Ein Zeitalter der Entscheidungen
Amerikas imperiale Überanstrengung hat ernste, unausweichliche Folgen, weltweit, am meisten aber für Europa. Ein Zeitalter der Entscheidung ist angebrochen. In einer Welt ohne Weltordnung wird die Europäische Union zu den Führungsmächten gehören oder Europa wird nur noch ein geografischer Begriff sein: Ein Drittes gibt es nicht. Zu viel Geschichte, zu wenig Zukunft.
In der Krise liegt immer auch die Chance – denn es sind die großen Krisen wie 1945, die Abgründe öffnen und den Ernstfall heraufbeschwören, oder wie 1990, die die Menschen auch zu ihren besten Leistungen befähigen und, in einem Wort, die Geschichte zum Schlechteren wenden oder zum Besseren. Es sind die Zeiten der Krise, wenn sich die Dinge zu Katastrophe oder Rettung verdichten. In dieser Lage befindet sich heute Europa, genauer gesagt die Europäische Union. Gewogen und zu leicht befunden? Das biblische Wort kann durchaus das Schicksal Europas und der atlantischen Welt beschreiben, wie in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als die Demokratien starben oder doch Größe, Vision und Handlungsfähigkeit verloren.
Die Europäische Union heute leidet an sich selbst, ihrer hemmungslosen Regulierungswut, ihrer Ferne von den demokratischen Grundlagen, ihrer Gesichtslosigkeit, ihrem fragmentarischen Charakter, ihren aufschiebenden Formelkompromissen, ihren taktischen Kombinationen. Aber – und das muss Mut machen – dieser "Staatenverbund neuer Art", wie das Bundesverfassungsgericht sich aus der Verlegenheit einer Definition zog, dieser Staatenverbund hat doch gute Gene.
Es gibt zwei Möglichkeiten, wie diese Krise ausgeht. Deutschland, zusammen mit Frankreich, Benelux, Österreich und Finnland, entwickelt die Europäische Union aus einem Staatenverbund zu einem de facto Bundesstaat, in dem die Maastrichter Verträge von 1991 eine Art ökonomisches Regierungssystem bilden, weit hineinwirkend in Steuer-, Fiskal- und Sozialpolitik der Staaten, und wo eine Transfer-Union von den Reichen zu den Armen nicht mehr undenkbar ist.
Oder die Völker wehren sich gegen das, was sie – mehr zu Unrecht als zu Recht - als Kolonialisierung durch Brüssel, Maastricht und die Deutschen empfinden. Dann stellt sich aber auch bald die Frage, ob und inwieweit Europas wohlfahrtsstaatliche Demokratien überhaupt noch im Stande sind zu innerem Gleichgewicht und starken Korrekturen ihres Funktionsmodus. Die abschließende Beurteilung ist bisher offen. Selbstblockade der Demokratien: Das wäre der Ernstfall für das Projekt Europa – und deshalb muss alles getan werden, ihn zu verhindern, lange bevor er eintritt. Das allerdings erfordert Herz und Verstand von der Politik, emotionale Intelligenz, Führungskraft und Kommunikationsfähigkeiten, die bisher leider knapp im Angebot waren und weiterhin sind.
"Challenge and Response" – so pointierte der englische Universalhistoriker Arnold Toynbee das Bewegungsgesetz der Geschichte. Herausforderung und Antwort, das gilt auch für die EU, und die Vergangenheit ist nur Prolog.
In dieser Lage wird Amerika Europa nicht retten. Es kann sich selbst kaum retten. Und doch ist Europa nicht verloren. Aber die EU muss ihre alten Stärken weiter entwickeln und neue Kräfte entfalten, namentlich im Bereich Energie, militärische Sicherheit, Research and Development, Bildung und Erziehung - eingeschlossen natürlich Geisteswissenschaften und Religion und die immerwährende Frage nach dem, was an Europa europäisch ist. Die Europäer, wenn sie auch noch in kommenden Generationen sie selbst sein wollen, nämlich Europäer, müssen alles tun, der Vergreisung ihrer Gesellschaften zu wehren und gleichzeitig hinreichende Homogenität und Identität zu bewahren. Alles das wird schwierig und ist großenteils in den bisher geltenden Koordinaten nicht vorgesehen. Aber dafür gilt die alte Frage: Wer, wenn nicht wir? Und wann, wenn nicht jetzt?
Michael Stürmer, Historiker und Autor. Der 1938 in Kassel geborene Michael Stürmer studierte in London, Berlin und Marburg, wo er 1965 promovierte. Nach seiner Habilitation wurde er 1973 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Verfassungsgeschichte; außerdem lehrte er u. a. an der Harvard University, in Princeton und der Pariser Sorbonne. 1984 wurde Stürmer in den Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung berufen und zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Forschungsbeirates des Center for European Studies in Brüssel. Zehn Jahre lang war er überdies Direktor der StiftungWissenschaft und Politik. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: "Das ruhelose Reich", "Dissonanzen des Fortschritts", "Bismarck - die Grenzen der Politik" und zuletzt "Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte". Im sogenannten "Historikerstreit" entwickelte Stürmer die von Habermas und Broszat bestrittene These von der Identität stiftenden Funktion der Geschichte. Stürmer, lange Kolumnist für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", schreibt jetzt für die "Welt" und die "Welt am Sonntag".
Die Europäische Union heute leidet an sich selbst, ihrer hemmungslosen Regulierungswut, ihrer Ferne von den demokratischen Grundlagen, ihrer Gesichtslosigkeit, ihrem fragmentarischen Charakter, ihren aufschiebenden Formelkompromissen, ihren taktischen Kombinationen. Aber – und das muss Mut machen – dieser "Staatenverbund neuer Art", wie das Bundesverfassungsgericht sich aus der Verlegenheit einer Definition zog, dieser Staatenverbund hat doch gute Gene.
Es gibt zwei Möglichkeiten, wie diese Krise ausgeht. Deutschland, zusammen mit Frankreich, Benelux, Österreich und Finnland, entwickelt die Europäische Union aus einem Staatenverbund zu einem de facto Bundesstaat, in dem die Maastrichter Verträge von 1991 eine Art ökonomisches Regierungssystem bilden, weit hineinwirkend in Steuer-, Fiskal- und Sozialpolitik der Staaten, und wo eine Transfer-Union von den Reichen zu den Armen nicht mehr undenkbar ist.
Oder die Völker wehren sich gegen das, was sie – mehr zu Unrecht als zu Recht - als Kolonialisierung durch Brüssel, Maastricht und die Deutschen empfinden. Dann stellt sich aber auch bald die Frage, ob und inwieweit Europas wohlfahrtsstaatliche Demokratien überhaupt noch im Stande sind zu innerem Gleichgewicht und starken Korrekturen ihres Funktionsmodus. Die abschließende Beurteilung ist bisher offen. Selbstblockade der Demokratien: Das wäre der Ernstfall für das Projekt Europa – und deshalb muss alles getan werden, ihn zu verhindern, lange bevor er eintritt. Das allerdings erfordert Herz und Verstand von der Politik, emotionale Intelligenz, Führungskraft und Kommunikationsfähigkeiten, die bisher leider knapp im Angebot waren und weiterhin sind.
"Challenge and Response" – so pointierte der englische Universalhistoriker Arnold Toynbee das Bewegungsgesetz der Geschichte. Herausforderung und Antwort, das gilt auch für die EU, und die Vergangenheit ist nur Prolog.
In dieser Lage wird Amerika Europa nicht retten. Es kann sich selbst kaum retten. Und doch ist Europa nicht verloren. Aber die EU muss ihre alten Stärken weiter entwickeln und neue Kräfte entfalten, namentlich im Bereich Energie, militärische Sicherheit, Research and Development, Bildung und Erziehung - eingeschlossen natürlich Geisteswissenschaften und Religion und die immerwährende Frage nach dem, was an Europa europäisch ist. Die Europäer, wenn sie auch noch in kommenden Generationen sie selbst sein wollen, nämlich Europäer, müssen alles tun, der Vergreisung ihrer Gesellschaften zu wehren und gleichzeitig hinreichende Homogenität und Identität zu bewahren. Alles das wird schwierig und ist großenteils in den bisher geltenden Koordinaten nicht vorgesehen. Aber dafür gilt die alte Frage: Wer, wenn nicht wir? Und wann, wenn nicht jetzt?
Michael Stürmer, Historiker und Autor. Der 1938 in Kassel geborene Michael Stürmer studierte in London, Berlin und Marburg, wo er 1965 promovierte. Nach seiner Habilitation wurde er 1973 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Sozial- und Verfassungsgeschichte; außerdem lehrte er u. a. an der Harvard University, in Princeton und der Pariser Sorbonne. 1984 wurde Stürmer in den Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung berufen und zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Forschungsbeirates des Center for European Studies in Brüssel. Zehn Jahre lang war er überdies Direktor der StiftungWissenschaft und Politik. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: "Das ruhelose Reich", "Dissonanzen des Fortschritts", "Bismarck - die Grenzen der Politik" und zuletzt "Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte". Im sogenannten "Historikerstreit" entwickelte Stürmer die von Habermas und Broszat bestrittene These von der Identität stiftenden Funktion der Geschichte. Stürmer, lange Kolumnist für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", schreibt jetzt für die "Welt" und die "Welt am Sonntag".

Michael Stürmer© Deutschlandradio / Bettina Straub