Ein weltgewandter Pragmatiker

20.12.2010
Er war Finanzminister der USA, später wurde er zum Direktor des Jüdischen Museums Berlin berufen. Der mitten in der Weimarer Republik im Brandenburgischen Oranienburg geborene W. Michael Blumentahl hat eine erstaunliche Karriere durchlaufen. Im Propyläen-Verlag sind jetzt seine Lebenserinnerungen erschienen.
Der kleine Werner trug noch kurze Hosen und beschäftigte sich mit Murmeln und seinem geliebten Roller. Da sah er den Menschen, von dem er heute meint, er sei der Einzige gewesen, der ihn jemals hat töten wollen: Adolf Hitler fuhr in seinem offenen Mercedes über den Kurfürstendamm, und Werner Michael Blumenthal stand da und hatte das Gefühl, "er würde mich anschauen". Im Buch steht die kleine Szene auf Seite 53. Nach weiteren 50 Seiten, auf denen der Autor die Terrorregimes des 20. Jahrhunderts analysiert und den NS-Staat erklärt, hat es die Blumenthalfamilie nach Shanghai verschlagen, damals letzte Zuflucht für alle bedrängten Juden Deutschlands, die 1938, also im letzten Moment, ihr Heil in der Flucht suchten, ohne Visa, Einreiseerlaubnisse und größere Summen Geldes.

"Die ganze Welt war verschlossen. Die ganze Welt hatte große Sympathien für uns, aber mit Sympathien allein war's nicht getan."

Die Lebenserinnerungen des Direktors des Jüdischen Museums Berlin sind eine Geschichte des 20. Jahrhunderts. Blumenthals Blick auf sein Leben ist geprägt vom Wissen des alten Mannes. Er vermittelt seinen Leserinnen und Lesern, dass er weiß, wie dieses Jahrhundert verlaufen ist und wo er Quellen zu dem findet, was er dann doch nicht persönlich erlebt hat. Als die Blumenthals in Shanghai Unterschlupf fanden, waren sämtliche internationale Konferenzen zur Lösung der drängenden Flüchtlingsfragen gescheitert. Heute – 72 Jahre später – weiß Blumenthal:

"In den USA – muss ich zur Schande meines Landes gestehen – dass die damals bestehenden Quoten für in Deutschland Geborene nie ausgefüllt wurden. Es war noch ziemlich große Arbeitslosigkeit in USA, der Antisemitismus war noch fühlbar. Es gab im Kongress und im State Department viele Leute, die das einfach nicht sehen wollten und die das untergraben haben."

Werner Michael stürzte sich mit Eifer in das Abenteuer Shanghai, das einem pubertierenden Knaben manches zu bieten hatte.

"Draußen lag das übervölkerte Shanghai mit seiner bunten Vielfalt von Bildern, Klängen und Gerüchen. Es war chaotisch, manchmal gefährlich, voller Versuchungen und immer aufregend. Das Leben spielte sich auf den Straßen ab. Hier konnte man alles kaufen und verkaufen, die verschiedensten Gerichte kosten, sich die Zukunft voraussagen lassen, von Taschendieben bestohlen werden, sich rasieren, Krankheiten behandeln, Zähne ziehen und die Ohren säubern lassen. Hier auf den Straßen befriedigten Obdachlose und Arme ihre elementarsten Bedürfnisse, wurden Babys geboren und starben die Bettelarmen."

Shanghai war eine Schule fürs Leben. Die Existenz am Rande des Verhungerns und Verzweifelns prägte den neugierigen Flüchtling. Auf seinen weiteren Lebensstationen wird er stets daran zurückdenken. Es gelang dem Staatenlosen, nach dem Zweiten Weltkrieg Aufnahme in den USA zu finden. Und hier wendete sich alles zum Besten:

"So kam es in Amerika, – damals und immer noch – dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dass ich vierzehn Jahre nach meiner Ankunft in Shanghai als staatenloser Flüchtling Deputy Assistant Secretary of State war, und zwei Jahre später zum Botschafter ernannt wurde."

Michael Blumenthal hat seine Karriere als Tellerwäscher begonnen. Der Job war eine Beschäftigung neben dem Studium der Wirtschaftswissenschaften und verwandter Gebiete, die den flexiblen Aufsteiger von der akademischen Laufbahn ins Management internationaler Konzerne, über Minister-, Botschafter- und Delegationsleiterposten zurück an die Universität und schließlich wieder ins Management und am Ende nach Berlin führte. Ein weltgewandter Pragmatiker gibt sich zu erkennen, der die Großen der Politik aus nächster Nähe erlebte und sich nicht scheut, ihre Unzulänglichkeiten und Fehler klar zu benennen.

Blumenthal neigt allerdings zur Abschweifung. Wo man Autobiografisches erwartet, bekommt man Weltpolitik. Seitdem Blumenthal das Jüdische Museum Berlin leitet, hat er wieder engen Kontakt zu deutschen Belangen. Da hilft seine Lebenserfahrung:

"Solange eine Gruppe, eine Minderheit, etwas Besonderes, etwas Anderes ist, ist das nicht normal, meiner Meinung nach, und auch gefährlich für diese Minderheit. Und das ist der Grund, warum ich am Ende dieses Buches etwas über dieses Thema sage, und die Hoffnung ausspreche, dass dieses Problem, das sich schon viel verbessert hat, selbst im Laufe der letzten zehn, fünfzehn Jahren, dass da noch einiges zu tun ist."

Besprochen von Jens Brüning

W. Michael Blumenthal: In achtzig Jahren um die Welt – Mein Leben
Übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt
Propyläen-Verlag, Berlin 2010
542 Seiten, 24,95 Euro