Ein Wanderkino für alle

Von Wolfgang Martin Hamdorf · 12.09.2010
In Argentinien bringen motorisierte Vorführteams, die "Cine Móviles", Filme in entlegene Provinzen. "Cultura para todos" - "Kultur für alle" - ist das Motto. Nach dem Vorbild ist auch hierzulande ein Team unterwegs, das lateinamerikanische Filme im Gepäck hat.
Ein kleines Mädchen singt die Nationalhymne im Chor, während ihr Vater am anderen Ende der Stadt in eine wilde Schießerei verwickelt ist. Argentinisches Kino in der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel. Gezeigt wird "Un oso rojo" Ein roter Bär). Es geht um einen entlassenen Häftling, den schwierigen Umgang mit seiner Ex-Frau und seiner kleinen Tochter und den brutalen Rückfall in die Kriminalität.

Vieles an dem Film ist dem Publikum in dem großen Saal der alten Gefängniskirche vertraut, etwa das Misstrauen, mit dem die Gesellschaft entlassene Strafgefangene behandelt. Harro Rudolph, Insasse der Justiz Vollzugsanstalt Fuhlsbüttel:

"Dann hat er mich natürlich insofern mitgenommen, als ich mich in diesen Menschen hineinversetzen kann, vor allem, weil die Frau ihn verlassen hat, er natürlich zu seiner Tochter zurück will. Was mich jetzt so ein bisschen erstaunt hat, aber das kommt mir so ein bisschen vor wie amerikanische Western in Argentinien, ein bisschen sehr viel Piff, Paff, Puff, aber dass muss man natürlich mehr oder weniger mit einem lächelnden Auge sehen, aber interessant fand ich es und interessant, dass dieser Film hier überhaupt gezeigt wurde."

"Ziel des Kinos ist die Auseinandersetzung", sagt Gustavo Drincovich. Er zeigt seit 13 Jahren Filme in den kleinsten Dörfern, aber auch in den Gefängnissen in der argentinischen Provinz Cordoba:

"Von Anfang an war für uns in Cordoba die Debatte nach dem Film das Wichtigste. Debatte, das klingt so nach großen Worten, aber es geht darum, Ideen auszutauschen, mit Menschen, die den Film zum ersten Mal sehen und das ist für uns auch immer wieder spannend, selbst bei Filmen, die wir schon zehn oder 15 Mal gesehen haben. Die Reaktion des Publikums, das Gespräch und diese ganze soziale Interaktion ist für mich das Wichtigste am Kino."

Sechs Wochen lang zieht das argentinische Wanderkino jetzt durch alle Bundesländer, etwa 30 große und kleine Dörfer und Städte, Kulturzentren, Kneipen, kommunale Kinos, Schulen und vier Gefängnisse. Damit bringen die Veranstalter neben den Filmen ein interessantes Stück argentinischer Kinokultur nach Deutschland, die Idee des Wanderkinos mit freiem Eintritt, die der argentinische Staat in abgelegenen Provinzen finanziert, nach dem Grundsatz der "Cultura para todos", der "Kultur für alle". Gustavo Drincovich:

"Kultur ist ein Grundrecht, es ist keine Dienstleistung und auch keine Ware. Die Kultur ist ein Grundrecht und alle müssen Zugang zu kulturellen Veranstaltungen haben. Da aber nicht alle Geld haben, um sich eine Kinokarte zu kaufen, oder vielleicht auch gar kein Kino mehr in der Nähe ist, muss der Staat aktiv werden. Jeder hat Recht am kulturellen, Leben teilzuhaben."

Die Kinoreise durch Deutschland wird von der Bundeszentrale für politische Bildung finanziert und die Veranstalter wollen die argentinische Filmkultur über die inhaltliche Auseinandersetzung vermitteln: Die zwölf Spiel-, Dokumentar- und Kinderfilme wurden daher nach thematischen Kriterien ausgewählt, sagt Ute Schneider. Die Filmjournalistin lebt seit zwei Jahren in Argentinien und hat die Kinoreise durch Deutschland organisiert:

"Das sind einmal die Auseinandersetzungen mit der Diktatur, das sind Lebensperspektiven für junge Menschen; Umgang mit wirtschaftlichen Krisen und das Thema der Immigration – Migration. Und die Filme sind danach ausgewählt worden und nicht danach, was vielleicht jetzt aktuell in Argentinien im Kino ist oder einen Preis gewonnen hat, sondern die wurden schon thematisch ausgesucht."

Große und kleine Orte wechseln sich ab, heute ist das Wanderkino noch in Hamburg, morgen geht es weiter nach Mecklenburg. Die Erfahrungen der Kinomacher sind von Ort zu Ort so unterschiedlich wie die Zuschauerzahlen, von dreihundert Zuschauern in einer Hamburger Schule bis zu vier einsamen Filmfreunden in Karow bei Berlin. Manche Orte wie Sternberg in Mecklenburg sind direkt auf die Veranstalter zugegangen. Ute Schneider:

""Sternberg, da hatte, soweit ich weiß, die Pastorin erfahren, dass wir unterwegs sind und hat sich an uns gewendet, ob wir da vorbei kommen können. Sie hat uns erzählt, dass sie in der Gegend ein bisschen Probleme haben auch mit rechtsradikalen Jugendlichen und sich einen Film wünschen, der auch ein Thema behandelt, was auch in dem Bereich liegt, wir zeigen also 'Hermanas'."

"Hermanas" setzt sich über die Geschichte zweier sehr unterschiedlicher Schwestern mit der Aufarbeitung der jüngeren argentinischen Vergangenheit auseinander, mit der Aufarbeitung von Diktatur und Menschenrechtsverletzung. Nach dem Film kommen die Zuschauer schnell auf die eigenen Diktaturen zu sprechen. Ute Schneider:

"Also bei 'Hermanas' war es deutlich zu spüren, während im westlichen Teil sich also die Leute immer ganz klar auf den Nationalsozialismus beziehen, läuft das im anderen Teil Deutschlands natürlich so, dass denen natürlich dazu die DDR-Zeit noch einfällt, so in der Verarbeitung und natürlich gibt es da auch unterschiedliche Erfahrungen."
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