"Ein wilder Apfelbaum will ich werden"

Von Uwe Stolzmann · 11.05.2005
Zum 100. Geburtstag des frühvollendeten Budapester Dichters Attila József erscheint eine zweisprachige Ausgabe mit einem Querschnitt seines Werks. Die Gedichte werden durch Essays und Fotos ergänzt. Sein mit 16 niedergeschriebenes Lebensmotto "Ein wilder Apfelbaum will ich werden!" betitelt den Band.
"Ich hab kein Land. Keinen Gott. / Keinen Vater. Mutter nicht. / Keine Wiege. Grabtuch keins." Diese Verse schreibt Attila József aus Budapest kurz vor seinem 20. Geburtstag. "Reinen Herzens brech ich ein. / Morde gar, so muß es sein." Das ist mehr als ein Gedicht. Solche Art Lyrik versteht man im Ungarn des Jahres 1925 als Kriegserklärung an das autoritäre System, und prompt erhält der Poet eine Anklage wegen "Gotteslästerung". Die erste ...

József, Attila, geboren 1905 als Sohn eines Seifensieders und einer Waschfrau: Der Name des Hunnenkönigs sollte dem Lebenslauf des Jungen Schwung verleihen, doch es wird eine tragische Biographie. Als Attila drei ist, verlässt der Vater die Familie; elf Jahre später stirbt die Mutter an Krebs. Attila arbeitet hart, er stiehlt und bettelt, und dann macht er – ein Hochbegabter – sein Abitur. Später beklagt er sich: "Man hielt mich für ein Wunderkind, wobei ich nur Waise war." Er studiert, will Lehrer werden, doch die Professoren werfen ihn hinaus. Nun wird er Dichter im "Hauptberuf" und schafft ein Werk ohnegleichen: mal anrührend zart und spielerisch, mal pure soziale Anklage, Sprengstoff in Versen. "Nicht ich bin es, der schreit, die Erde dröhnt", vermerkt er.

1930 wird József Mitglied der illegalen KP. Nun predigt er die Revolution, "Ein Hoch den Sowjets, den Arbeiterräten!", aber nur wenige Jahre später verstößt auch die Partei den Rebellen.

Auf ewig ist dieser Attila József ein Außenseiter, verfemt, "ein zum Ungarsein Verbannter". Er leidet an seinem Land, er leidet an dieser Zeit, am Triumph des Faschismus. Und der Hunger bleibt sein Begleiter. Die Welt scheint voller Dämonen zu sein. Attila József hat Depressionen, dann auch Schübe von Schizophrenie. "Ich lausche den Nachrichten, die eine Stimme aus meiner Tiefe bringt", notiert er. Am Ende sind die Dämonen stärker als der Dichter. Im Winter 1937, mit eben 32 Jahren, wirft er sich bei einem kleinen Ort am Balaton vor einen Güterzug.

In der Ära des Sozialismus wird der "ungarische Majakowski" als angeblich linientreuer Marxist vereinnahmt. Aber längst gilt der Sprachkünstler als Klassiker der Moderne. Im heutigen Ungarn ist József – der Sänger der Liebe und Herold der Heimat – eine Vaterfigur, fast ein Heiliger.

In Deutschland – Ost und West - wurde der melancholische Budapester recht spät entdeckt, erstmals vor 1960 durch Stephan Hermlin und Hans Magnus Enzensberger. Franz Fühmann, Peter Hacks und Ernst Jandl schufen Nachdichtungen auf der Basis von Interlinearübersetzungen. Eine angemessene Würdigung stand jedoch aus.

Zum 100. Geburtstag des Frühvollendeten hat der Zürcher Ammann-Verlag die Lücke nun geschlossen: mit einer aufwendigen zweisprachigen Ausgabe, 500 Seiten im Großformat, samt Fotos und Essays. Der Band, ein Querschnitt des Werkes, ist ein erstmaliger Versuch, die Gedichte direkt aus dem Original zu übertragen. Ein verdienstvolles Projekt, nur, leider: an die erwähnten Nachdichtungen namhafter Lyriker reichen die deutschen Textfassungen nicht heran. Spröde klingt hier mancher Vers, gekünstelt, wenig elegant.

Dennoch: Wer in dem liebevoll gestalteten Großband blättert, fühlt sich bald wie verwandelt. Ein Refugium ist diese Poesie, Zuflucht in lauter Zeit. Oder eine Art Picknickkorb, randvoll mit Delikatessen. Schon der Dichter hat sein Werk so verstanden. "Ein wilder Apfelbaum will ich werden!", schrieb József mit 16, "Ein weitverzweigter Apfelbaum; / Alle Hungernden äßen von meinem / Riesigen Leib, alle Kinder / Säßen unter meinen Zweigen."

Attila József: Ein wilder Apfelbaum will ich werden.
Gedichte 1916 bis 1937. Aus dem Ungarischen übersetzt, ausgewählt und herausgegeben von Daniel Muth.
Ammann Verlag, Zürich 2005. 504 S., 29,90 EURO.