"Ein Wegbereiter für die Freiheit in Russland"
Nach Ansicht des Schriftstellers Erich Loest haben Alexander Solschenizyns Texte das Bewusstsein in der Sowjetunion verändert. Sie seien immer Ermutigung gewesen. Noch heute seien sie ein authentisches Zeitzeugnis von elementarer Bedeutung. Loest stellt Solschenizyn in eine Reihe mit Dostojewski und Tolstoi.
Marie Sagensschneider: Ohne die kurze Ära der Öffnung der Sowjetunion in den 50er, Anfang der 60er Jahre hätten wir vielleicht nie etwas von ihm erfahren, denn damals, 1962, durfte Alexander Solschenizyn das Buch veröffentlichen, das seinen Ruhm begründete und das kurze Zeit später schon wieder auf dem Index stand, "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch", in dem Solschenizyn seine eigenen Erfahrungen der sibirischen Verbannungs- und Lagerzeit schildert. 1970 erhielt er den Literaturnobelpreis, den er allerdings nicht persönlich entgegennehmen durfte, die Eiszeit in der Sowjetunion war längst zurückgekehrt. 1974 wurde Solschenizyn verhaftet und ausgewiesen, 18 Jahre, 20 Jahre blieb er im Exil, schrieb unter anderem die Trilogie "Archipel Gulag". Erst 1994 ist Solschenizyn wieder in die Heimat zurückgekehrt. Seitdem hat er in der Nähe von Moskau gelebt, und gestern Abend ist Alexander Solschenizyn gestorben. Er ist 89 Jahre alt geworden. Und wir wollen ihn jetzt würdigen im Gespräch mit dem Schriftsteller Erich Loest. Guten Tag, Herr Loest!
Erich Loest: Guten Tag!
Sagensschneider: Was war Ihr erster Gedanke, als sie vom Tod Solschenizyns gehört haben?
Loest: Ja, ich habe mich natürlich erinnert an diese Meisternovelle, ein Stück der Weltliteratur unterdessen, in die DDR ist dieses Buch nie gekommen, in der westlichen Welt hat es riesiges Aufsehen erregt, und das war mein erster Gedanke an ein großes Stück Literatur.
Sagensschneider: Wann haben Sie das erste Mal das Buch gelesen?
Loest: Wahrscheinlich in den 70er Jahren. Es ist dann von Westdeutschland hereingeschmuggelt worden nach Leipzig, dann habe ich es in die Hände bekommen und war sofort tief bewegt.
Sagensschneider: Natürlich vermutet man auch sofort, dass jemand mit Ihrem Schicksal, Herr Loest, denn Sie haben ja siebeneinhalb Jahre im Zuchthaus Bauzen II gesessen, verurteilt wegen angeblicher konterrevolutionärer Gruppenbildung, dass sich jemand wie Sie natürlich Solschenizyn und diesen Texten besonders nahe fühlen musste.
Loest: Ja, natürlich, und da sind wir Brüder im Geiste, da sind wir alte Kumpels. Es ist ja in der DDR dann übel mit ihm umgesprungen worden. Es ist ein Roman erschienen von Harry Thürk, "Der Gaukler", der mit großem Engagement in der DDR vertrieben worden ist. Der Kulturminister Höpcke hat ihn gepriesen. Und das ist ein schlimmes Blatt für die DDR-Politik, mit ihm umgegangen zu sein. In Westdeutschland war er ein Aufklärer, ein Held. Heinrich Böll hat ihn auch mit herausgeholt mit anderen, und zunächst hat Solschenizyn bei Böll gewohnt, ehe er dann weitergezogen ist nach Kanada.
Sagensschneider: Michael Gorbatschow hat heute gesagt, Solschenizyns Rolle bei der Untergrabung des totalitären Regimes von Stalin dürfe nicht unterschätzt werden, seine Werke hätten das Bewusstsein von Millionen verändert. Haben Sie das tatsächlich, und wenn ja, wo?
Loest: Das haben sie erst einmal in der Sowjetunion in dieser kurzen Tauwetterzeit Chruschtschows und später war es immer wieder für die geistige Welt, die geistige Elite, die ja auch ihre Fäden nach draußen hatte, war es immer Ermutigung. Und Schriftsteller sagten sich, wir wollen nicht hinter diesem Mann zurückbleiben, was er geleistet hat, müssen wir auch leisten. Und als solches ist er wirklich ein Wegbereiter für die Freiheit in Russland.
Sagensschneider: Hat man ihn sich als Einzelkämpfer vorzustellen?
Loest: Ja. Er hat sich auch später mit alten Kumpels dann verfeindet. Erst haben ihm sehr viele geholfen, denn er war eingebettet in Moskau doch unter Freunden, aber dann in der Emigration, in der Einsamkeit ist er dann wahrscheinlich auch grillig geworden und bösartig. Und es ist dann kein gutes Umgehen mehr mit ihm gewesen.
Sagensschneider: Was würden Sie sagen, Herr Loest, welche Bedeutung seine Bücher heute noch haben, oder sind sie doch in der Zeit verhaftet?
Loest: Sie kommen aus dieser Zeit, sie schildern diese Zeit. Wenn wir über diese Zeit etwas wissen wollen, etwas Authentisches, dann greifen wir zu Solschenizyn. Wenn wir über das 19. Jahrhundert etwas wissen wollen, dann lesen wir Tolstoi und Dostojewski, und er hat, Solschenizyn, diese Bedeutung eines ganz großen russischen Schriftstellers.
Sagensschneider: Ich habe heute Morgen natürlich noch mal ins Bücherregel gegriffen und "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" herausgezogen und drin geblättert und war dann doch vollkommen verblüfft, weil ich dachte, diese Prosa, die ist gar nicht veraltet, die wirkt immer noch relativ frisch.
Loest: Von der Sprache her, von der Anlage her ist es ein ganz modernes Buch.
Sagensschneider: Und rührt einen, verwirrt einen auch, denn Solschenizyn, ja, er verschiebt ja ein bisschen die Relationen. Er erzählt von einem Tag im Leben eines Lagerhäftlings, der am Ende - und das ist wirklich etwas bedrückend - eine positive Bilanz des Tages zieht. Er sagt, er hat ein Sägeblatt an der Zensur vorbeischmuggeln können, er hat eine Extraration Essen und Tabak organisiert. Und dann steht da: Der Tag war vergangen, durch nichts getrübt, nahezu glücklich.
Loest: Ja, dieser eine Tag, aber der Leser bekommt ja mit, was an diesem Tag im Lager um die anderen herum auch ihm passiert. Er kommt noch mal gut durch. Aber es ist ein so packendes und beklemmendes Bild auf den Lageralltag, dass man am Ende doch sich freut über dieses kleine Flämmchen, was da brennt, aber man sieht ja auch den großen Schrecken, der ihn umgeben hat.
Sagensschneider: Ja, der große Schrecken kommt auch gleich dann im letzten Satz, da ist nämlich von 3.653 Tage Haft die Rede, also von zehn Jahren.
Loest: Na bitte.
Sagensschneider: Der Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn ist gestern Abend gestorben, und wir würdigen ihn hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Schriftsteller Erich Loest. Ich habe mich gestern, Herr Loest, als ich die Nachricht vom Tode Solschenizyns gehört habe, gefragt, hat er eigentlich in erster Linie literarische oder politische Bedeutung?
Loest: Beides. Das Literarische ist unbenommen, es ist großartig, nicht nur diese Novelle, von der wir jetzt sprechen, auch das andere, "Der erste Kreis der Hölle", und seine politische Bedeutung kommt hinzu. Es hält sich beides die Waage in glücklichster Weise.
Sagensschneider: Er hat 20 Jahre im Exil verbracht, 18 Jahre davon in den USA, ich habe es vorhin schon gesagt, er ist dann Mitte der 90er Jahre wieder nach Russland zurückgekehrt. Würden Sie sagen, das war zu spät für ihn, 20 Jahre sind doch zu lang?
Loest: Da waren alle Beziehungen zu vorher abgerissen. Er kam in eine völlig neue, umgestaltete Welt hinein, die er vermutlich nicht begriffen hat. Alles war ganz anders, und er kam dann auch als einer, der an alte Ideale, auch an christliche Ideale gemahnt hat, und eine Wirkung auf das Russland von '94 hat er nicht gehabt.
Sagensschneider: Er war nicht so von Bedeutung, und man hat ja auch gelesen, dass die jungen Menschen gesagt haben, wer ist denn dieser ältere Mann mit dem Bart, den kenne ich gar nicht. Das heißt, er war eigentlich auch dann durch die Zensur gar keine richtige Größe?
Loest: Er hat dann das Land bereist, er ist gefeiert worden von der literarischen Welt, und natürlich, junge Leute hatten nie von ihm gehört und hatten andere Sorgen, wie junge Leute immer andere Sorgen haben.
Sagensschneider: Wie, Herr Loest, beurteilen Sie Solschenizyns Werke aus diesen letzten 15 Jahren?
Loest: Ich habe nichts davon gelesen. Es ist veröffentlicht worden in Deutschland, ich habe nur darüber gelesen, dass es althergebracht sei, dass es eine russische Überheblichkeit, Nationalismus auch gemahnt. Ich kann es aber nicht beurteilen, weil ich es im Einzelnen nicht kenne.
Sagensschneider: Wenn man nun für heute einem jungen Menschen empfiehlt, Solschenizyn vielleicht überhaupt erst mal zu entdecken, Solschenizyn für Anfänger, welches Buch würden Sie empfehlen?
Loest: Natürlich den "Iwan Denissowitsch", dann "Der erste Kreis der Hölle" und dann, wer sich dann noch weiter hineinlesen kann, wird vieles entdecken von dieser Basis aus.
Erich Loest: Guten Tag!
Sagensschneider: Was war Ihr erster Gedanke, als sie vom Tod Solschenizyns gehört haben?
Loest: Ja, ich habe mich natürlich erinnert an diese Meisternovelle, ein Stück der Weltliteratur unterdessen, in die DDR ist dieses Buch nie gekommen, in der westlichen Welt hat es riesiges Aufsehen erregt, und das war mein erster Gedanke an ein großes Stück Literatur.
Sagensschneider: Wann haben Sie das erste Mal das Buch gelesen?
Loest: Wahrscheinlich in den 70er Jahren. Es ist dann von Westdeutschland hereingeschmuggelt worden nach Leipzig, dann habe ich es in die Hände bekommen und war sofort tief bewegt.
Sagensschneider: Natürlich vermutet man auch sofort, dass jemand mit Ihrem Schicksal, Herr Loest, denn Sie haben ja siebeneinhalb Jahre im Zuchthaus Bauzen II gesessen, verurteilt wegen angeblicher konterrevolutionärer Gruppenbildung, dass sich jemand wie Sie natürlich Solschenizyn und diesen Texten besonders nahe fühlen musste.
Loest: Ja, natürlich, und da sind wir Brüder im Geiste, da sind wir alte Kumpels. Es ist ja in der DDR dann übel mit ihm umgesprungen worden. Es ist ein Roman erschienen von Harry Thürk, "Der Gaukler", der mit großem Engagement in der DDR vertrieben worden ist. Der Kulturminister Höpcke hat ihn gepriesen. Und das ist ein schlimmes Blatt für die DDR-Politik, mit ihm umgegangen zu sein. In Westdeutschland war er ein Aufklärer, ein Held. Heinrich Böll hat ihn auch mit herausgeholt mit anderen, und zunächst hat Solschenizyn bei Böll gewohnt, ehe er dann weitergezogen ist nach Kanada.
Sagensschneider: Michael Gorbatschow hat heute gesagt, Solschenizyns Rolle bei der Untergrabung des totalitären Regimes von Stalin dürfe nicht unterschätzt werden, seine Werke hätten das Bewusstsein von Millionen verändert. Haben Sie das tatsächlich, und wenn ja, wo?
Loest: Das haben sie erst einmal in der Sowjetunion in dieser kurzen Tauwetterzeit Chruschtschows und später war es immer wieder für die geistige Welt, die geistige Elite, die ja auch ihre Fäden nach draußen hatte, war es immer Ermutigung. Und Schriftsteller sagten sich, wir wollen nicht hinter diesem Mann zurückbleiben, was er geleistet hat, müssen wir auch leisten. Und als solches ist er wirklich ein Wegbereiter für die Freiheit in Russland.
Sagensschneider: Hat man ihn sich als Einzelkämpfer vorzustellen?
Loest: Ja. Er hat sich auch später mit alten Kumpels dann verfeindet. Erst haben ihm sehr viele geholfen, denn er war eingebettet in Moskau doch unter Freunden, aber dann in der Emigration, in der Einsamkeit ist er dann wahrscheinlich auch grillig geworden und bösartig. Und es ist dann kein gutes Umgehen mehr mit ihm gewesen.
Sagensschneider: Was würden Sie sagen, Herr Loest, welche Bedeutung seine Bücher heute noch haben, oder sind sie doch in der Zeit verhaftet?
Loest: Sie kommen aus dieser Zeit, sie schildern diese Zeit. Wenn wir über diese Zeit etwas wissen wollen, etwas Authentisches, dann greifen wir zu Solschenizyn. Wenn wir über das 19. Jahrhundert etwas wissen wollen, dann lesen wir Tolstoi und Dostojewski, und er hat, Solschenizyn, diese Bedeutung eines ganz großen russischen Schriftstellers.
Sagensschneider: Ich habe heute Morgen natürlich noch mal ins Bücherregel gegriffen und "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" herausgezogen und drin geblättert und war dann doch vollkommen verblüfft, weil ich dachte, diese Prosa, die ist gar nicht veraltet, die wirkt immer noch relativ frisch.
Loest: Von der Sprache her, von der Anlage her ist es ein ganz modernes Buch.
Sagensschneider: Und rührt einen, verwirrt einen auch, denn Solschenizyn, ja, er verschiebt ja ein bisschen die Relationen. Er erzählt von einem Tag im Leben eines Lagerhäftlings, der am Ende - und das ist wirklich etwas bedrückend - eine positive Bilanz des Tages zieht. Er sagt, er hat ein Sägeblatt an der Zensur vorbeischmuggeln können, er hat eine Extraration Essen und Tabak organisiert. Und dann steht da: Der Tag war vergangen, durch nichts getrübt, nahezu glücklich.
Loest: Ja, dieser eine Tag, aber der Leser bekommt ja mit, was an diesem Tag im Lager um die anderen herum auch ihm passiert. Er kommt noch mal gut durch. Aber es ist ein so packendes und beklemmendes Bild auf den Lageralltag, dass man am Ende doch sich freut über dieses kleine Flämmchen, was da brennt, aber man sieht ja auch den großen Schrecken, der ihn umgeben hat.
Sagensschneider: Ja, der große Schrecken kommt auch gleich dann im letzten Satz, da ist nämlich von 3.653 Tage Haft die Rede, also von zehn Jahren.
Loest: Na bitte.
Sagensschneider: Der Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn ist gestern Abend gestorben, und wir würdigen ihn hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Schriftsteller Erich Loest. Ich habe mich gestern, Herr Loest, als ich die Nachricht vom Tode Solschenizyns gehört habe, gefragt, hat er eigentlich in erster Linie literarische oder politische Bedeutung?
Loest: Beides. Das Literarische ist unbenommen, es ist großartig, nicht nur diese Novelle, von der wir jetzt sprechen, auch das andere, "Der erste Kreis der Hölle", und seine politische Bedeutung kommt hinzu. Es hält sich beides die Waage in glücklichster Weise.
Sagensschneider: Er hat 20 Jahre im Exil verbracht, 18 Jahre davon in den USA, ich habe es vorhin schon gesagt, er ist dann Mitte der 90er Jahre wieder nach Russland zurückgekehrt. Würden Sie sagen, das war zu spät für ihn, 20 Jahre sind doch zu lang?
Loest: Da waren alle Beziehungen zu vorher abgerissen. Er kam in eine völlig neue, umgestaltete Welt hinein, die er vermutlich nicht begriffen hat. Alles war ganz anders, und er kam dann auch als einer, der an alte Ideale, auch an christliche Ideale gemahnt hat, und eine Wirkung auf das Russland von '94 hat er nicht gehabt.
Sagensschneider: Er war nicht so von Bedeutung, und man hat ja auch gelesen, dass die jungen Menschen gesagt haben, wer ist denn dieser ältere Mann mit dem Bart, den kenne ich gar nicht. Das heißt, er war eigentlich auch dann durch die Zensur gar keine richtige Größe?
Loest: Er hat dann das Land bereist, er ist gefeiert worden von der literarischen Welt, und natürlich, junge Leute hatten nie von ihm gehört und hatten andere Sorgen, wie junge Leute immer andere Sorgen haben.
Sagensschneider: Wie, Herr Loest, beurteilen Sie Solschenizyns Werke aus diesen letzten 15 Jahren?
Loest: Ich habe nichts davon gelesen. Es ist veröffentlicht worden in Deutschland, ich habe nur darüber gelesen, dass es althergebracht sei, dass es eine russische Überheblichkeit, Nationalismus auch gemahnt. Ich kann es aber nicht beurteilen, weil ich es im Einzelnen nicht kenne.
Sagensschneider: Wenn man nun für heute einem jungen Menschen empfiehlt, Solschenizyn vielleicht überhaupt erst mal zu entdecken, Solschenizyn für Anfänger, welches Buch würden Sie empfehlen?
Loest: Natürlich den "Iwan Denissowitsch", dann "Der erste Kreis der Hölle" und dann, wer sich dann noch weiter hineinlesen kann, wird vieles entdecken von dieser Basis aus.