Ein Zuwanderer

Von Heinz-Peter Katlewski · 26.11.2010
Bereits in den Neunzigerjahren war die Jüdische Landesgemeinde Thüringen erheblich gewachsen. Aber erst jetzt, 72 Jahre, nachdem der letzte Rabbiner vor den Nazis geflohen ist, hat in Erfurt wieder ein Rabbiner sein Amt angetreten: Konstantin Pal.
VIA SCHALOM, die Kulturinitiative der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen hat eingeladen zu einem Salon ins Gemeindezentrum in der Erfurter Innenstadt. Anlass ist das zehnjährige Bestehen dieser Gruppe. Ihre Hausband, das Mizrach-Quartett, eröffnet mit jüdischen Volksliedern. Dann wird Bilanz gezogen, auch zur Situation der Gemeinde.

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs haben sich - wie überall in Deutschland - die Mitgliederzahlen durch die Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion vervielfacht. Auch in Thüringen. Rund 850 zählen sie hier. Die weitaus meisten leben in Erfurt, rund 180 in Jena und ein paar Dutzend in Nordhausen. Mit neuen Mitgliedern ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Wolfgang Nossen, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen:

"Im Augenblick ist die Zuwanderung wirklich beinahe auf Null, denn wenn hier 42 Personen eingewandert sind in diesem Jahr, dann ist das für mich Null. Wir sind an drei Punkten konzentriert, und jeder möchte welche haben. Jeder möchte expandieren. Und das sieht im Augenblick nicht so gut aus."

Viel wahrscheinlicher ist, das die Gemeinde an allen drei Standorten wieder schrumpft. Rund 50 Prozent der Mitglieder sind längst im Rentenalter und die Jungen neigen dazu, zum Studium in den Westen zu gehen, in die alten Bundesländer. Wolfgang Nossen hat seine Vorstandsmitglieder trotzdem überzeugen können, in die Zukunft zu investieren:

"Ich hoffe, dass jetzt, seit 1. Oktober haben wir einen Rabbiner eingestellt, dass er die Menschen anziehen und motivieren wird. Wir haben einen minimalen Anteil an Schulpflichtigen - diese jungen Leute haben ja Eltern, und die Eltern sind noch keine Senioren. Diese Schicht, so 40,50, die kommen nicht. Und ich hoffe, dass er mit den Leuten Kontakt bekommt, die dazu führen, dass die Leute sich mehr an die Gemeinde und an die Synagoge angezogen fühlen werden."

1938 ist der letzte angestellte Rabbiner aus Erfurt geflohen. Der neue dagegen ist ein Zuwanderer: Konstantin Pal. Er ist 31 Jahre alt und kommt ursprünglich aus Russland. Russisch, die Sprache der meisten Gemeindemitglieder ist auch seine Muttersprache. Deutsch spricht er vielleicht trotzdem noch etwas besser, denn sein Abitur erwarb er in Berlin an der Jüdischen Oberschule, dem Gymnasium der Jüdischen Gemeinde.
Rabbiner Konstantin Pal: "Ich bin in Moskau geboren. Meine Familie ist vor zwanzig Jahren nach Deutschland eingewandert, vor einundzwanzig Jahren inzwischen, und ich bin hier in Berlin aufgewachsen. Den Beruf des Rabbiners, den habe ich mir schon während der Schulzeit überlegt. Ich wollte erst Lehrer werden, dann habe ich eine Zeit lang Chemie studiert, aber dann habe ich gedacht, ich gehe doch zurück zum Lehrerberuf ..."

... denn der Beruf des Rabbiners, sagt Konstantin Pal, sei in erster Linie der eines Lehrers.
Chemie wäre vielleicht leichter gewesen, denn der Weg zum Rabbiner, den das Abraham-Geiger-Kolleg, das Rabbinerseminar an der Universität Potsdam vermittelt, ist zeitaufwändig. Neben den Jüdischen Studien, den dafür notwendigen Sprachen Hebräisch und Aramäisch, der Religionswissenschaft und einem frei zu wählenden Nebenfach findet parallel die theoretisch- und praktisch-rabbinische Ausbildung statt: Bereits nach dem ersten Studienjahr müssen die Rabbinerstudenten monatlich Praktika in Jüdischen Gemeinden absolvieren, Gottesdienste halten, Religionsunterricht erteilen und sich den Sorgen der Gemeindemitglieder stellen.

Rabbiner Konstantin Pal: "Ich würd’ sagen, ein Rabbiner kann Kontinuität bringen in eine Gemeinde und langsam die Gemeinde zur Gemeinde machen: Dienstleistungen anbieten, die davor nicht angeboten wurden. Zum Beispiel: Samstagmorgengottesdienste. Gab’s hier nie. Jetzt führe ich die halt alle zwei Wochen durch.

Ich werde versuchen, einen Synagogenchor aufzubauen. Ich werde versuchen, Kindergottesdienste hier einzuführen. Aber ich kann das alles nicht sofort machen. Ich muss dafür erst die Leute kennen lernen. Ich muss einfach mal wissen, was die Gemeindemitglieder wollen. Und das geht nicht von heute auf morgen."

Immerhin gibt es in Erfurt seit 1952 eine Neue Synagoge. Sie wurde auf dem Gelände der alten, 1938 zerstörten errichtet. Von außen ein eher unscheinbares Haus, das sich nur als Komplex von den angrenzenden Häusern am Juri-Gagarin-Ring abhebt. Auffällig, aber optisch nicht spektakulär ist allein der Eingang zum Betraum mit seinen vier schlichten Säulen aus Zementquadern, den drei Kassettentüren, der hebräischen Inschrift über dem Tor mit dem Magen David, dem Davidsstern.

Hier in der Synagoge, aber auch 500 m weiter in dem unauffälligen Gemeindezentrum herrschte bislang schon reges Treiben. Die Kulturinitiative VIA SCHALOM ist nur ein Beispiel. Wolfgang Nossen der Vorsitzende der Thüringischen Landesgemeinde:

"Dort findet einmal der Religionsunterricht statt, dort gibt es Nachhilfe für Schüler in Englisch, dort gibt es Musikunterricht, dort gibt’s einen Schachclub, gibt’s ein Computer-Kabinett. Wir haben einen Seniorenchor, wir haben 'ne Seniorentheatergruppe, wir haben einen Hilfsdienst eingerichtet, die anderen Leuten behilflich sind mit Behördengängen - und - ja, eine Truppe, das nennt sich Bikur Polim, die besuchen Kranke."

Darauf kann und muss Konstantin Pal aufbauen. Nach und nach wird er eigene Akzente setzen und das religiöse Fundament stärken. Jedenfalls scheint der junge Rabbiner aus Berlin bereit zu sein, sich auf das beschauliche Thüringen einzulassen - und auch auf Erfurt. Beim jüdischen Salon in der Thüringer Landeshauptstadt empfiehlt er sich mit Komplimenten an die Stadt:

Rabbiner Konstantin Pal: "Ich bin begeistert von der Freundlichkeit der Leute - auch in den Behörden. Und Erfurt gefällt mir bislang sehr gut. Es ist wirklich 'ne schöne Stadt. Da freue ich mich, in so 'ner Stadt zu leben."