Eine Art Vermächtnis

07.04.2010
Der in New York lehrende Historiker Tony Judt fordert ein besseres Verständnis der Gegenwart durch Einordnung in historische Kontinuitäten. Dazu bedürfe es politischer Denker, wie er sie im 20. Jahrhundert ausmacht. In seiner Essaysammlung führt er sie vor.
"Ich bin ein Querschnittsgelähmter mit einem Tupperware-Geschirr im Gesicht",

sagt einer der bekannten Intellektuellen unserer Zeit. Tony Judt, dessen Vater einem litauischen Rabbinergeschlecht entstammt, hat an Elitehochschulen gelernt und gelehrt. Er ist Professor in New York und erfolgreicher Publizist, ein Linker, der sich mit den Ideen des Marxismus und der europäischen Nachkriegsgeschichte auseinandergesetzt hat. Ein großer, freier Geist, unorthodox, vielseitig.

Und er ist todkrank, an den Rollstuhl und ein Beatmungsgerät gefesselt. Sein jüngst auf Deutsch erschienenes Buch "Das vergessene 20. Jahrhundert" als Vermächtnis anzusehen wäre übertrieben, ist aber nicht falsch. Judt, der politische Denker, beklagt das derzeitige Schrumpfen politischen Denkens gegenüber einer ständig wachsenden Bedeutung des Ökonomischen.

Er macht sich stark für den Liberalismus und den Sozialstaat. Den Gemeinsinn. Und ist bestürzt über die 'seltsame Neigung' im 21. Jahrhundert Intellektuelle des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen, die Vergangenheit nicht als lehrhaft, sondern als etwas Fremdes, Erledigtes zu betrachten. Das 20. Jahrhundert verkomme zur bloßen Gedenkstätte, an der man nur noch einzelner Aspekte gedächte.

Judt plädiert daher für die Rekonstruktion intellektueller Ideen, das Herausarbeiten großer politischer Linien. Er fordert ein besseres Verständnis der Gegenwart durch Einordnung in historische Kontinuitäten. Das Problem des Terrorismus sei dadurch besser zu verstehen und auch die Geschichte des Nahen Ostens. Dazu bedarf es vor allem politischer Denker, wie Judt sie im vergangenen Jahrhundert noch ausmacht.

In seiner Essaysammlung führt er sie beispielhaft vor: Arthur Koestler, Hannah Arendt, Albert Camus, Edward Said – um nur einige zu nennen. Sie machten begreiflich, welche Macht Ideologien als leitende Erzählungen für Gesellschaften hatten. Wolle man heutzutage neue gesellschaftliche Projekte initiieren, müsse man diese im Blick behalten.

Mit Einleitung und Epilog umfasst Judts Buch 25 Aufsätze. Heterogene Texte, entstanden in den Jahren zwischen 1994 und 2006. Stilistisch hervorragend, lehrreich, engagiert. Und zumeist zeitlos. Viele von ihnen sind Rezensionen von Biografien. Immer geben sie einen bestechenden Eindruck vom Wesen des Intellektuellen wie zum Beispiel Primo Levi oder Manès Sperber.

Judt reflektiert in ihnen historische Umstände sowie die Verbindung der Protagonisten zum politischen Geschehen ihrer Zeit. Dadurch und auch in den dezidiert politischen Aufsätzen des Buches – zu Tony Blair, zu Israel, dem "Land, das nicht erwachsen werden will", zum Niedergang des Liberalismus in den USA – leistet er Erinnerungsarbeit mit Blick auf die Gegenwart.

Der Untertitel der deutschen Ausgabe dieses Buches ist allerdings unglücklich gewählt: "Die Rückkehr des Intellektuellen" wird von Tony Judt erwünscht – nicht aber festgestellt. Umso wichtiger ist dieses Buch.

Besprochen von Carsten Hueck

Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen
Aus dem Amerikanischen von Matthias Fienbork, Carl Hanser Verlag, München 2010, 475 Seiten, 27,90 Euro