Ein Weltbürger

Von Tobias Wenzel · 24.08.2006
Der Schriftsteller Mario Vargas Llosa lebt nur wenige Monate im Jahr in seinem Geburtsland Peru. Sonst pendelt er zwischen London, Paris und Madrid. Auch Ricardo, die Hauptfigur seines neuen Romans "Das böse Mädchen", zieht es in diese Städte. Zu seinem Glück und Unglück trifft er dort immer wieder auf eine Frau, von der er besessen ist.
Mario Vargas Llosa strahlt eine Gelassenheit aus, die geradezu ansteckend ist. Er sitzt vor einer Fensterfront in einem schmucken Raum im Salzburger Hotel Sacher. Im Rücken des peruanischen Schriftstellers, nur ein paar Schritte entfernt, fließt die Salzach. Jenseits des Flusses sieht man die Touristen in Richtung des Hauses eilen, in dem Mozart geboren wurde. Mario Vargas Llosa jedoch ist die Ruhe selbst. Vor ihm, auf einem edlen Tisch, liegt sein neues Buch mit dem Titel "Das böse Mädchen".

Mario Vargas Llosa: "”Vor vielen Jahren kam mir die Idee, einen Roman über die Liebe zu schreiben, und zwar über eine moderne Liebe, die ohne die ganze Mythologie, die Rhetorik und die Sentimentalität der romantischen Liebe auskommt. Eine moderne Liebe also, die so stark ist, dass sie manchmal sogar Barrieren überwindet, eine Liebe, in der die Gleichheit von Mann und Frau den beiden erlaubt, mit derselben Freiheit zu agieren. Darum ging es mir in diesem Buch: eine Liebesgeschichte zu erzählen, die eine moderne Geschichte ist, die sich so nur in unserer Epoche zutragen kann.""

Es ist die Geschichte einer Obsession. 1950 in Miraflores, Peru: Der 15-jährige Ricardo verliebt sich in ein Mädchen, das sich Lily nennt. Keine tanzt so perfekt den Mambo wie sie. Ricardo nimmt ihr sofort ab, dass sie eine Chilenin aus besserem Hause ist. Doch Lily spielt mit Ricardo, will nicht offiziell seine Freundin sein, obwohl sie mit niemandem mehr Zeit verbringt. Ricardo tauft sie deshalb "böses Mädchen".

Als Ricardo nach Paris geht, um dort als Übersetzer zu arbeiten, glaubt er, Lily nie wiederzusehen. Doch er täuscht sich. Im Laufe seines Lebens taucht das "böse Mädchen" immer wieder wie aus dem Nichts auf, stets mit einem neuen Namen. Und immer dann, wenn Ricardo glaubt, über sie hinweggekommen zu sein. Das "böse Mädchen" dominiert ihn, sexuell wie psychisch, und wird für ihn zur realen Bedrohung. Alles Phantasiegebilde? Oder könnte sich nicht auch hinter Mario Vargas Llosa jemand verbergen, der selbst schon oft ein "böser Junge" war?

Vargas Llosa: "Wahrscheinlich ja. Aber das mit dem ‚bösen Mädchen’ und mit dem ‚guten Jungen’ muss man auch relativieren. Das ‚böse Mädchen’ ist ja nicht immer böse, und der ,gute Junge’ ist nicht immer gut. Ich selbst habe nicht viel gemeinsam mit Ricardo, außer dass auch ich unbedingt nach Paris gehen wollte. Ansonsten unterscheide ich mich aber sehr von Ricardo: Ich lasse mich nicht so schnell aus der Ruhe bringen wie er, ich bin viel weniger angepasst als er und resigniere längst nicht so schnell wie er. Ich glaube, in mir steckt mehr vom ‚bösen Mädchen’ als vom ‚guten Jungen’ des Romans."

Und ein bisschen Vargas Llosa steckt auch in der Figur des Paúl. In Paris freundet sich Ricardo mit seinem peruanischen Landsmann Paúl an. Während Ricardo nur einen Wunsch hat, das "böse Mädchen" zu heiraten und mit ihm den Rest seines Lebens in Paris zu verbringen, engagiert sich Paúl in Paris für die kommunistische Revolution in Peru, ganz nach dem kubanischen Vorbild. Dieser revolutionäre Eifer war auch früher Mario Vargas Llosa nicht fremd:

Vargas Llosa: "Es stimmt, dass ich in den 60er Jahren, wie meine ganze Generation, ein wenig an dem Traum von der Revolution mitgewirkt habe. Mit 17 Jahren war ich ein Jahr lang Kommunist. Später in den 60er Jahren erfuhr ich, dass der reale Kommunismus Formen der Ungerechtigkeit schaffte und eben nicht Ideale wie Gerechtigkeit und Freiheit. Da wurde mir einfach klar, dass nicht der Kommunismus, sondern die Demokratie den Kampf gegen Ungerechtigkeit ermöglicht."

Ricardo, die Hauptfigur des Romans, weiß von Anfang an, dass die Guerilla-Revolution in Peru scheitern muss. Als Paúl Paris in Richtung Peru verlässt, um dort mit Waffengewalt für den Kommunismus zu kämpfen, ahnt Ricardo, dass er seinen Freund nie wieder sehen wird. Das böse Mädchen jedoch, das in Kuba für die peruanische Revolution ausgebildet werden soll, entkommt dem Kampf mit einer List: Sie heiratet einen französischen Diplomaten. Eigentlich kann Mario Vargas Llosa nicht verstehen, dass sich die Kubanische Revolution bis heute gehalten hat.

Vargas Llosa: "Ich glaube, dass die Revolution mit Fidel Castro sterben wird. Es wird ein Prozess in Gang kommen, der, so hoffe ich, eine friedliche Demokratisierung bringt. Ebenso wie es in Spanien nach dem Tod Francos geschah oder in Chile nach der Volksabstimmung, die Pinochet entmachtete. 48 Jahre Diktatur in Kuba sind wirklich genug. Diese Diktatur hat dem Land Armut gebracht hat, den Menschen alle erdenklichen Freiheiten geraubt und in Kuba einen regelrechten sozialen und politischen Anachronismus aufrechterhalten."

Die Kritik an Kuba - einer von Mario Vargas Llosas Kollegen teilt sie nicht: der kolumbianische Nobelpreisträger Gabriel García Márquez. Jener Mann, über den der junge Vargas Llosa einst seine Doktorarbeit schrieb und mit dem er sich später politisch überwarf. Als Mario Vargas Llosa über seinen Kollegen sprechen soll, weicht seine Ruhe plötzlich einer Angespanntheit. Warum hält García Márquez weiterhin zu Castro?

Vargas Llosa: "Na ja, das müsste man ihn schon selbst fragen und nicht mich. Ich kann nur für mich antworten. Die zeitgenössische Geschichte ist doch voll von Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen, die mitunter brillant, aber politisch blind gewesen sind. War nicht der größte moderne Philosoph, Heidegger, ein Nazi? Er hat doch sein Parteibuch mit ins Grab genommen. Einige Intellektuelle haben den Stalinismus und den Maoismus unterstützt, ungeachtet des Gulags und der kulturellen Revolution. Die zeitgenössische Geschichte strotzt nur so vor Fällen, in denen Intellektuelle eine politische Blindheit an den Tag legten."

Er, Mario Vargas Llosa, wollte dagegen selbst das politische Heft in die Hand nehmen, ganz im Gegensatz zum unpolitischen Ricardo im Roman. 1989 ließ sich Vargas Llosa in Peru als Präsidentschaftskandidat aufstellen und verlor die Stichwahl gegen den Außenseiter Alberto Fujimori. Was wäre wohl aus Peru geworden, wenn er, Mario Vargas Llosa, die Wahlen gewonnen hätte?

Vargas Llosa: "Unter mir hätte es keine zehnjährige Diktatur gegeben wie unter Fujimori. Die Demokratie wäre ohne Wenn und Aber respektiert worden. Ich hoffe, wir hätten die Korruption, eines der größten Probleme Perus und ganz Lateinamerikas, effektiver bekämpft. Und ich hätte mir gewünscht, dass unsere geplanten Reformen im Hinblick auf die großen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten gegriffen hätten. Aber gut, wer sich in der hypothetischen Welt bewegen will, der sollte liebe Romane schreiben. Die Fiktion verträgt sich nicht mit der Geschichte, die Fiktion gehört in die Literatur."

Während er das sagt, deutet er mit dem Zeigefinger auf den Tisch und seinen neuen Roman "Das böse Mädchen".