Ein Völkermord

Von Arno Orzessek · 10.04.2010
Die NDR-Produktion "Aghet" über den Völkermord an den Armeniern vor 95 Jahren zeigt das Grauenhafte des Genozids in ungeheurer Dichte und mit historischer Schärfe. Zwischen 1915 und 1918 kamen bis zu 1,5 Millionen Menschen im Osmanischen Reich ums Leben, ermordet von osmanisch-türkischen Nationalisten unter Duldung des verbündeten deutschen Kaiserreichs.
"Die türkische Regierung wird die Verantwortung für alles, was geschehen ist, nicht ablehnen können. Denn sie hat die Verbannten mit Vorbedacht in dieses Chaos hineingetrieben."

Es war fast genau Mitternacht, als der Schauspieler Thomas Thieme die Worte von Walter Rößlers zitierte, Deutscher Konsul in Aleppo von 1910 bis 1918 ...

... und der Film "Aghet" nach 30 Minuten beklemmenden Aufschubs erste Opferfotografien zeigte: abgeschlagene Köpfe, ausgerissene Extremitäten, Gehängte, Verhungerte, offene Massengräber, Körper in jeder Abart des Dahingemordet-Seins, unzähligen Kindertod.

Das Grauenhafte des Genozids, das nun in ungeheurer Dichte und historischer Tiefenschärfe dokumentiert wurde, überlagerte die Empörung, die "Aghet" bereits mit den ersten Sequenzen ausgelöst hatte.

Denn es gibt, man weiß es, Millionen Menschen zumal in der Türkei, die den Völkermord an den Armeniern leugnen, verniedlichen oder mit leidigen Kriegszuständen und einzelnem Verrat, den es gab, entschuldigen. Der türkische Ministerpräsident Erdogan ist der prominenteste Leugner und einer der dreistesten. Er wird in "Aghet" so übersetzt:

"So etwas wie ein Genozid liegt unserer Gesellschaft fern. Wir werden einen solchen Vorwurf niemals akzeptieren ... "

Erdogan und Seinesgleichen stehen gegen eine historische Wahrheit auf, die außerhalb der Türkei keinem Zweifel unterliegt – "Aghet", der Film des in Australien gebürtigen NDR-Redakteurs Eric Friedler, hätte allein volle Beweiskraft.

Neben der Montage von historischem und aktuellem Bildmaterial hat Friedler schriftliche Quellen, etwa Diplomaten-Post, Tagebuchaufzeichnungen, Augenzeugenberichte, im Wortsinn zum Sprechen gebracht – das ist der eigentliche filmische Coup.

Vor allem deutsche Schauspieler – Axel Milberg als Zeitungskorrespondent Harry Stürmer, Martina Gedeck als schwedische Krankenschwester Alma Johansson, Burkhard Klaussner als Diakon Jacob Künzler – verlebendigen, auf einem Studio-Stuhl sitzend, die schriftliche Überlieferung. Sie spielen nicht, aber sie lesen auch nicht bloß vor, sie bleiben nicht neutral, aber eigentlich gestalten sie auch nicht, von gesteigerten Emotionen bei Zunahme des Grauenhaften abgesehen. Die Schauspieler sind im besten, gar nicht okkulten Sinn die Medien der Blutzeugen von damals.

Die übertragenen Texte sind unerbittlich packend, ihre sprachliche Qualität macht den Film oft zum Hörspiel.

"Als der heilige Krieg ausgerufen wurde, sahen wir schon, wohin es führen würde. Es wurden zündende Reden gehalten, in denen es hieß: Da wir doch gegen die Christen Krieg führen, müssen wir zunächst die Christen im Lande ausrotten. Auch rechneten die Türken alle damit, dass die russischen Truppen wenigstens bis Muschg kommen würden. Aber, so hieß, bevor das passiert, schlachten wir noch die Armenier. Nachher mögen sie kommen."

So Schwester Johannson alias Martina Gedeck. Der amerikanische Konsul Leslie A. Davies alias Hanns Zischler bemerkte über die im Juni 1915 befohlene Deportation der Armenier:

"Ein Massaker wäre, so schrecklich sich das anhört, im Vergleich zur Deportation human gewesen. Bei einem Massaker können immer einige entkommen. Aber eine Deportation dieses Ausmaßes bedeutete in einem Land wie der Türkei den sichereren und ungleich grausameren Tod von nahezu jedem der Betroffenen."

"Aghet" geht bis ans Ende. Verfolgt werden die Deportationszüge der Bagdad-Bahn und die Todesmärsche bis in die Wüsten Syriens, bis an die Tümpel, in der Frauen ihre Kinder ertränkten, um ihnen das absehbare Verdursten zu ersparen. Andere mussten anders sterben.

"Ich erinnere mich noch, meine Stiefmutter war schwanger. Sie haben sie umgebracht. Sie haben ihr ein Schwert in den Bauch gerammt, haben das Kind herausgeholt und haben dann angefangen zu lachen, weil es ein Junge war."

Und "Aghet" zeigt, welche Mitschuld die Deutschen am Völkermord hatten, zeigt Berlins Ignoranz, die zynische Behübschung der Ereignisse durch Politiker und Krone. Damals erschien die Türkei als Partner zu wichtig, um gegen die mörderischen Machenschaften aufzustehen. Heute erscheint die Türkei vielen zu wichtig, um sie zum Gedenken zu nötigen – Condoleeza Rice brachte es auf den Punkt:

"Als Akademikerin sind mir die Hintergründe klar. Aber als Außenministerin glaube ich, dass es für die Vereinigten Staaten am besten ist, sich in dieser Sache kein Urteil zu erlauben. Türken und Armenier sollen selbst eine Lösung finden. Und ja, die Türkei ist ein guter Verbündeter."

Geopolitik, Bündnis-Fragen, Wirtschaftsinteressen ... "Aghet" bekämpft die Ausreden konsequent. Es ist nicht entscheidend, ob man Eric Friedlers Werk neben Claude Lanzmanns "Shoa" gelten lässt. Der Film beeindruckt derart, dass man am Ende eine mögliche EU-Mitgliedschaft der Türkei an erster Stelle mit der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern verknüpft sehen will.

Um Empörung und Erschütterung nicht in anti-türkische Hetze einmünden zu lassen, schürt Friedler wohldosiert Aufklärungsoptimismus – vielleicht auch, um die Wirkung seines Films vorwegzunehmen.

Service:
"Aghet - die Katastrophe" von Eric Friedler ist am Dienstag, 13.04.10, um 20:15 Uhr als Wiederholung bei Phoenix zu sehen. Anschließend diskutiert in der "Phoenix-Runde" Alexander Kähler mit seinen Gästen über den Film und das Thema Völkermord an den Armeniern.