Eine Art Wunderkammer
Zur Fußball-Weltmeisterschaft will sich Baden-Württemberg nicht nur als Austragungsort präsentieren. Unter dem Titel "Kunst lebt!" hat das Kunstland Baden-Württemberg einmal seine sämtlichen Museumsbestände durchlüftet und ausgewählte Stücke im Kunstgebäude am Stuttgarter Schlossplatz zu einer zentralen Kunstkammer versammelt. Herausgekommen ist dabei eine wahre Mammutschau.
Kunst lebt – buchstäblich: Etwas träge zwar, aber sichtlich lebendig wälzt sich ein chinesischer Riesensalamander im gluckernden Gewässer eines Vivariums. Wenn das artgeschützte Tier, das einstmals auch in unseren Breiten heimisch war, durch die Scheiben seines gläsernen Geheges schaut, erblickt es gegenüber an der Wand einen seiner Ahnen, der sich vor 14 Millionen Jahren als Skelett in einen Stein gelagert hat. Als ein Züricher Arzt 1726 das Fossil am Bodensee entdeckt hatte, glaubte er, die Skelettreste eines bei der Sintflut ertrunkenen armen Sünders gefunden zu haben. Eine Geschichte, die uns staunen lässt, nicht zuletzt darüber, wie die Natur imstande ist, ihr eigenes Abbild zu erschaffen oder darüber, dass der Riesensalamander eine jener seltenen Spezies ist, an der die Evolution bis zur heutigen Zeit so gut wie nichts verändert hat.
Der lebende Lurch und seine historische Versteinerung wurden für die Schau aus dem Staatlichen Naturkundemuseum Karlsruhe nach Stuttgart verlegt. Die Ortsveränderung soll dem Publikum helfen, die Welt mit anderen Augen zu sehen, sagt Anke Spötter aus dem Kuratorenteam:
"Die Idee ist ja eigentlich auch, Objekte, die man sonst eigentlich als tot oder vielleicht auch gar nicht mehr wahrnimmt im Museum, herauszunehmen aus ihrer Umgebung und neu zu beleben."
Um es gleich zu sagen: Die Schau ist ein Wahnsinn, eine Art Wunderkammer, die rund 600 unterschiedlichste Stücke aus archäologischen, historischen, natur- und volkskundlichen Sammlungen sowie öffentlichen und privaten Kunstmuseen Baden-Württembergs auf teils bizarre Weise miteinander konfrontiert. Mit Hilfe von 42 Tonnen weiß beschichteter Presspanplatten hat man dem Sammelsurium ein labyrinthisches Boxensystem in die Räume geschreinert und einen Tummelplatz der Schaulust inszeniert.
Da gibt es Insektenkästen und Vogeleier, ein Aquarium mit bunten Korallenfischen, Musikautomaten und Meteoriten, eine Rechenmaschine von 1770, steinerne Kanonenkugeln von 1633, Klumpen von versteinertem Saurierkot, sagenhafte 185 Millionen Jahre alt; aber auch einen Hasen, den der Künstler Dieter Roth aus Karnickelkacke formte oder wurmstichige Brotreste aus historischen Hungerzeiten. Unmöglich, die Exponate alle aufzuzählen, sie gehen quer durch alle Erdteile und Epochen und reichen von Dürer, Gauguin, Polke oder Baselitz bis hin zu moderner Medienkunst.
Doch der Wahnsinn hat Methode, und die ist eigentlich gar nicht so neu, sagt Chefkurator Tilman Osterwold:
"Ich bin einer der Ersten, die in den siebziger Jahren angefangen haben, die Durchkreuzung von Kulturen zu thematisieren anhand von Phänomenen, die zeitgeschichtlich fundiert sind. Und im Grund genommen entspricht dieses Projekt eigentlich meiner Denkweise über Kunst, einer universalen Denkweise: Wie kann man die Komplexität der Kulturen neu denken? Und das ist eigentlich nun heute sehr modern."
"Cross over" nennt man das Prinzip, die Museumsbestände auf diese Art zu vernetzen und dabei neue Muster der Welterklärung zu gewinnen. Zeitlose Themenkomplexe wie das Tierische, Natur und Technik, Jugend und Alter, Krieg und Frieden, Männlichkeit und Weiblichkeit, Arm und Reich, Religionen oder Erotik, aber auch formalästhetische Aspekte werden so sinnfällig erschlossen, und wie das funktioniert, erläutert Osterwold am Beispiel Wohnen:
"Da haben wir zum Beispiel die Gefängniszelle eines Gefangenen der 1848er Revolution, die er im Gefängnis selbst modelliert hat, mit Bett und Glas und Nachttopf. Und wir haben parallel dazu von einer amerikanischen Künstlerin ein Projekt, wo sie mit einem lebenslang verurteilten schwarzen Amerikaner korrespondiert über seine Vorstellung, wie er wohnen möchte. Also: Wie sieht das Haus aus und wie richte ich es ein? Wo sind die Pflanzen, was für Mobiliar und wie sieht die Küche aus und der Garten, und was für Pflanzen setze ich? Ein ungeheuer interessantes Projekt. Solche Dinge mal in einem Raum gemeinsam wahrnehmbar zu machen, finde ich interessant."
Die gigantische Schau beeindruckt nicht zuletzt dadurch, dass sich in ihr der ungeheure Reichtum der baden-württembergischen Museumslandschaft manifestiert. Sie ist ein mutiges Experiment und ein inspirierendes Plädoyer für einen lebendigen Umgang mit diesen Schätzen, indem sie Natur- und Kulturgeschichte verknüpft und Kunst als Teil einer Universalgeschichte begreift.
"Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler". Ingeborg Bachmann hat das gesagt. Schlaue Sätze wie dieser begleiten uns auf dem Gang durch die Schau, und einer steht über der Erfrischungsbar: "Der Mensch lebt nicht von Kunst allein, nach einer Weile braucht er einen Drink." Den braucht man wirklich nach dem Marathon.
Service: Die Ausstellung "Kunst lebt! - Die Welt mit anderen Augen sehen" ist bis zum 24. September im Stuttgarter Kunstgebäude am Schlossplatz zu sehen.
Der lebende Lurch und seine historische Versteinerung wurden für die Schau aus dem Staatlichen Naturkundemuseum Karlsruhe nach Stuttgart verlegt. Die Ortsveränderung soll dem Publikum helfen, die Welt mit anderen Augen zu sehen, sagt Anke Spötter aus dem Kuratorenteam:
"Die Idee ist ja eigentlich auch, Objekte, die man sonst eigentlich als tot oder vielleicht auch gar nicht mehr wahrnimmt im Museum, herauszunehmen aus ihrer Umgebung und neu zu beleben."
Um es gleich zu sagen: Die Schau ist ein Wahnsinn, eine Art Wunderkammer, die rund 600 unterschiedlichste Stücke aus archäologischen, historischen, natur- und volkskundlichen Sammlungen sowie öffentlichen und privaten Kunstmuseen Baden-Württembergs auf teils bizarre Weise miteinander konfrontiert. Mit Hilfe von 42 Tonnen weiß beschichteter Presspanplatten hat man dem Sammelsurium ein labyrinthisches Boxensystem in die Räume geschreinert und einen Tummelplatz der Schaulust inszeniert.
Da gibt es Insektenkästen und Vogeleier, ein Aquarium mit bunten Korallenfischen, Musikautomaten und Meteoriten, eine Rechenmaschine von 1770, steinerne Kanonenkugeln von 1633, Klumpen von versteinertem Saurierkot, sagenhafte 185 Millionen Jahre alt; aber auch einen Hasen, den der Künstler Dieter Roth aus Karnickelkacke formte oder wurmstichige Brotreste aus historischen Hungerzeiten. Unmöglich, die Exponate alle aufzuzählen, sie gehen quer durch alle Erdteile und Epochen und reichen von Dürer, Gauguin, Polke oder Baselitz bis hin zu moderner Medienkunst.
Doch der Wahnsinn hat Methode, und die ist eigentlich gar nicht so neu, sagt Chefkurator Tilman Osterwold:
"Ich bin einer der Ersten, die in den siebziger Jahren angefangen haben, die Durchkreuzung von Kulturen zu thematisieren anhand von Phänomenen, die zeitgeschichtlich fundiert sind. Und im Grund genommen entspricht dieses Projekt eigentlich meiner Denkweise über Kunst, einer universalen Denkweise: Wie kann man die Komplexität der Kulturen neu denken? Und das ist eigentlich nun heute sehr modern."
"Cross over" nennt man das Prinzip, die Museumsbestände auf diese Art zu vernetzen und dabei neue Muster der Welterklärung zu gewinnen. Zeitlose Themenkomplexe wie das Tierische, Natur und Technik, Jugend und Alter, Krieg und Frieden, Männlichkeit und Weiblichkeit, Arm und Reich, Religionen oder Erotik, aber auch formalästhetische Aspekte werden so sinnfällig erschlossen, und wie das funktioniert, erläutert Osterwold am Beispiel Wohnen:
"Da haben wir zum Beispiel die Gefängniszelle eines Gefangenen der 1848er Revolution, die er im Gefängnis selbst modelliert hat, mit Bett und Glas und Nachttopf. Und wir haben parallel dazu von einer amerikanischen Künstlerin ein Projekt, wo sie mit einem lebenslang verurteilten schwarzen Amerikaner korrespondiert über seine Vorstellung, wie er wohnen möchte. Also: Wie sieht das Haus aus und wie richte ich es ein? Wo sind die Pflanzen, was für Mobiliar und wie sieht die Küche aus und der Garten, und was für Pflanzen setze ich? Ein ungeheuer interessantes Projekt. Solche Dinge mal in einem Raum gemeinsam wahrnehmbar zu machen, finde ich interessant."
Die gigantische Schau beeindruckt nicht zuletzt dadurch, dass sich in ihr der ungeheure Reichtum der baden-württembergischen Museumslandschaft manifestiert. Sie ist ein mutiges Experiment und ein inspirierendes Plädoyer für einen lebendigen Umgang mit diesen Schätzen, indem sie Natur- und Kulturgeschichte verknüpft und Kunst als Teil einer Universalgeschichte begreift.
"Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler". Ingeborg Bachmann hat das gesagt. Schlaue Sätze wie dieser begleiten uns auf dem Gang durch die Schau, und einer steht über der Erfrischungsbar: "Der Mensch lebt nicht von Kunst allein, nach einer Weile braucht er einen Drink." Den braucht man wirklich nach dem Marathon.
Service: Die Ausstellung "Kunst lebt! - Die Welt mit anderen Augen sehen" ist bis zum 24. September im Stuttgarter Kunstgebäude am Schlossplatz zu sehen.