„Ein unverständliches Anpassen an das Böse“

Ernst Cramer, der diese Woche mit 96 Jahren verstarb, war einer der letzten aktiven deutschen Juden. Er wuchs in einer jüdischen Familie in Augsburg auf, besuchte dort ein Gymnasium und engagierte sich im nicht-zionistischen „Bund deutsch-jüdischer Jugend“.
In einer Rede vor dem Bundestag 2006, am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, sagte er:
„Als ich aufwuchs und zur Schule ging, war beides, Judentum und Deutschtum, etwas Selbstverständliches, etwas scheinbar Untrennbares.“
Nach Hitlers Machtergreifung 1933 wurde jedoch der Deutsche Ernst Cramer, dessen Familie mütterlicherseits in Augsburg seit dem 15. Jahrhundert gelebt hatte, zum Juden gemacht, wie er sagte:
„Und wenn ich zurückblicke auf den Anfang, dann war damals das Schlimmste, in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Diktatur, dass Menschen, mit denen man bisher normal verkehrte, ja mit denen man befreundet war, sich plötzlich rarmachten. Man fühlte sich auf einmal als Außenseiter, als Paria, als Ausgestoßene. Und das war nicht nur, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg oft verharmlosend hieß, Feigheit oder Angstsein. Es war für die meisten ein unverständliches Anpassen an das Böse.“
Nach einem Volontariat in einem jüdischen Auswandererlehrgut und einer Verhaftung im KZ Buchenwald gelang ihm am 4. August 1939 die Flucht aus seiner Heimat – als einer der letzten Juden. Seine Eltern und sein Bruder wurden 1942 deportiert und ermordet.
Die deutsche Sprache blieb Ernst Cramers geistige Heimat. Er kehrte im Mai 1945 als amerikanischer Offizier zurück. Er wollte mithelfen, dass in Deutschland wieder Vernunft, Anstand und Gerechtigkeit herrschen, Freiheit und Demokratie. Wie er das aushielte, wenn ringsherum so viele Nazi-Täter unbehelligt lebten, wurde er in einem Zeitungsinterview gefragt:
„Die Stimmung unter den Siegern stand damals noch auf Rache. Mir aber war klar: Hätten sich die Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg gegenüber Deutschland vernünftiger verhalten, wäre es nie zum Zerfall der Weimarer Republik gekommen, wir hätten keinen Holocaust gehabt, auch keinen Zweiten Weltkrieg. Ich wollte also dabei helfen, das dieses Mal zu vermeiden.“
Über 50 Jahre arbeitete Ernst Cramer im Springer-Konzern. Er war nach Axel Springer die prägendste Figur des Verlags gewesen. Bis vor einigen Jahren schrieb er seine Texte auf seiner alten Schreibmaschine, erinnert sich Stephan Cramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, der ihn in dessen Büro oft besuchte. Ihre Begegnungen hatten oft einen familiären Charakter:
„Erstens natürlich, obwohl wir anders geschrieben werden, ich mit ‚K‘, er mit ‚C‘, sind wir öfters ... bei verschiedenen Gelegenheiten ... nicht miteinander verwechselt worden, aber mindestens haben mir Leute gesagt: ‚Ach, Sie sind doch bestimmt verwandt, wenn nicht sogar der Sohn, was ich leider immer ablehnen musste, weder die Verwandtschaft noch der Sohn zu sein. Und das hatte dazu geführt, dass er immer Scherze gemacht hat, wenn wir uns begegnet sind ... so nach dem Motto: Wie geht's denn meinem Sohn?“
Ernst Cramer war ein Mensch im jüdischen Sinne des Wortes, sagt Stephan Cramer. Die Bescheidenheit in Person, neugierig und diskret. Er behandelte sein Gegenüber, auch Andersdenkende, immer mit Respekt.
Ernst Cramer propagierte die Versöhnung zwischen Deutschland und Israel und die Wiedervereinigung und bekämpfte Antisemitismus, Rassismus und Kommunismus. In den letzten Jahren trat er oft als Zeitzeuge und Überlebender des Holocaust auf:
„Ich hatte nicht den Eindruck, dass er ein Deutscher war, der zufällig Jude ist oder der so nebenbei Jude ist, sondern ich denke, er lebte beides, sowohl das Deutschsein als auch die Jüdischkeit, wobei man hinzufügen muss: Er hatte durch seine Zeit in den USA eine sehr enge Bindung in die Vereinigten Staaten. Also wenn, dann musste man sagen: Er ist wahrscheinlich amerikanisch, deutscher Jude gewesen und alles für sich genommen noch einmal speziell und intensiv.“
Ernst Cramer war ein bewusster Jude, trug aber sein Judentum nicht vor sich her. Er brauchte das auch nicht, um Menschen zu überzeugen. Durch sein Lebenswerk erntete er genug Ansehen. Dennoch verfolgte er das Geschehen in der jüdischen Gemeinde aus nächster Nähe:
„Weil er eben eine solche Persönlichkeit war, wurde er von vielen aus der jüdischen Gemeinschaft angesprochen, auch mit den Sorgen tangiert worden und man erhoffte sich von ihm, ... fast wie eine Institution als Rabbiner ... gute Ratschläge. (Insofern war er manchmal sogar besser informiert über die Geschehnisse hinter den Kulissen in der jüdischen Gemeinschaft als das andere gewesen sind).“
„Ich habe ihn bei verschiedenen Gelegenheiten in der Synagoge gesehen ... Also ich habe ihn das letzte Mal bei Chabad gesehen in einer Veranstaltung, was nicht unbedingt heißt, dass er ein regelmäßiger Synagogengänger oder Anhänger von Chabad ist. Das kann ich mir auch nicht vorstellen. Dazu war er viel zu plural und demokratisch und weltoffen erzogen.“
Ein liberaler Jude war Ernst Cramer nicht, eher traditionell konservativ. Als Mann der leisen Töne verschaffte er sich in der jüdischen Gemeinde Respekt jenseits aller politischen, persönlichen oder religiösen Richtungen. Sein Engagement für Israel verwirklichte er ab 2004 durch das Ernst-Cramer-Stipendium. Im Rahmen dieses Programms können junge deutsche Journalisten einen zweimonatigen Arbeitsaufenthalt bei israelischen Medien und israelische bei deutschen Medien absolvieren. Die Sorge um Israels Sicherheit trieb ihn bis zuletzt. In seinem letzten Kommentar, der an diesem Mittwoch erschienen ist, warnte er vor der atomaren Aufrüstung des Irans. Diesem Antisemitismus muss man aktiv entgegentreten, war sein letzter Wunsch.
Nachruf auf Ernst Cramer auf Website der Axel Springer AG
„Als ich aufwuchs und zur Schule ging, war beides, Judentum und Deutschtum, etwas Selbstverständliches, etwas scheinbar Untrennbares.“
Nach Hitlers Machtergreifung 1933 wurde jedoch der Deutsche Ernst Cramer, dessen Familie mütterlicherseits in Augsburg seit dem 15. Jahrhundert gelebt hatte, zum Juden gemacht, wie er sagte:
„Und wenn ich zurückblicke auf den Anfang, dann war damals das Schlimmste, in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Diktatur, dass Menschen, mit denen man bisher normal verkehrte, ja mit denen man befreundet war, sich plötzlich rarmachten. Man fühlte sich auf einmal als Außenseiter, als Paria, als Ausgestoßene. Und das war nicht nur, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg oft verharmlosend hieß, Feigheit oder Angstsein. Es war für die meisten ein unverständliches Anpassen an das Böse.“
Nach einem Volontariat in einem jüdischen Auswandererlehrgut und einer Verhaftung im KZ Buchenwald gelang ihm am 4. August 1939 die Flucht aus seiner Heimat – als einer der letzten Juden. Seine Eltern und sein Bruder wurden 1942 deportiert und ermordet.
Die deutsche Sprache blieb Ernst Cramers geistige Heimat. Er kehrte im Mai 1945 als amerikanischer Offizier zurück. Er wollte mithelfen, dass in Deutschland wieder Vernunft, Anstand und Gerechtigkeit herrschen, Freiheit und Demokratie. Wie er das aushielte, wenn ringsherum so viele Nazi-Täter unbehelligt lebten, wurde er in einem Zeitungsinterview gefragt:
„Die Stimmung unter den Siegern stand damals noch auf Rache. Mir aber war klar: Hätten sich die Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg gegenüber Deutschland vernünftiger verhalten, wäre es nie zum Zerfall der Weimarer Republik gekommen, wir hätten keinen Holocaust gehabt, auch keinen Zweiten Weltkrieg. Ich wollte also dabei helfen, das dieses Mal zu vermeiden.“
Über 50 Jahre arbeitete Ernst Cramer im Springer-Konzern. Er war nach Axel Springer die prägendste Figur des Verlags gewesen. Bis vor einigen Jahren schrieb er seine Texte auf seiner alten Schreibmaschine, erinnert sich Stephan Cramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, der ihn in dessen Büro oft besuchte. Ihre Begegnungen hatten oft einen familiären Charakter:
„Erstens natürlich, obwohl wir anders geschrieben werden, ich mit ‚K‘, er mit ‚C‘, sind wir öfters ... bei verschiedenen Gelegenheiten ... nicht miteinander verwechselt worden, aber mindestens haben mir Leute gesagt: ‚Ach, Sie sind doch bestimmt verwandt, wenn nicht sogar der Sohn, was ich leider immer ablehnen musste, weder die Verwandtschaft noch der Sohn zu sein. Und das hatte dazu geführt, dass er immer Scherze gemacht hat, wenn wir uns begegnet sind ... so nach dem Motto: Wie geht's denn meinem Sohn?“
Ernst Cramer war ein Mensch im jüdischen Sinne des Wortes, sagt Stephan Cramer. Die Bescheidenheit in Person, neugierig und diskret. Er behandelte sein Gegenüber, auch Andersdenkende, immer mit Respekt.
Ernst Cramer propagierte die Versöhnung zwischen Deutschland und Israel und die Wiedervereinigung und bekämpfte Antisemitismus, Rassismus und Kommunismus. In den letzten Jahren trat er oft als Zeitzeuge und Überlebender des Holocaust auf:
„Ich hatte nicht den Eindruck, dass er ein Deutscher war, der zufällig Jude ist oder der so nebenbei Jude ist, sondern ich denke, er lebte beides, sowohl das Deutschsein als auch die Jüdischkeit, wobei man hinzufügen muss: Er hatte durch seine Zeit in den USA eine sehr enge Bindung in die Vereinigten Staaten. Also wenn, dann musste man sagen: Er ist wahrscheinlich amerikanisch, deutscher Jude gewesen und alles für sich genommen noch einmal speziell und intensiv.“
Ernst Cramer war ein bewusster Jude, trug aber sein Judentum nicht vor sich her. Er brauchte das auch nicht, um Menschen zu überzeugen. Durch sein Lebenswerk erntete er genug Ansehen. Dennoch verfolgte er das Geschehen in der jüdischen Gemeinde aus nächster Nähe:
„Weil er eben eine solche Persönlichkeit war, wurde er von vielen aus der jüdischen Gemeinschaft angesprochen, auch mit den Sorgen tangiert worden und man erhoffte sich von ihm, ... fast wie eine Institution als Rabbiner ... gute Ratschläge. (Insofern war er manchmal sogar besser informiert über die Geschehnisse hinter den Kulissen in der jüdischen Gemeinschaft als das andere gewesen sind).“
„Ich habe ihn bei verschiedenen Gelegenheiten in der Synagoge gesehen ... Also ich habe ihn das letzte Mal bei Chabad gesehen in einer Veranstaltung, was nicht unbedingt heißt, dass er ein regelmäßiger Synagogengänger oder Anhänger von Chabad ist. Das kann ich mir auch nicht vorstellen. Dazu war er viel zu plural und demokratisch und weltoffen erzogen.“
Ein liberaler Jude war Ernst Cramer nicht, eher traditionell konservativ. Als Mann der leisen Töne verschaffte er sich in der jüdischen Gemeinde Respekt jenseits aller politischen, persönlichen oder religiösen Richtungen. Sein Engagement für Israel verwirklichte er ab 2004 durch das Ernst-Cramer-Stipendium. Im Rahmen dieses Programms können junge deutsche Journalisten einen zweimonatigen Arbeitsaufenthalt bei israelischen Medien und israelische bei deutschen Medien absolvieren. Die Sorge um Israels Sicherheit trieb ihn bis zuletzt. In seinem letzten Kommentar, der an diesem Mittwoch erschienen ist, warnte er vor der atomaren Aufrüstung des Irans. Diesem Antisemitismus muss man aktiv entgegentreten, war sein letzter Wunsch.
Nachruf auf Ernst Cramer auf Website der Axel Springer AG