Einblicke in die Schweizer Seele

Von Volkhard App · 05.07.2007
In Zeiten der Globalisierung macht sich die zweite Auflage von "Swiss Made" auf die Suche nach einer Mentalitäts- und Identitätsgeschichte der Schweiz. Die Ausstellung zeigt durch gelungene Kontraste den Prozess zwischen "Präzision und Wahnsinn".
Den Oberkörper hat er mächtig zur Seite geneigt und die Axt steil erhoben – wenn er gleich trifft, wird es für den bereits eingekerbten Baum der Todesstoß sein. Ferdinand Hodler brachte diesen energiegeladenen Holzfäller 1910 auf die Leinwand. In "Swiss Made II" wird dieser Klassiker erneut gezeigt, den Raum um Hodlers Bild aber beherrscht nun Thomas Hirschhorn mit einer Installation. Riesige Äxte hat er gebaut und an die Wand gelehnt, Hämmer sind zu sehen, Bretter, Holzscheiben, Spielzeug-Bausteine liegen herum, von Nägeln übersäte Flächen wirken bedrohlich - und Gewaltfotos in einer Vitrine verweisen mit den Opfern und all den Messern und Pistolen auf Werkzeuge des Tötens.

In seiner Heimat stellt der provokante Eidgenosse Hirschhorn aus Protest gegen rechte Tendenzen in der Regierung seit Jahren nicht mehr aus, so dass man diese wüst wirkende Raumcollage mit den Äxten auch als Attacke auf die Schweiz ansehen könnte:
"Nein - das hat gar nichts damit zu tun. Das hier ist eine Werkstatt, und da gibt es eben Werkzeuge, Arbeiten sind im Entstehen, da wird nachgedacht und vorbereitet und Material wird geschichtet. Das hat nichts mit meinem Boykott zu tun. Den führe ich aber weiter - ich halte ihn seit 2003 durch, wegen dieses rechtspopulistischen Politikers im Bundesrat."
Hirschhorn ist in Wolfsburg dabei, eben weil für "Swiss Made II" eine Art Partnertausch stattgefunden hat: die Älteren unter den Dialogstiftern sind geblieben, die jüngeren wurden ausgetauscht. Max Bills strenge Kompositionen aus bunten geometrischen Formen treffen nun auf bewegte Bilder von Yves Netzhammer, der diese präzise Sprache aufgenommen und in gesichtslose Figuren und eine surreale Szenerie verwandelt hat. Und Albert Ankers anrührendes Armutsgemälde von 1896 mit einer Korbflechterwerkstatt begegnet nun Videos von Fischli-Weiss, die auf vielen Bildschirmen vom Alltag unserer Zeit erzählen: von Bahnfahrten, einer Waldrodung und vom städtischen Freizeitvergnügen.

So entstehen in Wolfsburg Korrespondenzen zwischen alten und jungen Werken, da werden auch historische Unterschiede deutlich. Museumsdirektor Markus Brüderlin:
""Unser Porträtraum zeigt sehr unterschiedliche Auffassungen vom Menschen, zeigt ganz prägnant die verschiedenen Menschenbilder. Da ist Hodlers Selbstporträt von 1916, dann eine fotorealistische Porträt-Malerei von Franz Gertsch von 1970, und, ganz aktuell, ein Foto von einer anonymen schwarzen Frau auf einem Platz in Brüssel, aufgenommen 2007 von Beat Streuli. Besser kann man den Wandel der Epochen nicht darstellen.”"
Neue überraschende Dialoge werden so möglich: Giacomettis verloren wirkende Bronzegestalt trifft jetzt auf ein Schriftbild von Remy Zaugg, auf dem der paradoxe Satz zu lesen ist: "Schau, Du bist blind." Womöglich eine Sprechblase dieser melancholischen Giacometti-Figur, meinen die Ausstellungsmacher. Adrian Schiess weckt mit lackbesprühten Aluminiumplatten landschaftliche Assoziationen und schafft so ein Gegengewicht zu den konventionellen Ölbildern, wohingegen Monica Studer und Christoph van den Berg den Gemälden von einst eine Großinstallation mit computergeneriertem Gebirge gegenübergestellt haben - eine eindrucksvolle Welt auf Pappe. Van den Berg:
""Es ist eine reine Fiktion, an der sich die Realität reiben kann. Wer diese Installation sieht, könnte meinen, dass hier eine Nachbildung stattgefunden hat. Es kommen auch immer wieder Menschen, die behaupten, auf dem dargestellten Berg schon gewesen zu sein. Dann müssen wir sagen, dass das so nicht stimmt. Trotzdem hat diese Person das Gefühl, dort schon gewesen zu sein. So verschieben sich die Realitäten durch unsere Darstellung und Behauptung, und manche Menschen nehmen diese Realitäten auf neue Weise wahr.”"
Einen frivolen Akzent setzt auch diesmal Robert Müllers Fahrradgestell zur Selbstbefriedigung, dem in der zweiten Folge von "Swiss Made" eine phallische, von braunem Pelz umhüllte Rakete von Sylvie Fleury zur Seite gestellt ist. Präzision und Wahnsinn – diese Begriffe sind erneut die "mentalen Leitplanken" auf dieser psychotopographischen Zeitreise: Kalkül und handwerkliche Akkuratesse hier, Entgrenzung und chaotischer Gegenschlag dort. Kuratorin Julia Wallner:
""Es ist in gewisser Weise ein Arbeiten mit Klischees. Wir haben uns während der Konzeption viel mit den Schweizer Künstlern und ihren Positionen auseinandergesetzt. ’Präzision und Wahnsinn’ waren für uns die beiden Pole, mit denen man diese Art von Kunst am besten zeigen kann - immer auch mit dem Hintersinn, solche Kategorien zu hinterfragen. Und im Titel schwingt auch etwas Humor mit - der übrigens ein bedeutendes Element der Schweizer Kunst ist und vielleicht im Ausland unterschätzt wird.” "
Eine Expedition in die Schweizer Seele mitten in der norddeutschen Autostadt - der aus der Schweiz gekommene Museumsdirektor hat es möglich gemacht. Und er hat Wort gehalten: "Swiss Made II" ist kein Aufguss der ersten Folge, sondern ein eigenständiger Teil des Gesamtprojekts. Und wenn Brüderlin sagt, "Swiss Made II" sei "schöner, intensiver und härter" geworden als die Ausgabe 1, so handelt es sich um keinen fragwürdigen Reklameslogan. Erstaunlich ist, dass im Medium der Kunst nach einer Art Nationalcharakter geforscht wird, nach einer Mentalitäts- und Identitätsgeschichte – in einer Zeit, wo viele doch vom "global village" sprechen und von einer Angleichung der Kulturen. Brüderlin:
""Die Grundthese war, dass alles ineinander verschwimmt zu einem kulturellen Einheitsbrei. Wir aber sind der Meinung, dass das Umgekehrte stattfindet und man gerade jetzt beginnt, über kulturelle Differenzen nachzudenken, über regionale, nationale und noch größere Einheiten. Das betrifft auch die Kunst, und dem kamen wir speziell in der kleinen Alpenrepublik auf die Spur. Bei größeren Einheiten ist diese Spurensuche schwieriger. Oder können Sie sich eine Ausstellung über deutsche Kunst unter dem Titel ’Präzision und Wahnsinn’ vorstellen?”"