Ein vom Kino besessener Regisseur

Von Jörg Taszman · 20.12.2005
Gedreht hat Roman Polanski die Verfilmung von Charles Dickens Roman vor allem für seine Kinder. Dabei ist mehr als ein netter Familienfilm entstanden. "Oliver Twist" ist intelligente Unterhaltung, ein echter Roman-Polanski-Film und eine Gelegenheit, sein Oeuvre Revue passieren zu lassen.
Gerade in Deutschland gibt es eine oft ärgerlich-vereinfachende Polanski Rezeption. Man sieht in ihm meist nur den Regisseur von Werken wie "Rosemarys Baby" oder "Ekel", die über 30 Jahre zurückliegen, und interessiert sich vor allem für sein mal tragisches, mal skandalöses Privatleben. So verlor Polanski seine Mutter in Auschwitz, seine zweite Ehefrau Sharon Tate durch einen brutalen Mord und er darf bis heute nicht in die USA einreisen, wo er seit 1977 des "Beischlafs mit einer 13-Jährigen" angeklagt ist, die Polanski jedoch nach eigenen Angaben für älter hielt.

Und bei all diesen Details aus seinem Privatleben, die er im übrigen sehr offen in seiner Autobiografie "Roman" beschrieben hat, wird oft vergessen, dass Polanski noch etwas ganz anderes ist: ein vom Kino besessener Regisseur, der sich nicht gerne nur auf ein oder zwei Filme seiner Biografie reduzieren lässt, wie er auch 1999 beim Filmfest München klar machte:

" Es tut mir ja sehr leid, aber Satan interessiert mich überhaupt nicht. Ich bin nicht abergläubisch und habe eher ein Interesse an Wissenschaft, Technik und all diesen Aspekten des Lebens, vor allem Techniken, die mit Kino zu tun haben. Ich weiß noch nicht mal genau, was mein Sternzeichen ist. Na ja, ich weiß, ich bin Löwe. Das ist es aber auch schon. Neben Filmen über Satan habe ich auch Filme wie "Chinatown" und "Das Messer im Wasser" gedreht, oder "Tess". Aus irgendwelchen Gründen haben die Medien diese Filme jedoch vergessen. "

Begonnen hatte Polanski nach Jobs beim polnischen Radio als Schauspieler bei Andrzej Wajda. Später besuchte er die renommierte Filmhochschule in Lodz und drehte dann noch in Polen seinen ersten Spielfilm "Das Messer im Wasser", ein Drei-Personen-Stück um eine Frau zwischen zwei Männern, das hauptsächlich auf einem Boot spielt. Meisterhaft verstand es Polanski Spannung zu inszenieren, die Enge des Raumes für das Kino zu nutzen.

Klaustrophobie aber auch unterschwellige Erotik sind Themen, die sich auch in Filmen wie "Der Mieter" oder "Bitter Moon" wieder finden. Auch Thriller hat Polanski mehr als nur einmal gedreht: 1974 den düsteren Hochglanzstreifen "Chinatown" und 1987 die etwas oberflächliche Hitchcock-Hommage "Frantic". Fast klamottig dagegen sind seine wüsten Komödien "Der Tanz der Vampire" oder "Piraten". Wunderschön episch sein Melodrama "Tess" mit der damals 17-jährigen Nastassja Kinski.

"Tess", die Verfilmung des erfolgreichsten Romans von Thomas Hardy, der in diesem Jahr in Deutschland auf einer DVD ohne Extras erschien, war für Polanski eigentlich seine schönste Dreherfahrung, wie er in langen Interviewpassagen der amerikanischen DVD vor einem Jahr zugab. Die Geschichte um eine junge Frau, aus einer verarmten Familie, die von einem Adeligen verführt und deswegen von einem Marxisten verstoßen wird, bewies, dass Polanski auch eine große epische Ader hat. Er kann als Filmemacher den Zuschauer berühren, ohne dabei sentimental zu werden. Genau das gelang ihm auch mit "Der Pianist", der fast ein unterkühlter aber dennoch beeindruckender Film über die Shoah der polnischen Juden wurde.

Für "Oliver Twist" wollte Polanski in den Prager Barrandov Studios das London von 1837 nachbauen, besorgte sich alte Zeichnungen, Stiche und Stadtpläne. Polanski wird von seinen Mitarbeitern gerne als Orchesterdirigent bezeichnet und er umgibt sich mit großen Kameramännern, Ausstattern, Make-up-Spezialisten und Kostümbildnern. So entstehen wunderbar fotografierte Leinwandepen, die zwar sehr klassisch wirken, aber in erster Linie immer menschliche Geschichten erzählen.

Das London in "Oliver Twist" ist ein Moloch voller sozialer Gegensätze und Sprengkraft, in dem die ganz Armen und Schwachen, die Kinder irgendwie versuchen zu überleben. Zuflucht finden einige unter ihnen auch der neunjährige Oliver beim alten Gauner "Fagin", den Ben Kingsley überzeugend verkörpert, fast als die Karikatur eines Juden mit großer Nase und einem Hang zu Geld, dann aber doch wieder sehr menschlich, irgendwie fürsorglich und als tragischer Anti-Held. Es ist diese Ambivalenz, die Polanski bei seinen Figuren immer wieder sucht und schafft. Und genau das suchte er auch bei seinem jugendlichen Hauptdarsteller:

" In den Kinoadaptationen, die ich kenne, war Oliver immer zu süß. Ich suchte nach einem Jungen, der schon Charakter hat, aber nicht zu niedlich ist. Dann hatten wir nach einem längeren Casting vier Jungs in die engere Wahl gezogen und ich wollte, dass wir ihre gefilmte Probe ganz klassisch aufnehmen, so wie es früher in Hollywood üblich war, also in vollem Kostüm und in einem echten Set. Und dann war sofort klar, Barney Clark war unser Oliver. "

Gedreht hat der Regisseur die Romanverfilmung vor allem für seine Kinder, nachdem er ihnen jahrelang Gute-Nacht-Geschichten vorlas. Entstanden ist dabei mehr als ein netter humanistischer Familienfilm. "Oliver Twist" ist intelligente, nachdenkliche Unterhaltung, ein Roman-Polanski-Film eben.