Eine Antithese zur Spektakel-Gesellschaft

Von Barbara Wiegand · 02.08.2012
Am Wochenende war Halbzeit bei der Kunstausstellung documenta. Nach den Bedenken im Vorfeld, das Ganze würde zu einem theorielastigen Ereignis geraten, scheint sich auch dank euphorischer Kritiken ein stabiles Hoch in Kassel eingestellt zu haben.
"Für die Aue finde ich’s toll. Erst dachte ich: Wie fürchterlich, die Hütten, was machen die denn hier? Und dann muss ich sagen, ich finde das so toll, vor allem das Leben jetzt hier!"

Versonnen blickt eine Besucherin auf die Ideale Welle von Massimo Bartolini, die in einem Bassin vor der Orangerie hin- und herschwappt und gerät darüber ins Schwärmen – von einer documenta, deren gefühltes Zentrum für sie wie für viele andere in der Karlsaue liegt. Bis in die letzten Winkel der barocken Parkanlage hinein ist diese documenta ein Kunsterlebnis inmitten der Natur, das die Menschen spürbar gelassen stimmt.

Auch wenn sich manches manchem nicht erschließt – es wird gelächelt und nicht geschimpft. Die Wege zur unter freiem Himmel oder in kleinen Hütten präsentierten Kunst scheinen hier das Ziel, weniger das einzelne Werk. Skulpturen, Interventionen, Installationen wirken unter einer bisweilen banalen Oberfläche überraschend vielschichtig.

Hunde mit rosa Pfoten, Boote in Bäumen oder auch ein als "Garten zum Nichtstun" deklarierter grüner Hügel eröffnen ungewohnte Perspektiven auf Zeit und Vergänglichkeit, Kultur und Natur.

Carolyn Christov-Bakargiev, künstlerische Leiterin der d13: "Im Auepark gibt es viele Dinge. Etwa Song Dongs 'do nothing garden'. Ein Hügel aus Schutt, mit Pflanzen drauf. Wenn man das weiß, kann man über mögliches Zusammenhänge nachdenken von Kunst und Recycling. Aber wenn man das nicht weiß, dann gibt es da viele andere Möglichkeiten. Wenn sie etwa ein Foto von dem Garten machen, dann macht das nicht viel her. Es ist grün vor grünem Hintergrund. Also die Arbeit ist sozusagen eine Antithese zur Spektakel- und eventverliebten Gesellschaft. Sie entzieht sich damit auch der üblichen Darstellung in den Medien, die ja das herausragende, das besondere wollen. Ja, der Hügel ist äußerst selten in einer Zeitung abgebildet."

Dieses Werk und die Kasseler Karlsaue sind beispielhaft für diese Documenta. Und so sehr Christov-Bakargiev im Vorfeld belächelt wurde, wenn sie das Wahlrecht für Bienen forderte, Skulpturenparks für Hunde ankündigte, so bemüht die Zusammenhänge zwischen urtümlichen Kulturen, regionaler Geschichte und kontextlos nebeneinander präsentierten Objekten bisweilen scheinen, so oft gelingt es ihr, klug den Bogen über die Grenzen der Kunst hinaus zu schlagen. Mit Hilfe neuer, aber auch traditioneller Medien Fragen etwa zum Thema Zerstörung und Wiederaufbau zu stellen. Nicht abgehoben, sondern sinnlich.

Etwa bei einem Besuch im nahe dem Kasseler Rathaus gelegenen Hugenottenhaus, in dem eine Gruppe um den Chicagoer Künstler Theaster Gates Einzug hielt, um das seit Jahren leerstehende Gebäude aus dem 19. Jahrhundert so behutsam wie einfallsreich zu sanieren, um dort zu leben und zu jammen:

"Das Hugenottenhaus wird sehr gut aufgenommen, auch weil es ein Projekt ist, das aus dem klassischen Rahmen fällt. Es macht die Leute auch sehr neugierig. Eigentlich ist es so, dass das Publikum sehr schnell Fragen stellt. Ich kenn das selbst, wenn man da in der Küche sitzt, wird man von jedem, der da hereinschaut, angequatscht. Was ja eigentlich schön ist, dass es keine Schwellenängste gibt, sondern dass das schnell geht. Eine direkte Art der Kunst!"

Sagt Julia Stoff, die das Projekt während der Abwesenheit von Theaster Gates betreut. Doch so spontan hier vieles scheint, so durchdacht ist es. Obwohl die documenta-Chefin angekündigt hatte, kein Konzept zu haben. Hier hat alles seinen Platz, vom scheinbar im Auepark gewachsenen Bronzebaum von Guiseppe Penone über die einladenden Liegestühle am Teich bis hin zu den Geräuschen einer Sound-Installation von Janet Cardiff und Georges Bures Miller, die unter hochgewachsenen Bäumen wie aus einer anderen Wirklichkeit an unser Ohr dringen.


Carolyn Christov-Bakargiev: "Ja, ich habe oft gesagt, dass ich kein Konzept habe. Das stimmt auch – es gibt jedenfalls kein schriftlich festgelegtes Konzept. Weil ich nicht Teil dieses kapitalistischen, auf schnelle Informationen und Verarbeitung ausgelegten Systems sein will, in dem die Ideen und Vorstellungen produziert werden und als konforme, kleine Konzeptpakete verschnürt werden. Aber das heißt nicht, dass ich Chaos wollte. Ich habe ein alternatives Konzept, das nicht aus Worten, sondern aus Objekten und deren Beziehungen untereinander besteht."

Anstatt fertige Erklärungen zu liefern, entsteht so Raum für eigene Erfahrungen. Das gilt auch für die Führungen. Keine Kunstexperten, sondern Surfer, Gärtner, ja sogar der ehemalige Finanzminister und Kasseler Oberbürgermeister Hans Eichel gehen mit Besuchergruppen auf documenta-tour. Und auf so einer Tour gibt es viele Möglichkeiten, sich auszutauschen, zu sinnieren, zu spekulieren über die Kunst. Vielleicht, ohne je ein abschließendes Fazit zu ziehen. Denn die 13. Ausgabe der Weltkunstschau bietet zwar insgesamt ein erstaunlich abgerundetes Bild, ist aber auch ein weites Feld voll unterschiedlichster Entdeckungen – betörende wie verstörende, heitere wie tief ernste.
Mehr zum Thema