Ein Volk erobert sich sein Land
Mit Polizei und Schlägertrupps kämpfte das Establishment. Doch die Brutalität des Mubarak-Regimes reichte nicht aus, um die Demokratiebewegung Ägyptens zu stoppen. Ein Volk verlor seine Angst und befreite sich vom Terror.
"Der Moment, in dem ich hörte, dass Mubarak zurück getreten ist, war der aufregendste und emotionalste Moment überhaupt. Als hätten wir ein schweres Gewicht auf der Brust gehabt, und das wäre ganz plötzlich weggehoben worden."
30 Jahre lang hat Hosni Mubarak Ägypten regiert. Vor Mubarak herrschte Sadat, vor Sadat herrschte Nasser, König Farouk und so weiter. Die Reihe der Potentaten reicht zurück bis zu Ramses II. - 3000 Jahre lang regierten nur Gewaltherrscher am Nil. Ihre Zeit ist nun zu Ende. 18 Tage genügten, um sich von dieser Kette loszureißen.
"Nieder mit Hosni Mubarak", rufen sie, "Brot, Freiheit, Menschenrechte" oder einfach "Versager, Versager, Versager". Die Sicherheitskräfte versuchen immer wieder, die Demonstranten aufzuhalten. Doch die Menge weicht aus und biegt in ein Wohnviertel ein. "Lauft mit", ruft einer älterer Herr den Zuschauern am Straßenrand zu und bleibt vor einem verarmt aussehenden Jungen stehen.
"Wir sind doch auch deinetwegen auf der Straße, dabei bin ich so alt wie dein Großvater. Wollt ihr nur zuschauen, während wir demonstrieren gehen? Wer hier Angst hat, der hat auch Angst vor Gott. Los lauft mit."
"Ich habe keine Angst."
Er habe keine Angst, sagt einer der Männer am Straßenrand. Er wolle nur kein Chaos. So ein Wechsel müsse friedlich geschehen.
"Nach dem Gebet habe ich viele Leute gesehen, die der Polizei entgegen traten. Sie haben Slogans gerufen, dieselben, die wir immer in den Protesten gehört haben, aber das Interessante war, dass kleine Fehler drin waren. Falsche Wörter. Da habe ich gemerkt – mein Gott, diese Leute waren noch nie vorher auf einer Demonstration!"
"Da ist er, der Terrorismus!", rufen sie den Polizisten zu, und: "Wo ist das ägyptische Volk?"
"Der Präsident muss mit uns reden. Er kann das Volk nicht einfach ignorieren, es gibt einen Willen des Volkes; die Regierung, der Präsident, sind doch Diener des Volkes."
"Wir sind aus dem Volk. Meine Söhne sind 15 und 17 Jahre alt und demonstrieren mit."
Er habe heute Geburtstag, und sei losgegangen um Ägypten zu befreien, sagt ein junger Mann. Seine Mutter steht neben ihm:
"Wir sind hier, weil dieses Land korrupt ist. Hier gibt es keine Demokratie, keine Freiheit, wir haben keine Rechte. Das kann doch nicht sein, dass einer 30 Jahre lang regiert."
Am Abend verschwinden die Polizisten. Überall: in Kairo, Suez, Alexandria. Es ist, als ziehe sich die Staatsgewalt beleidigt in die Kasernen zurück. Aber das scheint nur so. Innenminister Habib al Adli hat ein heimtückisches Geschenk für die Ägypter vorbereitet. Er gibt Befehl, die Gefängnisse zu öffnen: Tausende Strafgefangene werden auf freien Fuß gesetzt – Gewalttäter und Schwerverbrecher, politische Gefangene, radikale Islamisten und einfache Diebe.
Losgelassen auf eine wehrlose Stadt, ziehen sie in der Nacht durch die Straßen, plündern Läden, stoppen Autos, rauben Bürger aus. Auch Arme und Arbeitslose dringen in die aufgebrochenen Geschäfte ein und holen sich, was sie sich nie kaufen könnten. Das ist der zweite Versuch des Mubarak-Regimes, den Aufstand niederzuringen: Es will chaotische Verhältnisse schaffen, um später als Ordnungsmacht auftreten zu können.
Aber die Strategie geht nicht auf. Sie bewirkt eher das Gegenteil. In den Straßen von Kairo ballen nun auch Leute die Fäuste, die eigentlich gar nicht mitmachen wollten bei den Protesten. Arbeiter, Taxifahrer, kleine Angestellte:
"Die Polizei ist gegen das Volk. Erst schlägt sie auf unsre Kinder ein, und dann verschwindet sie plötzlich und macht die Gefängnisse auf. Was ist das für eine Polizei, die das eigene Volk verrät? Was ist das für eine Polizei, die sich zum Komplizen von Verbrechern macht?"
Allein gelassen vom Staat beginnen die Ägypter, ihre Sicherheit selbst zu organisieren. Sie bilden Bürgerwehren, kontrollieren die Zufahrtswege zu ihren Stadtvierteln und Straßen. Viele Waren, die gestohlen worden sind, werden in den folgenden Tagen in die Läden zurückgebracht. Den Staat erleben die Bürger nur noch als eine anonyme Bedrohung, als einen Feind, der sie terrorisiert und Ausgangssperren verhängt. Um 16 Uhr, heißt es im mubarak-hörigen Staatsfunk, seien die Straßen und Plätze Kairos zu räumen.
Um 15 Uhr 50 donnern zwei F16-Kampfjets im Tiefflug über das Stadtzentrum hinweg und drehen ab Richtung Osten. Eine Machtdemonstration, der Lärm so ohrenbetäubend, dass wir uns instinktiv ducken. Aber dann richten sich die Demonstranten auf dem Tahrir wieder auf. Sie bleiben – und fordern den Rücktritt Mubaraks.
Schon den ganzen Tag über hallt der Tahrir-Platz von Sprechchören wider, "Nieder mit Mubarak." Für heute hat die Opposition zum "Marsch der Millionen" aufgerufen. Die Menschenmassen in den Straßen sind nicht mehr zählbar. Und nirgendwo Polizei. Eben deshalb – und wegen der unfassbaren Disziplin der Menschenmasse – gibt es an diesem Tag keinen einzigen Toten, nicht einmal einen Verletzten.
Heute hat das Regime schon ab 15 Uhr die Ausgangssperre verhängt. Wieder wird sie vom staatlichen Rundfunk verkündet. Doch keiner kümmert sich mehr darum. Auch die regimetreuen Medien verlieren ihre Autorität. Und vor dem abgefackelten Gebäude der Regierungspartei stehen Familien, die sich gegenseitig fotografieren. Mubarak – game over, hat einer auf die rußgeschwärzte Fassade geschrieben. Aber Mubarak ist immer noch da. Er sitzt im feinen Stadtteil Heliopolis in seinem Präsidentenpalast. Und hat noch Befehlsgewalt.
Der Staat zeigt jetzt nur noch militärische Präsenz. Wüstensandgelbe, von den USA gelieferte Abram-Panzer, fahren überall auf – verstärken die Truppen vor dem Rundfunkgebäude, auf den Nilbrücken und rund um den Tahrir-Platz. Aus den Geschütztürmen schauen Soldaten ratlos hinunter auf das protestierende Volk. Eine alte Frau stellt sich ihnen entgegen. Sie trägt ein Tuch, das ihren ganzen krumm geschufteten Körper bedeckt.
In den Slumvierteln werden diese Schleier getragen, in Shobra, Imbaba, Boulak. Es sind die Schleier der Armut, schwarz, schmutzig, ausgefranst an den Rändern.
Anfangs wurde der Protest noch von den jungen, gebildeten Städtern getragen. Dann stießen die einfachen Bürger dazu. Nun sind auch die Habenichtse und Tagelöhner dabei, Arbeitslose, Analphabeten, Felachen vom Land.
Gestern waren sie noch die hoffnungslose, namenlose Masse Ägyptens, diejenigen, die laut Weltbank-Statistik über ein tägliches Einkommen von umgerechnet einem Dollar verfügen. Jetzt, mit einem Mal, haben sie Hoffnung. Und einen Namen. Du da oben, ruft Umm Nidal zu dem Soldaten auf dem Panzer hinauf, Du könntest mein Sohn sein:
"Wir wollen doch mit euch von der Armee keine Probleme haben. Wir wollen doch nur, dass aus Ägypten endlich ein schönes Land wird, etwas Gutes, auf das wir stolz sein können."
Das Volk steht jetzt auf dem Midan al Tahrir – dem großen Platz. Und es wird ihn nicht mehr verlassen. Lagerfeuer werden entzündet, Zelte aus Plastikplanen errichtet. Und mit einem Mal geht die Nachricht um, dass Mubarak im Staatsfernsehen sprechen wird. Niemand weiß wann. Aber in der Dunkelheit legen Jugendliche Wolldecken vor die Panzerketten, um unter den Stahlkolossen zu schlafen. Damit sie nicht losfahren können, sagen sie. An diesem Abend verschwindet die Angst aus Ägypten:
"Was haben wir zu verlieren? Wir haben doch nichts mehr – keine Jobs, kein Einkommen, nichts. Wir müssen jetzt um unser Leben kämpfen. So wie ihr das in Europa gemacht habt. Ihr habt doch auch für eure Freiheit gekämpft. Wir haben das Recht, das gleiche zu tun. Wir werden dafür einen Preis zahlen. Wir sind dazu bereit. Ich hab eigentlich gar nichts mit Politik zu tun, die meisten von uns interessieren sich nicht für Politik. Wir wollen einfach genug zu essen haben, zur Arbeit gehen, sicher nach Hause gehen können. Wir wollen das, was sie in Amerika wollen, in Indien, in Deutschland: Dass unsre Kinder auf einem sauberen Kopfkissen schlafen, in einem sauberen Bett."
Mittwoch, 2. Februar 2011.
Doch etwas ist anders an diesem Tag. Es scheint, als braue sich etwas Böses zusammen, mit jeder Stunde scheint es näher zu kommen. Armee-Hubschrauber kreisen über der Innenstadt, und über die Nilbrücken zieht eine wütende Menge mit Eisenstangen und Mubarakportraits. Sie schwingen sie wie Säbel:
"Wir wollen Mubarak", brüllt uns einer an, "versteht ihr, elende Hunde, Mubarak ist unser Held. Wir sind seine Kinder". In den Seitenstraßen beginnen junge Männer damit, faustgroße Steine aus der Straße zu brechen.
Und plötzlich galoppiert eine wilde Kohorte Richtung Tahrir Platz, berittene Schlägertrupps, bewaffnet mit Schlagstöcken und Schlachtermessern. Es ist helllichter Tag, wir stehen zwischen Hochhaustürmen und zwei Fünfsternehotels im Zentrum einer Weltmetropole. Aber in diesem Moment werden wir von einer mittelalterlichen Kampfszene überrollt, hören Mubarakmubarak-Gebrüll, sehen wie eine regimetreue Lumpenkavallerie mit Pferden und Kamelen in eine friedliche Menschenmenge hinein stürmt.
Vor den Augen der Soldaten, die mit ihren Panzern am Straßenrand stehen, haut die Kohorte auf alles ein, was sich bewegt. Auf Frauen, auf Kinder. Ohne regierungsamtliche Duldung hätten diese berittenen Totschläger niemals ins Zentrum Kairos vorrücken können. Nun wüten sie als letztes Aufgebot eines Machthabers, den der Westen jahrzehntelang als Garant für Stabilität und Sicherheit im Nahen Osten hofierte. Es ist der dritte Versuch des Mubarak-Regimes, den Aufstand niederzuschlagen.
Der Donnerstag, die Nacht zum Freitag – über vierundzwanzig Stunden lang kämpft das alte Regime um seine Macht. Dann, am folgenden Morgen, ist es eigenartig still in der Stadt:
Wir gehen vorsichtig über verwüstete Straßen an qualmenden Barrikaden vorbei Richtung Tahrir. Ein Offizier kommt uns entgegen, streckt die Hand hin und sagt: Welcome to Egypt. Mit einem Mal wissen wir: Es ist vorbei. Die Armee, der entscheidende Machtfaktor, hat sich irgendwann in der zurückliegenden Nacht gegen Mubarak entschieden.
Freiheit, Freiheit, ruft ein Barrikadenkämpfer. Er trägt einen blutigen Kopfverband, aber darunter lacht er über das blau verschwollene Gesicht und zeigt das Victory-Zeichen.
"Das sind doch unsere Kinder, wir haben viel zu lange geschwiegen. Wir haben nichts getan, sie haben alles gemacht, wir haben sie im Stich gelassen."
Eine Frau erwischt seine Hand und bedeckt sie mit Küssen. "Frau Hanan", wehrt der Verwundete ab, "das geht doch nicht, das dürfen sie doch nicht tun". "Doch", sagt sie.
Nach 18 Tagen zwingt das Militär Mubarak zum Rücktritt. Wir wissen nicht, wie es geschah, wer es ihm sagte, wie er reagierte. Aber am frühen Abend verlässt Mubarak die ägyptische Hauptstadt und wird mit einem Militärhubschrauber nach Scharm el-Scheich ausgeflogen.
30 Jahre lang hat Hosni Mubarak Ägypten regiert. Vor Mubarak herrschte Sadat, vor Sadat herrschte Nasser, König Farouk und so weiter. Die Reihe der Potentaten reicht zurück bis zu Ramses II. - 3000 Jahre lang regierten nur Gewaltherrscher am Nil. Ihre Zeit ist nun zu Ende. 18 Tage genügten, um sich von dieser Kette loszureißen.
"Nieder mit Hosni Mubarak", rufen sie, "Brot, Freiheit, Menschenrechte" oder einfach "Versager, Versager, Versager". Die Sicherheitskräfte versuchen immer wieder, die Demonstranten aufzuhalten. Doch die Menge weicht aus und biegt in ein Wohnviertel ein. "Lauft mit", ruft einer älterer Herr den Zuschauern am Straßenrand zu und bleibt vor einem verarmt aussehenden Jungen stehen.
"Wir sind doch auch deinetwegen auf der Straße, dabei bin ich so alt wie dein Großvater. Wollt ihr nur zuschauen, während wir demonstrieren gehen? Wer hier Angst hat, der hat auch Angst vor Gott. Los lauft mit."
"Ich habe keine Angst."
Er habe keine Angst, sagt einer der Männer am Straßenrand. Er wolle nur kein Chaos. So ein Wechsel müsse friedlich geschehen.
"Nach dem Gebet habe ich viele Leute gesehen, die der Polizei entgegen traten. Sie haben Slogans gerufen, dieselben, die wir immer in den Protesten gehört haben, aber das Interessante war, dass kleine Fehler drin waren. Falsche Wörter. Da habe ich gemerkt – mein Gott, diese Leute waren noch nie vorher auf einer Demonstration!"
"Da ist er, der Terrorismus!", rufen sie den Polizisten zu, und: "Wo ist das ägyptische Volk?"
"Der Präsident muss mit uns reden. Er kann das Volk nicht einfach ignorieren, es gibt einen Willen des Volkes; die Regierung, der Präsident, sind doch Diener des Volkes."
"Wir sind aus dem Volk. Meine Söhne sind 15 und 17 Jahre alt und demonstrieren mit."
Er habe heute Geburtstag, und sei losgegangen um Ägypten zu befreien, sagt ein junger Mann. Seine Mutter steht neben ihm:
"Wir sind hier, weil dieses Land korrupt ist. Hier gibt es keine Demokratie, keine Freiheit, wir haben keine Rechte. Das kann doch nicht sein, dass einer 30 Jahre lang regiert."
Am Abend verschwinden die Polizisten. Überall: in Kairo, Suez, Alexandria. Es ist, als ziehe sich die Staatsgewalt beleidigt in die Kasernen zurück. Aber das scheint nur so. Innenminister Habib al Adli hat ein heimtückisches Geschenk für die Ägypter vorbereitet. Er gibt Befehl, die Gefängnisse zu öffnen: Tausende Strafgefangene werden auf freien Fuß gesetzt – Gewalttäter und Schwerverbrecher, politische Gefangene, radikale Islamisten und einfache Diebe.
Losgelassen auf eine wehrlose Stadt, ziehen sie in der Nacht durch die Straßen, plündern Läden, stoppen Autos, rauben Bürger aus. Auch Arme und Arbeitslose dringen in die aufgebrochenen Geschäfte ein und holen sich, was sie sich nie kaufen könnten. Das ist der zweite Versuch des Mubarak-Regimes, den Aufstand niederzuringen: Es will chaotische Verhältnisse schaffen, um später als Ordnungsmacht auftreten zu können.
Aber die Strategie geht nicht auf. Sie bewirkt eher das Gegenteil. In den Straßen von Kairo ballen nun auch Leute die Fäuste, die eigentlich gar nicht mitmachen wollten bei den Protesten. Arbeiter, Taxifahrer, kleine Angestellte:
"Die Polizei ist gegen das Volk. Erst schlägt sie auf unsre Kinder ein, und dann verschwindet sie plötzlich und macht die Gefängnisse auf. Was ist das für eine Polizei, die das eigene Volk verrät? Was ist das für eine Polizei, die sich zum Komplizen von Verbrechern macht?"
Allein gelassen vom Staat beginnen die Ägypter, ihre Sicherheit selbst zu organisieren. Sie bilden Bürgerwehren, kontrollieren die Zufahrtswege zu ihren Stadtvierteln und Straßen. Viele Waren, die gestohlen worden sind, werden in den folgenden Tagen in die Läden zurückgebracht. Den Staat erleben die Bürger nur noch als eine anonyme Bedrohung, als einen Feind, der sie terrorisiert und Ausgangssperren verhängt. Um 16 Uhr, heißt es im mubarak-hörigen Staatsfunk, seien die Straßen und Plätze Kairos zu räumen.
Um 15 Uhr 50 donnern zwei F16-Kampfjets im Tiefflug über das Stadtzentrum hinweg und drehen ab Richtung Osten. Eine Machtdemonstration, der Lärm so ohrenbetäubend, dass wir uns instinktiv ducken. Aber dann richten sich die Demonstranten auf dem Tahrir wieder auf. Sie bleiben – und fordern den Rücktritt Mubaraks.
Schon den ganzen Tag über hallt der Tahrir-Platz von Sprechchören wider, "Nieder mit Mubarak." Für heute hat die Opposition zum "Marsch der Millionen" aufgerufen. Die Menschenmassen in den Straßen sind nicht mehr zählbar. Und nirgendwo Polizei. Eben deshalb – und wegen der unfassbaren Disziplin der Menschenmasse – gibt es an diesem Tag keinen einzigen Toten, nicht einmal einen Verletzten.
Heute hat das Regime schon ab 15 Uhr die Ausgangssperre verhängt. Wieder wird sie vom staatlichen Rundfunk verkündet. Doch keiner kümmert sich mehr darum. Auch die regimetreuen Medien verlieren ihre Autorität. Und vor dem abgefackelten Gebäude der Regierungspartei stehen Familien, die sich gegenseitig fotografieren. Mubarak – game over, hat einer auf die rußgeschwärzte Fassade geschrieben. Aber Mubarak ist immer noch da. Er sitzt im feinen Stadtteil Heliopolis in seinem Präsidentenpalast. Und hat noch Befehlsgewalt.
Der Staat zeigt jetzt nur noch militärische Präsenz. Wüstensandgelbe, von den USA gelieferte Abram-Panzer, fahren überall auf – verstärken die Truppen vor dem Rundfunkgebäude, auf den Nilbrücken und rund um den Tahrir-Platz. Aus den Geschütztürmen schauen Soldaten ratlos hinunter auf das protestierende Volk. Eine alte Frau stellt sich ihnen entgegen. Sie trägt ein Tuch, das ihren ganzen krumm geschufteten Körper bedeckt.
In den Slumvierteln werden diese Schleier getragen, in Shobra, Imbaba, Boulak. Es sind die Schleier der Armut, schwarz, schmutzig, ausgefranst an den Rändern.
Anfangs wurde der Protest noch von den jungen, gebildeten Städtern getragen. Dann stießen die einfachen Bürger dazu. Nun sind auch die Habenichtse und Tagelöhner dabei, Arbeitslose, Analphabeten, Felachen vom Land.
Gestern waren sie noch die hoffnungslose, namenlose Masse Ägyptens, diejenigen, die laut Weltbank-Statistik über ein tägliches Einkommen von umgerechnet einem Dollar verfügen. Jetzt, mit einem Mal, haben sie Hoffnung. Und einen Namen. Du da oben, ruft Umm Nidal zu dem Soldaten auf dem Panzer hinauf, Du könntest mein Sohn sein:
"Wir wollen doch mit euch von der Armee keine Probleme haben. Wir wollen doch nur, dass aus Ägypten endlich ein schönes Land wird, etwas Gutes, auf das wir stolz sein können."
Das Volk steht jetzt auf dem Midan al Tahrir – dem großen Platz. Und es wird ihn nicht mehr verlassen. Lagerfeuer werden entzündet, Zelte aus Plastikplanen errichtet. Und mit einem Mal geht die Nachricht um, dass Mubarak im Staatsfernsehen sprechen wird. Niemand weiß wann. Aber in der Dunkelheit legen Jugendliche Wolldecken vor die Panzerketten, um unter den Stahlkolossen zu schlafen. Damit sie nicht losfahren können, sagen sie. An diesem Abend verschwindet die Angst aus Ägypten:
"Was haben wir zu verlieren? Wir haben doch nichts mehr – keine Jobs, kein Einkommen, nichts. Wir müssen jetzt um unser Leben kämpfen. So wie ihr das in Europa gemacht habt. Ihr habt doch auch für eure Freiheit gekämpft. Wir haben das Recht, das gleiche zu tun. Wir werden dafür einen Preis zahlen. Wir sind dazu bereit. Ich hab eigentlich gar nichts mit Politik zu tun, die meisten von uns interessieren sich nicht für Politik. Wir wollen einfach genug zu essen haben, zur Arbeit gehen, sicher nach Hause gehen können. Wir wollen das, was sie in Amerika wollen, in Indien, in Deutschland: Dass unsre Kinder auf einem sauberen Kopfkissen schlafen, in einem sauberen Bett."
Mittwoch, 2. Februar 2011.
Doch etwas ist anders an diesem Tag. Es scheint, als braue sich etwas Böses zusammen, mit jeder Stunde scheint es näher zu kommen. Armee-Hubschrauber kreisen über der Innenstadt, und über die Nilbrücken zieht eine wütende Menge mit Eisenstangen und Mubarakportraits. Sie schwingen sie wie Säbel:
"Wir wollen Mubarak", brüllt uns einer an, "versteht ihr, elende Hunde, Mubarak ist unser Held. Wir sind seine Kinder". In den Seitenstraßen beginnen junge Männer damit, faustgroße Steine aus der Straße zu brechen.
Und plötzlich galoppiert eine wilde Kohorte Richtung Tahrir Platz, berittene Schlägertrupps, bewaffnet mit Schlagstöcken und Schlachtermessern. Es ist helllichter Tag, wir stehen zwischen Hochhaustürmen und zwei Fünfsternehotels im Zentrum einer Weltmetropole. Aber in diesem Moment werden wir von einer mittelalterlichen Kampfszene überrollt, hören Mubarakmubarak-Gebrüll, sehen wie eine regimetreue Lumpenkavallerie mit Pferden und Kamelen in eine friedliche Menschenmenge hinein stürmt.
Vor den Augen der Soldaten, die mit ihren Panzern am Straßenrand stehen, haut die Kohorte auf alles ein, was sich bewegt. Auf Frauen, auf Kinder. Ohne regierungsamtliche Duldung hätten diese berittenen Totschläger niemals ins Zentrum Kairos vorrücken können. Nun wüten sie als letztes Aufgebot eines Machthabers, den der Westen jahrzehntelang als Garant für Stabilität und Sicherheit im Nahen Osten hofierte. Es ist der dritte Versuch des Mubarak-Regimes, den Aufstand niederzuschlagen.
Der Donnerstag, die Nacht zum Freitag – über vierundzwanzig Stunden lang kämpft das alte Regime um seine Macht. Dann, am folgenden Morgen, ist es eigenartig still in der Stadt:
Wir gehen vorsichtig über verwüstete Straßen an qualmenden Barrikaden vorbei Richtung Tahrir. Ein Offizier kommt uns entgegen, streckt die Hand hin und sagt: Welcome to Egypt. Mit einem Mal wissen wir: Es ist vorbei. Die Armee, der entscheidende Machtfaktor, hat sich irgendwann in der zurückliegenden Nacht gegen Mubarak entschieden.
Freiheit, Freiheit, ruft ein Barrikadenkämpfer. Er trägt einen blutigen Kopfverband, aber darunter lacht er über das blau verschwollene Gesicht und zeigt das Victory-Zeichen.
"Das sind doch unsere Kinder, wir haben viel zu lange geschwiegen. Wir haben nichts getan, sie haben alles gemacht, wir haben sie im Stich gelassen."
Eine Frau erwischt seine Hand und bedeckt sie mit Küssen. "Frau Hanan", wehrt der Verwundete ab, "das geht doch nicht, das dürfen sie doch nicht tun". "Doch", sagt sie.
Nach 18 Tagen zwingt das Militär Mubarak zum Rücktritt. Wir wissen nicht, wie es geschah, wer es ihm sagte, wie er reagierte. Aber am frühen Abend verlässt Mubarak die ägyptische Hauptstadt und wird mit einem Militärhubschrauber nach Scharm el-Scheich ausgeflogen.