Ein wunderbares und grausames Buch

12.09.2012
Das Unheil beginnt mit einem Brief. Als Filip ihn liest, ist er fassungslos. Er hat einen Bruder - Robert. Die Eltern verkauften ihn als Baby für ein Diamantencollier an ein kinderloses Paar.
Eleganter und unaufwendiger als David Albahari zieht kaum jemand dem Leser den Boden unter den Füßen weg. Die immer kürzer werdenden Bücher des seit 1994 in Kanada lebenden Serben sind höllische Achterbahnfahrten der Identität, in denen sich jede Kehre lediglich als Vorspiel einer weiteren erweist, bis am Ende nur das Schweigen bleibt.

So kunstvoll wie gedankenreich fängt Albahari in seinem neuen Roman "Der Bruder" dieses Schweigen und die Gründe dafür ein. Das Unheil beginnt mit einem Brief – einem Irrläufer, vermutet der Schriftsteller Filip. Wer schreibt in Zeiten des Internets, der von ihm gefürchteten und gemiedenen Parallelwelt, schon Briefe.

Voll böser Vorahnungen versucht er erfolglos, den Brief nicht anzunehmen. Dann liest er ihn fassungslos: Sein Bruder Robert kündigt an, ihn in Zemun bei Belgrad zu besuchen.

Filip hat keinen Bruder. Er ist allein, Eltern und Schwester verlor er früh durch Unfälle. Davon hatte er aufrichtig in seinem ersten Buch "Das Leben eines Verlierers" erzählt, was den Verlust in Gewinn verwandelte, seine Schriftstellerkarriere begründete und ihn vom Alkohol loskommen ließ.

Der plötzlich auftauchende Bruder droht, ihn zum Lügner zu stempeln. Das Leben des nervösen und labilen Filip, aufgebaut auf einem Buch, also einer Erzählung über sich, gerät ins Wanken.

Filip schildert das Eintreffen des Briefes und in einem zweiten Kapitel das katastrophal verlaufende Treffen mit dem Fremden zunehmend verstört einem Schriftstellerkollegen, der die Erzählung im Konjunktiv wiedergibt und nur selten kommentiert.

Der Roman erzählt also von einer dreifachen Spiegelung: Filips Leben, so wie er es in "Das Leben eines Verlierers" geschildert hatte, geht durch die Erzählung seines Bruders in die Brüche, wovon der Leser durch die Stimme von Filips Schriftstellerkollegen erfährt. Ohne Spiegelung, ohne Erzähldistanz geht es also nicht, zugleich ist sie hoch problematisch: Worte lassen überleben, bieten aber keine Sicherheit.

Denn was Robert Filip im "Brioni" erzählt – die einstige Spelunke, in der sich Filip früher täglich betrank, ist zu einem Nobellokal geworden –, kann dieser nicht glauben: Die Eltern verkauften Robert, als sie 1968 unter der Repression in Jugoslawien litten, für ein Diamantencollier an ein kinderloses, bald nach Argentinien auswanderndes Paar. Das Diamantencollier verwahrt Filip achtlos in einer Keksdose.

Ihm wird schwindelig: Sollten seine Eltern so herzlos gewesen sein? Robert und Filip weinen und umarmen sich, was die offenbar homophoben Restaurantgäste aggressiv stimmt. Dann zweifelt Filip: Ist Robert wirklich sein Bruder? Ein Brief des Vaters scheint es zu beweisen.

Robert legt zwei Bücher auf den Tisch, dicker als alles, was Filip bisher geschrieben hat. Voller Neid wünscht ihm Filip den Tod. Der Wunsch erfüllt sich nach einem Geschlechts- und Identitätswechsel Roberts auf grausame Weise.

Der Roman ist so schmal wie abgründig. Mit allen Mitteln der Kunst preist er die Literatur gewitzt als Überlebenskunst und warnt vor ihrer Bodenlosigkeit. Die Sinnlosigkeit, das Nichts lauert nämlich hinter jedem Satz, dem nicht mehr zu glauben ist. Ein wunderbares, ein grausames Buch des wohl größten lebenden serbischen Schriftstellers.

Besprochen von Jörg Plath

David Albahari: Der Bruder
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2012
170 Seiten, 19,95 Euro