Ein wüstes Vergnügen

Von Frieder Reininghaus |
Der Stoff der Oper "Platée" von Jean-Philippe Rameau geht auf eine spätantike Überlieferung zurück. Die liebeshungrige Sumpfnymphe Platea will sich mit dem höchsten Gott einlassen, der nicht als Stier oder Schwan erscheint, sondern als Esel und Eule.
Mit der systematischen Wiedererschließung der älteren Musikgeschichte gelangten im 20. Jahrhundert auch etliche Werke von Rameau wieder in die Theater. Reaktiviert wurden neben "Hyppolite et Aricie", "Castor et Pollux" und den teils "naturalistisch" durchwehten "Boréades" auch "Platée". Seit der Wiederentdeckung dieses als Ballet-boufon bezeichneten Werks beim Festival von Aix-en-Provence in den 50er-Jahren hat "Platée" die Fantasie der Regisseure befeuert – wohl auch, weil das Stück selbst schon so exzessiv mit den Zutaten eines hemmungslosen Theatervergnügens prunkt.

1745 für die Hochzeit des Dauphins mit der spanischen Infantin geschrieben, missfiel das Stück im Théâtre de la Grand Ecurie allerdings zunächst. Der Plot der Oper basiert auf einer spätantiken Überlieferung aus der Zeit um 170 n.Chr. und präsentiert einen wüsten Spaß, den sich die olympischen Götter mit der liebeshungrigen Sumpfnymphe Platea einst gemacht haben sollen: eine "hässliche Kröte", die sich selbst für unwiderstehlich hält, soll und will sich auf eine Liaison mit dem Allerhöchsten einlassen. Die Royals fanden das wohl degoutant, da die zur Vermählung herangeschaffte spanische Prinzessin alles andere als eine Schönheit war. Die grotesk virtuosen Arien von La Folie (Narretei) und die Imitationen von Tierstimmen, vornan Kuckuck und Esel, lassen auch heute noch eher an eine Karnevalsfarce denken als an ein Huldigungsspektakel für den Versailler Hof von Louis XV.

Die ersten Aufführungen in Paris neun Jahre später wurden dann allerdings stolze Erfolge für Jean-Philippe Rameau, der in 1683 Dijon geboren wurde und 1764 in Paris starb. Für Erfolgsrezepte heute stehen René Jacobs, der wie mit vielen anderen Spezialensembles für historistische Musizierpraxis auch mit der Akademie für Alte Musik Berlin zu einem vitalen, robusten und doch dynamisch fein abgestuften Klangresultat gelangt, sowie der Regisseur und Ausstatter Nigel Lowery. Diesen beiden Routiniers, deren Arbeit freilich auch dieses Mal wieder auf eine besondere Art der Animation zielte, war von Pierre Audi, dem Direktor der Niederländischen Nationaloper, die neue Produktion in der Amsterdamer Stadsschouwburg anvertraut worden.

Auf der Bühne des nach französischen Vorbildern erbauten klassizistischen Stadttheaters warten links und rechts des trostlosen Hinterhofs Klotüren und typisch französisch anmutende Urinoirs. Der Charme der 1970er-Jahre setzt sich in den Fensterreihen des Wohnblocks fort, von dem die untersten vier Etagen zu sehen sind. Im Hauswartskabuff und im ganzen trostlosen Souterrain herrscht die paarungswillige Platée. Colin Lee verleiht der dezidiert geschmacklos gekleideten stämmigen Herrin dieser feuchten Zone eine kräftige klare Tenorstimme. Auch bleibt er dem in der Rolle angelegten Komödiantischen in der Übertragung aus mythischer Vorzeit ins Kleinbürgermilieu des späten 20. Jahrhunderts nichts schuldig.

Gelegentlich deutet ein im Stile Watteaus oder Claude Loraines gestalteter Vorhang den Rokoko-Hintergrund der von Adrien-Joseph Le Valois d'Orville in Worte gefassten Intrige an, mit der Juno davon überzeugt werden soll, dass ihr Gatte Jupiter im Grunde doch ein recht treuer Ehemann sei. Cithéron (bei Pausanias eigentlich der König von Plataiai) überbringt Platée die Nachricht, dass der höchste Gott höchstpersönlich sie begehre.

Mit von der Partie ist auch der Götterbote oder Botengott Merkur, den der Ausstatter und Regisseur Nigel Lowery in eine Uniform des Paketzustellers UPS stecken ließ. Den Göttervater führt Marcos Fink treffsicher als gut gebräunten Frührentner und Aufsteiger aus dem deklassierten Milieu vor, der zu leben versteht. Er bewohnt eines jener brutal geschmacklosen Einfamilienhäuser, wie sie in den 70er-Jahre an die Ränder belgischer oder holländischer Städte gebaut wurden.

Hübsch auch die Tiergestalten, in denen sich der Obergott zunächst der nun feierlich in ein Brautkleid gepellten Platée zeigt: nicht als Stier oder Schwan, sondern als Esel und Eule (René Jacobs lässt das I-A der Bläser und die Vogelstimmenimitation überdeutlich hervorheben). Als Vierbeiner wird die gut dressierte Hermice hinterm Panoramafenster zum Einsatz gebracht, als Eule zeigt Lowery nur zwei glühende Augen hinter der Scheibe.

Ein Priester erscheint zur grotesken Trauungszeremonie: Platée wird zunehmend ungeduldig, weil Jupiter Fink mit jovialem Padrone-Gebaren und im Wechselspiel mit dem falschen Geistlichen die Frage nach den entscheidenden Ja-Worten immer und immer wieder verzögert. Für die Gestaltung dieser Kleinbürgerhochzeit als Kette von Peinlichkeiten hat der Regisseur soziologische Feldforschung mit Fernseherfahrung gepaart. La Folia legt eine Wahnsinnsarie ein – Inga Kalna erhält exzessiv Gelegenheit, den hypervirtuosen Koloraturen-Wirbel vorzuführen.

Die Braut flüchtet sich derweil in Träume, deren per Video-Einspielung kredenzten Bilder der Regenbogenpresse von königlichen Hochzeiten unserer Tage entstammen. Dann schlüpft Juno in die Soutane des Zeremonienmeisters, lüftet Platées Schleier, wird der Versuchsanordnung gewahr, bricht in helles Gelächter aus und entschwindet mit Jupiter in die olympischen Jagdgründe. Zu erwarten ist, so resümiert der Chor, dass sie nun – zumindest für einige Zeit – ihren Mann nicht mehr mit ihrer Eifersucht quält. Die Qual hat die Nymphe, die wieder in den Sumpf, aus dem sie entkommen wollte, zurückgestoßen wird.

Die neue Amsterdamer Produktion sprüht vor Witz und absolviert die Übertragung mit Verve. Die kurzweilige, von Amir Hosseinpour mit manchmal allzu zackigen und zappeligen Balletteinlagen versorgte Produktion stellt neuerlich die Überlebensfähigkeit einer Kunstgattung unter Beweis, die lange in Dornröschenschlaf verfallen war, aber seit einigen Jahren und mit wachsendem Erfolg wieder zu Theaterleben erweckt wird.

Link bei dradio.de:
Ein neues Feuchtgebiet für die Hoheit der Sümpfe
Rameaus "Platée" an der Amsterdamer Stadsschouwburg (DLF)



Stadsschouburg Amsterdam "Platée"
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