Ein weißer Fleck der Holocaustgeschichte

Von Julia Smilga · 24.06.2011
Als Deutschland im Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, flohen Tausende Juden gen Osten, darunter auch viele Kinder. Sie schwiegen ihr Leben lang über das Erlebte. Der Wissenschaftler Alexander Berman sammelt ihre Erinnerungen.
Eine Million Zuwanderer aus der Ex-Sowjetunion leben in Israel. Einige sind dort als Holocaustopfer anerkannt. Doch etwa 100.000 bleibt diese Anerkennung und der damit verbundene Anspruch auf Entschädigung seitens Israels verwehrt. Weil diese Menschen nicht in Ghettos und KZ waren, sondern vor den Nazis in den russischen Osten geflohen sind. Alexander Berman findet das nicht richtig. Der 78 Jahre alte Naturwissenschaftler setzt sich seit Jahren für die Anerkennung des Leides auch dieser Menschen ein.

"Mitten in der Debatte, ob jüdische Flüchtlinge in der Sowjetunion auch Opfer waren, kam ich auf die Idee der Erinnerungen. Und als ich im israelischen Rundfunk die ehemaligen Kriegskinder aufrief, mir ihre Erinnerungen über die Flucht zu schicken, und daraufhin viele Geschichten bekam, stellte es sich heraus, dass wir einen weißen Fleck in der Holocaustgeschichte entdeckt hatten."

Über die Evakuierung der Zivilbevölkerung in den ersten Kriegsmonaten 1941 gibt es in Russland nach wie vor keine verlässlichen Daten. Auch wissenschaftlich ist die riesige Fluchtwelle vor der Wehrmacht kaum erforscht, erzählt Berman:

"Dieses Thema war in der Sowjetunion Tabu. Weil der Beginn des Zweiten Weltkriegs - mit dem Chaos, Niederlagen und panischem Rückzug der sowjetischen Armee - als großes Staatsgeheimnis galt. So trugen die Menschen ihre Fluchterinnerungen jahrelang mit sich selbst."

In Viehwaggons gepfercht oder zu Fuß flohen sie als Kinder mit ihren Müttern in Panik in Richtung Osten, mehrere Monate lang. Familien wurden auseinandergerissen, Kinder gingen verloren, ständige Bombardements forderten unzählige Opfer. Die, die überlebt haben, tragen ihr Leben lang das Trauma dieser Flucht mit sich, stellt Alexander Berman fest:

"Diese Erinnerungen sind hart und schwer zu lesen. Das Tagebuch von Anne Frank ist leichte Kost dagegen. Da gibt es zum Beispiel eine Geschichte, dass die Mutter ihre kleine Tochter beim Bombardement des Zuges mit dem eigenen Körper schützte und dabei getötet wurde. Das Mädchen kam ins Waisenhaus. Ein Mal sang sie bei einem Konzert im Krankenhaus vor Soldaten und traf dort auf ihren verwundeten Vater! So erfuhr er über den Tod seiner Frau. Später ging er zurück an die Front und fiel. Viele dieser Menschen schreiben mir, dass ihre schreckliche Kindheit ihr ganzes Leben geprägt hat."

Auch nach 70 Jahren erinnerten sich diese ehemaligen Kinder fast fotografisch an Daten, Orte und dramatische Ereignisse. Daran, wie viele Eier ihnen jemand unterwegs schenkte oder wie das deutsche Flugzeug aussah, das ihren Zug bombardiert hatte. Alexander Berman hat anhand dieser Erinnerungen ein Phänomen festgestellt:

"Das Gedächtnis der erwachsenen Menschen kann besonders schlimme Sachen verdrängen. Beim Lesen dieser Erinnerungen der damaligen Kinder habe ich den Eindruck bekommen, dass die Kinder diesen Verdrängungsmechanismus nicht besitzen. Sie können einfach nicht vergessen.

Vor Kurzem erreichte mich ein Brief aus Australien. Der Mann war damals 14 Jahre alt und versuchte, aus Litauen zu fliehen. Diese Fluchterinnerungen haben mich sehr erstaunt: Die ersten zehn Tage des Krieges hat er stündlich wiedergegeben – 70 Jahre nach den Ereignissen! Ich fragte ihn, wieso er sich derart detailliert daran erinnern kann. Er sagte – 'Wie kann ich das vergessen? Unser Leben hing all die zehn Tage an einem seidenen Faden. Gleich nach dem deutschen Überfall haben die Litauer eine regelrechte Jagd auf Juden entfesselt. Jede Minute haben wir einen tödlichen Schuss erwartet. Zwei Mal haben wir versucht, die Grenze nach Russland zu überqueren, zwei Mal schickten die Grenzwächter Tausende jüdische Flüchtlinge zurück mit Worten: 'Macht keine Panik, die Rote Armee wird bald die Deutschen besiegen, geht nach Hause!' Viele hatten keine Kraft mehr zu gehen, kehrten zurück und sind dann alle umgekommen.'"

Als die Wehrmacht am 22 Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, mussten zuerst wichtige Betriebe und ihre Mitarbeiter evakuiert werden. Die jüdische Zivilbevölkerung überließ die sowjetische Regierung einfach ihrem Schicksal:

"Die Entscheidung musste sofort fallen. Wer alles zurückließ und ging- zu Fuß, mit dem Fahrrad, zu Pferd – rettete sich. Wer zögerte, fiel in deutsche Hände und wurde getötet. So starb meine 13-jährige Schwester. Kurz vor dem Krieg sollten wir beide zur Oma von Leningrad nach Bjalostock fahren. Aber im letzten Moment zog mich mein Vater doch aus dem Waggon raus - ich wäre mit sechs Jahren doch zu klein für eine solche Reise. Die Schwester fuhr zu Oma allein. Als der Krieg ausbrach und die Nachbarn flohen, wollten sie sie mitnehmen. Sie wollte aber die alte Oma nicht alleine lassen. Die beiden wurden zusammen mit anderen Juden erschossen."

Vor einem Jahr erschien in Israel das Buch "Opalennoje detstwo" - "Versengte Kindheit" mit erschütternden Erinnerungen, die den Krieg durch das Prisma der Kinderaugen zeigen. Bis jetzt ist dieses Buch nur auf Russisch erschienen, nun sind eine englische und hebräische und irgendwann, wenn Geld gefunden wird, auch eine deutsche Ausgabe geplant. Alexander Berman bekommt mittlerweile Fluchterinnerungen aus der ganzen Welt. Er hofft, dass auch die in Deutschland lebenden Juden ihm ihre Fluchtgeschichten erzählen. Denn nur so könne die Wahrheit über das Schicksal der Juden in der UdSSR während des Zweiten Weltkrieges ans Licht kommen.
Mehr zum Thema