüber nicht zu reden war: Mißbrauch. "Und wieder. Und wieder." Wir erfahren auch, wie der Vater zu Tode kam, ein Unfall scheinbar, in Wahrheit Mord, ein Racheakt. Er, der Verbotenes tat, stürzt in den verbotenen Ort, hinab in den Steinbruch.

Die Geschichte Brasiliens im Kleinen
Adriana Lisboa erhielt für den Roman viel Lob, bekam gar den Premio José Saramago, und Saramago sagte: "Dieser Autorin gehört die Zukunft. Ihr Schreiben verspricht Großes." Der Roman ist in der Tat gut geschrieben, emotional und poetisch, kunstvoll gebaut, aber so groß denn doch nicht: Die literarischen Werkzeuge wirken abgegriffen, es raunt gar heftig auf 300 Seiten, und der Grund für all das Geraune ist vorhersehbar.

Zu den Stärken des Buchs gehört, wie Lisboa die Folgen des Mißbrauchs beschreibt, die Zerstörung einer Psyche, den Hass, die Angst; sie sind "allgegenwärtig". Mit 15 beginnt Clarice ihr "Projekt": "zu vergessen, wer Clarice war". Stark ist auch, wie die Autorin einen Bogen spannt – von der Geschichte der zwei Frauen hin zur Geschichte Brasiliens. 1976 feiern Clarice und Maria Inês eine Gedenkmesse für die verstorbene Mutter, und wir lesen: "Draußen im Land geschahen ebenfalls verborgene Dinge, man folterte politische Gefangene." Es ist die Zeit der Militärdiktatur, einer jener schrecklichen Diktaturen Lateinamerikas, und siehe: Im Buch wird die kleine Hölle der Fazenda zum Spiegelbild der großen Hölle im Land.

Besprochen von Uwe Stolzmann


Der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago bei einer Buchpräsentation im brasilianischen Sao Paulo
Lobte seine Kollegin: Der 2010 verstorbene Literaturnobelpreisträger José Saramago© AP
Adriana Lisboa: "Der Sommer der Schmetterlinge"
Übersetzt von Enno Petermann
Aufbau Verlag, Berlin , 2013
284 Seiten, 19,99 EUR

Links auf dradio.de:
Zuneigung zur Vielfalt des Lebens - José Saramago: "Claraboia oder Wo das Licht einfällt", Hoffmann & Campe, Hamburg 2013, 349 Seiten
Copacabanas Historie erklärt Brasilien - Dawid Danilo Bartelt: "Copacabana. Biographie eines Sehnsuchtortes", Wagenbach-Verlag, Berlin 2013, 224 Seiten