Ein unrühmliches Stück SPD-Geschichte

Rezensiert von Günter Müchler · 29.09.2006
In den 80er Jahren verharrten die Sozialdemokraten trotz der Umwälzungsprozesse jenseits des Eisernen Vorhangs in den Kategorien ihrer Ostpolitik der 70er Jahre und ignorierten den inneren Zerfall des DDR-Systems. Dass die SPD 1989 in der Einschätzung der historischen Chance völlig falsch lag und bis heute dieses unrühmliche Kapitel ihrer Geschichte nicht aufgearbeitet hat, zeigt das Buch "Uneinig in die Einheit" von Daniel Friedrich Sturm.
Ideologie ist wie eine beschlagene Brille. Sie erschwert die Orientierung, verweigert sich der Erfahrung, und irgendwann ist der Zusammenstoß mit der Wirklichkeit unvermeidbar. Der SPD passierte das 1989. Weil sie die Entspannungspolitik der frühen siebziger Jahre verbürokratisiert hatte, weil Teile der Partei die Spaltung Deutschlands als Preis missverstanden, den man für den Frieden bezahlen müsse, weil andere sich den Traum vom Sozialismus nicht nehmen lassen wollten, setzte die SPD-Führung auch dann noch auf die Greise im Politbüro des SED-Staates, als deren Reformunfähigkeit längst unübersehbar geworden war.

So wurde die SPD machtpolitisch zur Verliererin der Einheit. Analysiert hat sie ihre Fehler bis heute nicht. Das Fach Gewissenserforschung gehört nun einmal nicht zu den Stärken unserer Parteien. Für die SPD kam erschwerend hinzu, dass in den Jahren nach der Wiedervereinigung ihr Frontmann Oskar Lafontaine hieß, also jemand, der in der Wendezeit am entschiedensten auf der falschen Spur gefahren war und dem infolgedessen an einer kritischen Aufarbeitung ebenso wenig gelegen war wie beispielsweise Egon Bahr. Dieser, gepriesener Architekt der inzwischen veralteten "neuen Ostpolitik", in der entscheidenden Phase nur noch sein eigener Archivverwalter, war von der Entwicklung im Osten Deutschlands vollkommen überrollt worden.

Daniel Friedrich Sturms Buch "Uneinig in die Einheit" blättert das für die SPD so bittere Kapitel 1989 noch einmal auf. Gestützt auf eine solide Quellenbasis arbeitet es die Fehleinschätzungen und Verspannungen der damaligen SPD-Führungsriege einschließlich der beträchtlichen internen Dissonanzen gekonnt heraus. Dass der Autor unverkennbar eine Grundsympathie für die SPD hegt, schadet dem Buch nicht, sondern stärkt dessen Überzeugungskraft.

So wertet Sturm die durch die Regierung Brandt/Scheel eingeleitete Phase der neuen Deutschland- und Ostpolitik ohne Einschränkung positiv.
Ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre veränderte diese Politik nach und nach ihren Charakter. Hatte die Sicherung des Status quo bis dahin Ersatzfunktion für den unerfüllbaren Wunsch nach staatlicher Wiedervereinigung besessen, wurde jetzt Stabilität unter dem heilversprechenden Signum der Friedenspolitik zum Selbstzweck.

Das Prekäre dieser Politik, die eben auch Hinnahme von Unfreiheit und Paktieren mit dem Unrechtsstaat bedeutete, kam nirgendwo deutlicher zum Vorschein als bei den fragwürdigen Sonderbeziehungen, die die SPD mit den östlichen Realsozialisten anknüpfte, kaum hatte sie die Macht in Bonn verloren. Da wurden Konzepte für eine "chemiewaffenfreie Zone" und einen "atomwaffenfreien Korridor" auf Papier geschrieben. Von herausgehobener Gruseligkeit war aus heutiger Sicht der so genannte "Dialog zwischen der Grundwertekommission der SPD und der Akademie der Wissenschaften beim ZK der SED". Kopfschüttelnd fragt der Autor:

"Was brachte Männer wie Eppler dazu, darüber zu beraten, wie der Sozialismus reformiert werden könne? Das Ansinnen, als Oppositionspartei eine Chance zu ergreifen, auf einem Politikfeld wirken zu können, ist verständlich. Doch ging es hier wirklich um praktische Politik mit konkretem Nutzen für die Menschen? Grundwertekommission und Gesellschaftswissenschaftler stritten viel mehr über ideologische Fragen. Sie führten theoretische Debatten. Doch musste die SPD solche Diskussionen ausgerechnet mit der SED führen? Und dies auf Augenhöhe?"

Es mutet heute sonderbar an, dass die ja keineswegs heimlichen Mechanismen der Unterdrückung in der DDR Honeckers in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit, die Wissenschaft eingeschlossen, kaum Interesse fanden. Wurde sonst gegen Menschenrechtsverletzungen in aller Welt routiniert getrommelt, betrachtete man Hinweise auf das Wüten der politischen Justiz in der DDR als peinlich und störend. Gerhard Schröder, der spätere Bundeskanzler, war nicht der einzige führende Sozialdemokrat, der die Liebedienerei vor den SED-Kadern so weit trieb, dass er für eine Auflösung der Erfassungsstelle Salzgitter plädierte, wo von biederen Beamten das von der DDR-Staatsmacht an ihren Bürgern begangene Unrecht registriert wurde.

An dieser Appeasement-Linie änderte sich auch dann wenig, als Ende 1988 die immer nervöser werdende SED die Repressionsmaschine auf Hochtouren brachte, als die perestroika-orientierte Zeitschrift "Sputnik" verboten wurde, sich Verhaftungen zum Beispiel im Zusammenhang mit der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration, den Vorgängen um die Zionskirche häuften und Honecker dümmlich von "Ochs und Esel" schwadronierte. Als dazu aus der Eppler-Kommission kritische Worte kamen, gab Heidemarie Wieczorek-Zeul in der Präsidiumssitzung vom 3. April 1989 verständnislos zu Protokoll, "sie könne nicht feststellen, dass sich die Repressionen in der DDR in dieser Zeit verstärkt" hätten.

Der Fühlungsnahme mit der erstarkenden Bürgerbewegung ging die SPD-Zentrale konsequent aus dem Wege. Man wollte nicht "destabilisieren". Mit diesem Argument hatte Parteichef Hans-Jochen Vogel schon die Unterstützung der polnischen Solidarnocz untersagt. Entsprechend ignorierte die Baracke die am 7. Oktober gegründete SDP. Noch Tage nach dem Mauerfall warnte Bundesgeschäftsführer Bettermann in einem internen Rundbrief vor Berührungen mit der SDP. Wörtlich: "Das Präsidium der SPD rät momentan dringend von der Aufnahme derartiger Kontakte in die DDR ab."

Dann kam Dresden, der 19. Dezember. Vor der Frauenkirche, damals noch Ruine, hielt Helmut Kohl seine wohl bedeutendste Rede. Vor einer begeisterten Menge, die mit ihren Rufen und Fahnen das jahrzehntelang eingetrichterte "DDR-Staatsbewusstsein" als Propagandamüll enttarnte, erwies sich der Kanzler als kraftvoller Deichgraf in geschichtlicher Stunde: Die gefahrvollen Wogen der Begeisterung dämpfend, eröffnete er mit seiner Rede doch zugleich einen Blick auf das weite Land vor dem Deich.

Es war dieser 19. Dezember, an dem klar wurde, dass der Zug in Richtung Einheit fuhr und, um Edgar Wolfrum zu zitieren, "alle vermeintlichen Gewissheiten über die deutsche Zweistaatlichkeit als dem vorgeblich logischen Ende aller Sonderwege" durch das Plebiszit der Menschen in der DDR hinweggespült werden würde. Ausgerechnet an diesem Tage hämmerte Oskar Lafontaine den Delegierten des SPD-Parteitages in Berlin das internationalistische Credo der Sozialdemokratie ein. Statt Verständnis für den Massenexodus der Menschen aus der DDR zu äußern, attackierte er die Bundesrepublik: "Wer unser System preist, hat überhaupt nicht die Zeichen der Zeit verstanden." Dresden und Berlin: Niemals fand die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen einen bizarreren Ausdruck.

Daniel Friedrich Sturm gibt den 1989 für die SPD handelnden Personen eine klare Kontur. Brandt war für ihn "ein Segen", Bahr als Mann einer vergangenen Epoche.

"Bahr war stets Diplomat. Doch Diplomaten … setzen allein auf Staaten. Für Interessen, Gruppierungen und gesellschaftliche Bewegungen interessieren sie sich nicht. Sein allein auf die SED fixierter Blick und die Geringschätzung gesellschaftlicher Gruppen halfen der SED und hinderten die Opposition. Wenn Bahr über seine Gespräche mit Axen oder noch lieber mit Falin berichtete, erschien er als Geheimdiplomat der wilhelminischen Eiche – und dies mitten in der Ära Gorbatschow!"

Kritisch beleuchtet Sturm die Rolle Vogels, der Bahr zu lange habe gewähren lassen. Doch attestiert er ihm eine schwierige Rolle. Autoritär agierend wie Wehner, habe er sich durch die "Enkel" immer stärker eingeengt gefühlt. Die waren durch die Denkmuster der Achtundsechziger geprägt.

"Mailand lag den ‚Enkeln’ Brandts näher als Magdeburg. Begleitet wurde dies zuweilen von dem Bestreben, die Zustände in der DDR zu relativieren und die Menschenrechtsthematik aus den Augen zu verlieren. Der eigentliche Gegner, so schien es zuweilen, saß im Westen, jenseits des Atlantik … Hinzu kam ein eigenartiger Werterelativismus. So betrachteten viele führende Sozialdemokraten das bundesrepublikanische Gesellschaftssystem kritischer als das der DDR."

Obwohl man dem Buch wünschen würde, ein sorgsameres Lektorat gehabt zu haben, lohnt die Lektüre. Das Buch dokumentiert ein Stück SPD-Biographie und ist doch mehr als Parteigeschichte: Die Wiedervereinigung wurde ja nicht deshalb möglich, weil sie von den Politikern und Intellektuellen der alten Bundesrepublik so heiß ersehnt und so tätig vorbereitet worden wäre. Das Gegenteil war der Fall. Viele begrüßten das Ende der Teilung mit "gestopften Trompeten". Dieses Wort von Hans-Peter Schwartz trifft nicht nur, doch vor allem auf die Sozialdemokraten zu. Die Gründe werden in dem Buch von Daniel Friedrich Sturm benannt.

Daniel Friedrich Sturm: Uneinig in die Einheit
Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90
Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2006
Daniel Friedrich Sturm: "Uneinig in die Einheit" (Coverausschnitt)
Daniel Friedrich Sturm: "Uneinig in die Einheit" (Coverausschnitt)© Verlag J.H.W. Dietz Nachf