Eine Art achtes Weltwunder

Jens Lorenz Franzen im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 25.05.2009
Ida ist ein Fossil, das in der südhessischen Grube Messel gefunden wurde. Sie gilt als unsere entfernte Verwandte. Sensationell sei an dem 47 Millionen Jahre alten Fossil vor allem, dass fast das gesamte Skelett vorhanden sei, schwärmt der Paläontologe Jens Lorenz Franzen. Der Fund samt Publikation wurde kürzlich in New York präsentiert.
Liane von Billerbeck: Sie müssen mir jetzt folgen in eine Zeit vor 47 Millionen Jahren. Die Region, die heute Hessen heißt, die war damals von Regenwald bedeckt, die Dinosaurier waren verschwunden, kein Wunder eigentlich, denn in einem Wald braucht es andere Fähigkeiten als schiere Masse, um zu überleben. Da entstanden Wesen, die konnten klettern und hangeln und so gut an Früchte und Blätter gelangen, ganz neue Wesen, aus denen sich später Affen und auch Menschen entwickeln sollten. Eines dieser Wesen – natürlich als Fossil – wurde in der südhessischen Grube Messel gefunden, ein Uräffchen, das den Namen Ida bekam. Paläontologen haben es der staunenden Welt in einer Show in New York präsentiert und als eine Art achtes Weltwunder bezeichnet. Mit dabei war auch der Paläontologe Dr. Jens Lorenz Franzen, der bis zum Jahr 2000 eine Abteilung am Forschungsinstitut Senkenberg in Frankfurt am Main geleitet hat und zahlreiche fossile Säugetiere aus dem Tertiär wissenschaftlich untersucht, beschrieben und ihnen einen Namen gegeben hat. Herr Franzen, ich grüße Sie!

Jens Lorenz Franzen: Ja, schönen guten Morgen!

von Billerbeck: Was, bitte, macht Ida zum achten Weltwunder?

Franzen: Das ist die Vollständigkeit der Überlieferung in Fall von Ida. Ida stellt den bei Weitem vollständigsten Primatenfund dar, der jemals auf der Welt entdeckt worden ist. Ein Vergleich: die berühmte Lucy. Von ihr wird gesagt, dass sie etwa 40 Prozent des Skelettes umfassen würde. Wir haben von Ida von der einen Seite, von der rechten Seite, 100 Prozent, von der linken Seite etwa 90 Prozent. Deswegen sprechen wir von 95 Prozent Skeletterhaltung. Das ist für Primaten ganz ungewöhnlich. Meistens werden die Vorstellungen etwa über die systematische Position oder auch die stammesgeschichtliche Ableitung auf ein paar wenige Knochen, Kieferfragmente, manchmal sogar nur einzelne Zähne begründet, und hier haben wir ein ganzes Skelett zur Verfügung. Dann kommt noch einiges hinzu.

von Billerbeck: Moment, Moment, jetzt will ich natürlich wissen, nach so viel Prozentzahlen, die Sie uns jetzt hier gesagt haben – beschreiben Sie uns doch bitte mal Idas Körperformen.

Franzen: Äußerlich ähnelt Ida einem Lemuren, wie manche sie vielleicht aus zoologischen Gärten kennen. Lemuren, das sind Halbaffen, heute noch auf Madagaskar lebend. Wenn man aber in die Details des Skelettbaus geht, dann kann man feststellen, dass Ida Merkmale trägt, die schon in Richtung auf höhere Primaten weisen, und das hat uns dazu veranlasst, die ganze Gruppe, zu der Ida gehört und die man schon seit 1915 eigentlich als fossile Lemuren angesprochen hat, in ihrer Position zu verschieben von den sogenannten Feuchtnasen – das klingt jetzt ziemlich lustig im Zeitalter der Schweinegrippe oder auch nicht – zu den sogenannten Trockennasen, zu denen wir uns selber rechnen, aber auch eben die Affen der alten und der neuen Welt und auch die Menschenaffen. Und das bedeutet, dass damit diese ganze Gruppe in eine Vorfahrenbeziehung zu den heutigen Menschen gekommen ist.

von Billerbeck: Wir wollen nachher noch genauer wissen, an welcher Stelle in unserer Ahnenreihe Ida steht, aber kommen wir erst mal dazu, wo sie gefunden wurde. Das war in der Grube Messel in Südhessen. Sie haben dort selber gearbeitet und Ida war dort nicht der erste Fund. Warum ist diese Grube im Wortsinn eine Fundgrube?

Franzen: Die Grube in Messel ist im Laufe der Jahre, vor allen Dingen, seitdem intensive Grabungen dort eingesetzt haben, Anfang der 70er-Jahre und dann noch mal gesteigert Mitte der 70er-Jahre, zu einer wahren Fundgrube geworden. Ursprünglich wurde sie ausgebeutet für Ölschiefer, aus dem man Rohöl gewann, und im Laufe dieses bergmännischen Abbaus hat man dann entdeckt, oh, da gibt es ja auch Knochen und Zähne und so weiter von offenbar fossilen Tieren. Die sind dann planmäßig gesammelt worden und untersucht worden, publiziert worden, aber was man zunächst hatte Anfang der 70er-Jahre, das war relativ wenig. Wir kannten damals etwa zwölf verschiedene Säugetierarten, inzwischen sind es über 45. Da ist also viel passiert in diesem Zwischenraum und es konnte viel passieren, weil wir viele hervorragende Funde gemacht haben.

von Billerbeck: Beinah wäre diese für Paläontologen wie Sie so wichtige Fundgrube ja zur Müllkute geworden. Sie gehörten zu denen, die damals den Protest organisiert haben. Wie kam es, dass das verhindert wurde?

Franzen: Ja, es war bei einer Bürgerversammlung in Messel, kurz vor Weihnachten 1974, von der ich gehört hatte und an der ich dann teilgenommen habe und an der ich zum ersten Mal auf die Bedeutung der Grube Messel hingewiesen habe in Bezug also auf diese Fossilfunde. Auf dem Podium saßen die Landräte, der Bürgermeister von Darmstadt und andere Honoratioren, entscheidende Leute, die kamen also nach dieser Sitzung dann nachher freundschaftlich zu mir herunter, klopften mir auf die Schulter und sagten, ach, das war ja hochinteressant, was Sie da erzählt haben, aber Sie müssen verstehen, die dringenden Probleme der Müllbeseitigung im Rhein-Main-Gebiet, und vielleicht werden Sie im nächsten Jahr noch graben können, aber dann wird die Grube verfüllt werden. Das war die Situation damals.

von Billerbeck: Und dank eines Umweltministers namens Joschka Fischer ist das dann verhindert worden.

Franzen: Das war ganz wesentlich. Wir haben ja lange Jahre dann gegen diese Pläne gekämpft. Ich habe schon scherzesweise gesprochen von einem 30-jährigen Krieg. Es waren insgesamt 22 Jahre, an denen ich persönlich daran beteiligt war. Es war ganz wesentlich, dass die Grünen seinerzeit als Bedingung für die Beteiligung an der Landesregierung gesagt hatten: Wenn wir uns beteiligen an der Regierung, dann darf es keine Mülldeponie Messel geben. Und damit hatten wir zum ersten Mal sozusagen einen Fuß in der Tür, denn bis dahin waren die hessischen Landesregierungen alle einheitlich der Meinung gewesen: Ja, das ist eigentlich eine ganz günstige Lösung, wir können auf der einen Seite den aufgelassenen Bergbau rekultivieren, die Grube wird aufgefüllt, und auf der anderen Seite verschwindet zauberhaft der Müllberg aus dem Rhein-Main-Gebiet.

von Billerbeck: Wir wollen aber zurück zu unserem Vorfahren, zu Ida, und wollen natürlich von Ihnen als Fachmann jetzt wissen: Sie haben gesagt, Sie haben Ida verschoben von den Feuchtnasen zu den Trockennasen. Jetzt will ich natürlich genau wissen: An welcher Stelle in der Ahnenreihe steht denn nun Ida, dieses Fossil, das Sie da gefunden haben?

Franzen: Wir haben die ganze Gruppe, zu der Ida gerechnet wird, haben wir verschoben von den Lemurenartigen hin zu diesen Trockennasen, und innerhalb dieser Gruppe gibt es eine ganze Reihe verschiedener Vertreter. Nicht alle davon befinden sich jetzt auf der direkten Linie zum Menschen. Am Beispiel von Ida kann man zum Beispiel am vordersten Backenzahn erkennen, dass der bereits zu fortschrittlich entwickelt ist, zu sehr schon in Richtung Mensch, um noch als Vorfahr der südamerikanischen Breitnasenaffen in Frage zu kommen. Damit kann Ida kein direkter Vorfahr von uns Menschen sein, aber sie gehört eben zu der Gruppe, aus der die höheren Primaten sich entwickelt haben.

von Billerbeck: Nun wird ja immer nach dem Verbindungsglied zwischen den Vorfahren, also zwischen den gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Affe gesucht. Gehört Ida nun dazu? Ist Ida vielleicht sogar dieses Verbindungsglied?

Franzen: Als Vertreter dieser Gruppe kann man sagen, dass Ida eine Mittelstellung einnimmt zwischen den höheren Primaten und dem Tierreich insgesamt. Insofern ist also dieser Begriff "the link", wie er in New York ja auch geprägt und vorgestellt worden ist und mit einem Buch auch noch unterlegt worden ist, ist der schon berechtigt. Es geht um Detailuntersuchungen im Skelett natürlich, aber wir haben im Falle von Ida ja viel mehr noch als das Skelett, wir haben den kompletten Weichkörper bis zu den feinsten Haarspitzen überliefert. Das ist eine Besonderheit der Fundstelle Messel und es ist auch ein noch größeres Wunder eigentlich, wenn man hört, wie es zu dieser Weichkörperüberlieferung gekommen ist. Das muss man sich nämlich so vorstellen: In dem Moment, als ein Kadaver dann bis auf den Boden des fast 100 Meter tiefen Messelsees der damaligen Zeit herabsank und schließlich abgelagert wurde, siedelten sich Bakterien an der Kontaktfläche zwischen Weichkörper und Sediment an und haben damit begonnen, den Weichkörper aufzulösen. Im Zuge dieser Verwesungstätigkeit haben die Bakterien durch ihren eigenen Stoffwechsel Kohlendioxyd produziert. Und dieses Kohlendioxyd hat das reichlich vorhandene Eisen aus dem Seewasser ausgefällt, und auf die Art und Weise ist ein feines Häutchen von einem Eisenkarbonat namens Siderid auf die Oberfläche der Bakterien abgelagert worden. Die Bakterien haben sich sozusagen selber versteinert. Kaum, dass sie da waren, haben sie sich auch schon versteinert und auf die Art und Weise ist eine feine, poröse Haut an dieser Kontaktfläche zwischen Weichkörper und Sediment entstanden, und in diese poröse Schicht sind dann dunkle organische Bestandteile aus der Umgebung eingewandert und haben diese Kontaktfläche gefärbt. Was wir hier haben in Messel ist eben auch ein Wunder. Es ist nicht die direkte Überlieferung des Weichkörpers, es ist nicht der Weichkörper selber, sondern es ist eine Abbildung des Weichkörpers. Wir sprechen also hier geradezu von Bakteriographie in Anlehnung an die Fotografie.

von Billerbeck: Da klingt die Begeisterung schon durch, die Begeisterung, die man auch während der Präsentation dieses Forschungsergebnisses in New York beobachten konnte, die ja dort im Naturkundemuseum geschah und, ja, das erste Mal, könnte man sagen, so eine Art Inszenierung war. Haben Sie da nicht so ein bisschen Angst, dass man da etwas überzieht? Denn solcherlei Inszenierungen, die kennt man aus der Kunst oder aus der Mode, aber bisher nicht aus der Wissenschaft.

Franzen: Das ist richtig, aber ich denke, die Seriosität der Wissenschaft drückt sich nicht in dieser Darstellung, in dieser Präsentation aus, sondern in unserer Publikation, und die ist für jedermann frei zugänglich, kostenfrei zuständig auf der ganzen Welt. Man kann sie runterladen aus dem Journal "PLoS ONE", und dann kann sich jeder überzeugen, welche Arbeit wir da geleistet haben. Wir haben also die modernsten Technologien eingesetzt, nicht nur Röntgentechnik und nicht nur Computertomografie, sondern sogar Mikrocomputertomografie, und das bedeutet eine Auflösung in Details, die weit herunterreicht unter dem, was man aus Hospitälern gewöhnt ist. Das heißt also, wir haben Ida wirklich auf Herz und Nieren untersucht, und das ist entscheidend für den wissenschaftlichen Wert. Die Präsentation dagegen, da muss man sagen, man hat lange Zeit davon gesprochen, dass die Wissenschaft aus dem Elfenbeinturm herauskommen müsste und sich wirklich auch in der Öffentlichkeit präsentieren sollte.

von Billerbeck: Und nun macht sie es und nun meckert die Öffentlichkeit wieder.

Franzen: Nun macht sie es und da meckert man, genau, und ich komme von einem großen, naturhistorischen Museum, dem Naturmuseum Senckenberg, und da ist es über drei Jahrzehnte lang meine Aufgabe gewesen, der Öffentlichkeit die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zu erklären. Der Steuerzahler zahlt letzten Endes ja unsere Arbeiten, und warum sollen wir da nicht etwas an die Öffentlichkeit zurückgeben?

von Billerbeck: Sagt der Paläontologe Jens Franzen über Ida und deren Präsentation, eine gemeinsame Vorfahrin von Affe und Mensch. Ich danke Ihnen schön!

Franzen: Bitte schön!
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