Einblicke in ein streng-religiöses Alltagsleben

Kerstin Höckels Schwester konvertierte zum Judentum und lebt als ultraorthodoxe Siedlerin in den besetzten Gebieten. In ihrem Buch geht Höckel der Frage nach "Wie kannst du so fest glauben?" und zeichnet das Bild eines Lebens im strengen Regelwerk der Religion.
Wie wird eine Deutsche zur ultraorthodoxen Siedlerin? Das scheint so eine unmögliche Karriere zu sein.

Durch die Macht der Liebe natürlich. Kerstin Höckel kommt aus einem politisch eher linken Lehrerhaushalt. Ende der 80er Jahre fährt ihre große Schwester Claudia mit der evangelischen Kirche nach Israel, zu Versöhnungs- und Begegnungsarbeit – doch aus dem selbstverständlichen politischen Statement wird der familiäre Ernstfall: in Israel verliebt sich die Schwester nämlich. Was keiner dachte, passiert: die Jugendliebe hält. Die liberalen Eltern schwanken zwischen dem Wunsch, der Tochter die Liebe ihres Lebens zu ermöglichen, und der Verstörung über Ben. Denn der brennt vor heiligem Eifer für Israel. Ben ist Sohn deutscher christlicher Auswanderer, die ihr Leben im Heiligen Land zum Statement bei der Abarbeitung deutscher Schuld machen. Ben lebt für den Tag, an dem er endlich einen israelischen Pass hat, er will selbstverständlich für sein Land mit der Waffe kämpfen, die Religion nimmt in seinem Leben einen immer größeren Platz ein – und in Claudia sieht er die ideale Gefährtin für sein Leben in Israel, obwohl sie Deutsche ist, wofür er eigentlich nur Verachtung übrig hat. Kerstin Höckel erzählt die Geschichte einer Verwandlung: Claudia wird Sara. Die bewunderte große Schwester, die Architektur studieren möchte, wird über erste, unfreiwillig komische Sabbatfeiern in der elterlichen Dachwohnung zur orthodoxen Mutter von fünf Kindern, die nur noch im knielangen Kleid am orthodoxen Frauenstrand schwimmen geht.

Das heißt, in der Familie ist man nicht begeistert darüber, auf einmal eine orthodoxe Jüdin zur Tochter zu haben?

Die Begeisterung für die religiöse Seite wäre wahrscheinlich nicht so schwer, da ist man im Elternhaus sehr aufgeschlossen. Die Haare der Schwester erst unter unförmigen Strickmützen verschwinden zu sehen, dann unter Kopftüchern, dann schließlich die Schwester nach Israel und da auch immer weiter weg aus der Reichweite der unreligiösen Welt und damit auch der Familie, das ist eine ganz andere Sache. Kerstin Höckel beschreibt ihre ohnmächtige Wut, als ihre Neffen sie bei einem der seltenen Besuche in Deutschland nicht als Pippi Langstrumpf auf der Bühne sehen dürfen, weil das Kleid zu kurz ist und überhaupt die Aufrührerin Pippi gegen alle Ordnung steht, die die Orthodoxie der Schwester verspricht.

Die Autorin schreibt radikal aus ihrer Position als Schwester. Das ermöglicht einerseits tiefe Einblicke in das Leben orthodox jüdischer Frauen – die kleine Schwester passt sich beim Besuch so gut wie möglich an und erlebt sich selbst als völlig verändert, wenn sie sich vor den Blicken der Männer verbirgt, wenn sie ihre Körperbewegungen aufs züchtige Mindestmaß beschränkt, wenn ihr die vielen Kinder der Siedlung trotzdem hinterherlachen, weil sie die Fremde, die Ungläubige in ihr erkennen.

Und andererseits ermöglicht es die Familienperspektive, beißende Kritik an der Orthodoxie auszusprechen, die sich die Autorin als politisch interessierte Deutsche nicht erlauben würde. Schließlich ist es ihre Schwester, die da mit den anderen Frauen auf einmal ein Leben hinter den Kulissen führt. Kerstin Höckel versteht nicht, wie man freiwillig eine Ordnung akzeptieren kann, die scheinbar selbstverständlich die Männer in die Position der Mächtigen setzt. Beinahe komisch ist ihre Verzweiflung, als beim Besuch in der Synagoge ein liebevoll zubereitetes Buffet ganz selbstverständlich an die Männer weitergereicht wird und die Frauen ebenso selbstverständlich warten, bis sie – lang nach den Männern – einen einfacheren Ersatz essen dürfen. Dieses Leben in freiwilliger Selbstbeschränkung will die Autorin nicht verdammen, kann es aber auch nicht akzeptieren, gerade weil es ihre Schwester ist, die es lebt.

"Wie kannst du so fest glauben" ist deswegen auch nicht nur ein Buch aus dem Innenleben orthodoxen Judentums, es ist auch die Geschichte einer Trauer. Nämlich um die große Schwester, die aus der Familie in die Religion ausgewandert ist. So beschreibt Kerstin Höckel sehr eindringlich einen Sabbat-Abend während ihres letzten Besuchs in Israel: den einzigen Abend, an dem lockere Gespräche jenseits von religiösen oder politischen Debatten möglich sind. Die Autorin und ihre mitreisende Mutter erleben ihn als Balsam für die Seele, fast ist die Schwester und Tochter zurück. Die aber erzählt, dass sie vor dem Schlafengehen mit ihrem Mann noch lange in der Tora gelesen und gebetet habe, weil die Gespräche sie so aufgewühlt und verstört hätten.

Ist das Buch denn mehr als eine Familiengeschichte?

Ich finde schon. Es ist natürlich keine systematische Darstellung der jüdischen Orthodoxie, auch keine der israelischen Siedlungsbewegung. Aber es liefert Momentaufnahmen, von dem im wahrsten Sinne des Wortes beschränkten Horizont der Siedler zum Beispiel, die einen die Nachrichten aus Israel noch einmal anders verstehen lassen. Und es bietet Einblicke in religiöses Alltagsleben, die normalerweise nicht sichtbar sind hinter den typischen Bildern vom orthodoxen Mann mit Mantel und Schläfenlocken, allein schon über die Verwunderung über die Details der Sabbat-Gesetze und wie sich das Alltagsleben einen Weg mit ihnen und um sie herum sucht.

Und immer wieder bietet es die Möglichkeit, den religiösen Eifer von Konvertiten vielleicht nicht zu verstehen, aber vor seiner Kraft zu erschauern. Wenn die Schwester sehnsüchtig bedauert, dass sie nie zusammen mit ihren Söhnen im Meer schwimmen wird. Oder wenn die Unbarmherzigkeit beschrieben wird, mit der Schwester und Schwager das Ruhegebot am Sabbat durchziehen, auch wenn der gesunde Menschenverstand anderes Handeln nahe legt, ein kurzes Handanlegen beim Klaviertransport zum Beispiel oder auch, die Frau bei einer drohenden Fehlgeburt ins Krankenhaus zu begleiten. Religiöse Logik folgt eigenen Gesetzen, von denen sich die staunende weltliche Schwester ebenso abgestoßen fühlt wie auch angezogen angesichts des eigenen mühseligen Weges durch die Möglichkeiten des Lebens. Kerstin Höckel fällt kein Urteil, das ist nur konsequent. Die große Schwester scheint Sicherheit im Regelwerk der Religion zu finden, aber sie wird dadurch auch immer weniger anschlussfähig für all die, die diesen Weg nicht gehen – die eigene Familie eingeschlossen. Also: Als Lösung für postmoderne Sinnkrisen empfiehlt die Autorin das selbstbeschränkte Leben nach den Gesetzen der Religion nicht. Auch wenn ihre Sehnsucht nach einer Lösung sehr deutlich ist.

Lesenswert?

Unbedingt. Autorin Kerstin Höckel ist Schauspielerin, Regisseurin, Drehbuchautorin, das merkt man dem Buch an – es ist hervorragend geschrieben. Ich war am Ende sehr neugierig, was vor allem aus den Neffen und der Nichte wird, die da zu orthodoxen Musterjuden herangezogen werden – aber das muss eben die weitere Familiengeschichte zeigen, zu der wir wahrscheinlich keinen Zugang bekommen. Aber die Mischung aus Humor, aus genauer Beobachtung und an Respekt vor den Kräften der Religion sorgt für eine absolut packende Lektüre.

Rezensiert von Kirsten Dietrich

Kerstin Höckel: Wie kannst du so fest glauben. Meine Schwester, der Gott der Juden und ich
Piper 2007
256 Seiten, 17,90 Euro