"Ein unglaublich bescheidener Mann"
Anlässlich des 200. Geburtstages des 16. Präsidenten der USA, Abraham Lincoln, hat der Politikwissenschaftler Ekkehart Krippendorf dessen Bedeutung für die demokratische Entwicklung des Landes hervorgehoben. Das Besondere an Lincoln sei auch gewesen, dass er zuhören konnte, sich zurückgenommen und in Frage gestellt habe, sagt Krippendorf.
Katrin Heise: Vor 200 Jahren wurde Abraham Lincoln geboren. Eine der berühmtesten Reden, vielleicht sogar die berühmteste Rede in der amerikanischen Geschichte, war keine drei Minuten lang. Gehalten von Abraham Lincoln mitten im Bürgerkrieg 1863 zur Einweihung eines Soldatenfriedhofs in Gettysburg. Er charakterisierte die Demokratie darin als Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk.
Nie hat jemand auf einen so knappen Begriff gebracht, was Demokratie ist. Noch heute lernen amerikanische Schüler diese Rede auswendig. Ekkehart Krippendorff ist Politikwissenschafter und erimitierter Professor am John-F.-Kennedy-Institut Berlin und kann die Rede wahrscheinlich auch auswendig, jedenfalls hat er sie mal kommentiert. Herr Krippendorff, ich grüße Sie.
Ekkehart Krippendorff: Danke.
Heise: Was ist es bei Abraham Lincoln, was ihn zu einem so großen, vielleicht dem größten Präsidenten der USA macht?
Krippendorff: Ja, mit dem größten, das ist so eine ambivalente Definition, aber er ist schon eine überragende Figur gewesen. Vor allen Dingen deswegen, weil er nicht aus der alten politischen Klasse kam. Er ist ein Mann, der von unten kam, der Holzfäller war, Tischler, Flussschiffer und so, sich selber gebildet hatte. Er war eigentlich Analphabet ursprünglich, hat das also selber sich alles angelernt. Also ganz ungewöhnliche Biografie.
Er wurde dann Rechtsanwalt, hat selber sich das Recht beigebracht, sozusagen das privat studiert, und wurde ein hervorragender Anwalt. Und in dieser Eigenschaft als Anwalt hat er eine Fähigkeit entwickelt, die wenig Leute in der politischen Klasse eigentlich haben, nämlich zuhören zu können und die andere Seite immer zu sehen. Und das war für ihn als politische Erfahrung sehr wichtig, auch immer die andere Seite mit zu sehen.
Heise: Als er dann das politische Zepter übernommen hat, war ja gerade eine Zeitenwende. Es ging um die Sklaverei, und da waren die zwei Seiten sehr gespalten. In einigen Staaten der USA war die Sklaverei unhinterfragt gang und gäbe, andere haben sich klar dagegen ausgesprochen. Was hat das eigentlich in so einer Situation bedeutet, sich als Präsident gegen die Sklaverei zu positionieren?
Krippendorff: Nun, er sagte sehr richtig, ein Haus kann nicht zu gleicher Zeit geteilt sein zwischen zwei abgeschotteten Räumen, also man nicht gleichzeitig frei und unfrei sein. Er war ein Gegner der Sklaverei, aber das Wichtige ist, glaube ich - und er hat auch immer wieder darüber selber nachgedacht, es auch ausgesprochen -,es ging ihm weniger um die Sklaverei zunächst einmal, sondern es ging ihm um die Erhaltung der Union, um die Erhaltung der USA, des Staatsverbandes. Weil das war ja nicht klar gewesen, 1776 wurden die ja gegründet als Vereinigte Staaten von Amerika, in denen der Präsident sozusagen eine Verwalterfunktion haben sollte.
Das Regieren sind die Gouverneure der einzelnen Staaten. Und da war es eigentlich nicht klar, ob es möglich sein würde für einzelne Staaten, auch wieder auszutreten aus diesem Vereinigte-Staaten-Bund. Also ist es ein Bundesstaat oder ein Staatenbund? Und diese Entscheidung stand an. Und für Lincoln war der Erfolg oder das Scheitern des Staatenbundes identisch mit Erfolg oder Scheitern des Entwurfes der Republik, der Demokratie, dieser Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk.
Heise: Er wollte den Bürgerkrieg nicht, aber er hat ihn dann quasi in Kauf genommen, und er hat ihn geführt. War er ein Krieger?
Krippendorff: Nein, überhaupt nicht, sondern ein völlig ziviler Mann, aber er war eben kein Pazifist, und sagte, es muss eben durchgekämpft werden. Aber die Logik, warum er sagte, es ist gerecht, diesen Krieg zu führen, ist auch, dass der Reichtum, der angehäuft wurde in den Südstaaten durch die Sklaverei - es war ja ein reicher Teil der USA -, dass dieser Reichtum mit unfairen oder gotteswidrigen, unchristlichen Mitteln erwirtschaftet worden ist. Und deshalb darf man eben ihn in diesem Falle zerstören und darf Krieg führen.
Heise: Aber nicht nur irgendeinen Krieg, sondern einen der blutigsten Kriege Amerikas. Also sozusagen für ein humanes Ziel?
Krippendorff: Ja, das wusste man natürlich nicht vorher, dass es der blutigste Krieg sein würde, und es ist eigentlich bis heute der blutigste Bürgerkrieg überhaupt gewesen, weil auch zum ersten Mal mit moderner Technik geführt. Es wurde das Maschinengewehr zum ersten Mal eingesetzt, es wurden zum ersten Mal U-Boote gebaut, es wurden Panzerschiffe gebaut, es wurde der Stacheldraht erfunden, Schützengräben. All diese moderne Kriegführung wurde hier zum ersten Mal ausprobiert und auch die Technik der verbrannten Erde, womit er dann den Süden in den Knie gezwungen hat.
Heise: Wie hat er dann die Menschen aber mitgenommen? Er brauchte ja unglaublich viele Soldaten.
Krippendorff: Na ja, das war gar nicht so einfach. Es gab auch Wehrdienstverweigerung, es gab "riots" (Unruhen, Anm. der Redaktion) in New York, Leute, die wollten sich nicht einziehen lassen. Es war also nicht einfach, die Soldaten zu bekommen. Aber trotzdem war die Faszination mit dem Projekt USA auch bei den sogenannten kleinen Leuten doch sehr groß. Und der Appell, wir verteidigen hier die Union, wir verteidigen die Errungenschaft der Demokratie, die hat gezogen ideologisch.
Heise: Abraham Lincoln wurde heute vor 200 Jahren geboren, unser Thema im Deutschlandradio Kultur mit Ekkehart Krippendorff. Also, Sie betonen die Kraft einer Idee. Diese Kraft einer Idee, die muss ein Politiker aber auch rüberbringen können. Da kommen wir vielleicht doch noch mal auf diese Gettysburg-Rede zurück. Da drücken sich seine Fähigkeiten aus, Leute mitzunehmen, in der Rede.
Krippendorff: Ja, er war ein großer Redner. Wir haben ja keine Tondokumente mehr davon, das gab es damals noch nicht, aber wir haben die Texte. Er hat an seinen Reden sehr intensiv gearbeitet, das war nicht bloß seine natürliche Gabe, sondern eben auch harte Arbeit. Und er hat gesetzt auf die Kraft der Überzeugung und wurde berühmt zunächst mal auf dem Wege in die Präsidentschaft durch eine Serie von Debatten mit seinem Konkurrenten. Und da kamen die Leute also von weit her, mit Kutschwagen, da gibt es Bilder davon, gefahren. Diese Reden, diesen Disput wollten sie anhören. Also hier wurde eigentlich zum ersten Mal, was dann später in den 60er-Jahren mit den Kennedy-Nixon-Debatten am Fernsehen nun zu einer Institution geworden ist, hat damals mit Lincoln angefangen.
Heise: Also die Kraft der Rede und der Widerrede. Sie haben aber auch neulich im "Tagesspiegel" geschrieben und Sie haben es auch vorhin erwähnt, sein großes Können war auch das Zuhören und das Einfühlen. Er hat sich ja selbst die Argumente der Sklavenhalter angehört. Wo endeten seine Kompromisse denn oder seine Kompromisssuche?
Krippendorff: Die endeten dann in der Tat bei der Freiheit beziehungsweise der Versklavung von Menschen, sagt, das ist von Gott nicht gewollt und das dürfen wir nicht tolerieren. Wie man aber wegkommt davon, das ist eine zweite Frage. Und da bestand er nicht darauf, dass das nur kriegerisch möglich sein sollte, hat es aber in Kauf genommen. Aber hat doch versucht, der anderen Seite immer zu sagen, wenn ihr anfangt …
Heise: … dann schießen wir zurück.
Krippendorff: … müssen wir zurückschießen. Aber ihr müsst anfangen. Und das war die berühmte Geschichte. Da gab es ein Fort, das Fort Sumter, und das war in North Carolina und das war in Bundesbesitz und war umgeben von North Carolina, der ein sehr sozialistischer Staat war. Wie kann man Fort Sumter halten? Wenn er Waffen hingeschickt hätte, wäre das ein Vorwand zum Krieg gewesen. Da hat er gesagt, ich schicke nur Lebensmittel hin. Und der Süden hat darauf nicht reagiert, haben sofort geschossen. Also sie haben Fort Sumter bombardiert und damit haben sie den Krieg erklärt, und sagt, gut, wenn ihr es wollt, dann müssen wir es leider durchkämpfen.
Heise: Lincoln kämpfte also quasi dafür, die Wirklichkeit der Verfassung, also alle Menschen sind gleich, anzunähern. Inwieweit zieht sich das eigentlich durch die US-amerikanische Geschichte, diese Spannung zwischen Wirklichkeit und Verfassung?
Krippendorff: Nun, Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit ist eine Spannung, in der alle Republiken, alle Staaten, alle demokratisch verfassten Staaten leben. Aber in den USA ist noch besonders, die Gettysburg-Rede bezieht sich ja auch mit dem ersten Satz "four score and seven years ago" nicht auf die Verfassung von '83, sondern auf die Unabhängigkeitserklärung von '76, die eben sagt, das ist die berühmte Formulierung von Jefferson, "we hold this truth to be self-evident … that all men are created equal", dass alle Menschen gleich geschaffen sind. Darauf bezieht sich Lincoln, nicht aber auf die Verfassung. Das heißt, vor der Verfassung liegt diese Erklärung der Rechte des Menschen und der Gleichheit der Menschen. Das ist auch später dann noch mal wichtig geworden und ist eigentlich bis heute wichtig geblieben, Martin Luther King hat sich auch darauf berufen, nicht auf die Verfassung.
Heise: Also auf noch etwas Höheres.
Krippendorff: Auf etwas Höheres, etwas, was dem eben vorausgeht.
Heise: Obama bezieht sich auf Lincoln, wird auch vielleicht sogar mit ihm verglichen. Ist das zu hoch gegriffen?
Krippendorff: Jeder darf so hoch greifen, wie er kann. Und es ist sehr hoch gegriffen. Aber Obama ist ein Mann, der zutiefst überzeugt ist - und wenn man seine Biografie liest, seine Autobiografie, so spricht das aus jeder Zeile -, der zutiefst überzeugt ist von der Gerechtigkeit der demokratischen Sache. Und dafür stand eben Lincoln und für die Gerechtigkeit der demokratischen Sache, für die auch die USA stehen. Also die USA als ein besonderer, nicht ein Staat wie andere Staaten, sondern mit einem besonderen Auftrag. Nur, in einer perversen Form haben wir das dauernd auch bei Herrn Bush miterleben dürfen.
Heise: Denn das Argument hat er auch immer genommen.
Krippendorff: Aber bei Obama ist es eben ein anderes. Da ist dieser Bezug auf Lincoln von großer Bedeutung, denn Lincoln war ein unglaublich bescheidener Mann. Für mich ist er eigentlich der einzige große Staatsmann, den die Demokratie als Verfassungsform hervorgebracht hat. Es hat andere große Staatsmänner gegeben, aber in diesem Sinne, dass er zugleich eben zuhören konnte, bescheiden war, sich zurückgenommen hat, immer reflektiert hat, ist das, was ich tue, zur Befriedigung meiner Eitelkeit, um der größte Präsident der USA zu werden, oder tue ich das um der Sache Willen.
Heise: Ja. Und um der Sache Willen, wenn Sie, so viel, wie ich raushöre, dass Sie von Obama halten, wird Obama dann irgendwann auch die besprochenen Konsequenzen, werden die von ihm gefordert werden für die humane Sache, für die Idee? Wie weit wird er gehen müssen?
Krippendorff: Wie Lincoln auch versucht Obama, nach allen Seiten offen zu sein. Und wenn wir jetzt, was wir beobachtet haben, ja seine ganze Politik, seine Strategie, auch der Personalpolitik, der Zusammensetzung des Kabinetts etc., war immer zu sagen, ich möchte die andere Seite mit im Boot haben. Wir müssen alle dabei sein, weil, dieses Land ist in einer schweren Krise, der schwersten Krise seit, was weiß ich, 60, 80 Jahren, seit seiner großen Depression, und dazu müssen wir zusammenstehen.
Da gibt es nicht rechts und links, da gibt es nur falsch und richtig oder was hilft. Und dafür braucht er alle. Wenn er hier jetzt parteilich wäre oder parteilich handelt, also nur mit seinen Demokraten operiert, kriegt er diese Krise nicht gelöst, hat er sozusagen potenziell eine Bürgerkriegssituation. Denn er ist bei der Rechten natürlich noch immer verhasst. Und die Gefahr, dass sie völlig ihn blockieren, mauern, die ist sehr groß. Und die versucht er eben zu umgehen durch Lernen aus der Geschichte. Ich kann nur, wenn ich möglichst viele mit rein bekomme.
Heise: Abraham Lincoln zum 200. Geburtstag. Verbindungslinien zu Barack Obama zog Ekkehart Krippendorff, Politikwissenschaftler und erimitierter Professor am John-F.-Kennedy-Institut Berlin. Herr Krippendorff, ich danke Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch.
Krippendorff: Gerne.
Nie hat jemand auf einen so knappen Begriff gebracht, was Demokratie ist. Noch heute lernen amerikanische Schüler diese Rede auswendig. Ekkehart Krippendorff ist Politikwissenschafter und erimitierter Professor am John-F.-Kennedy-Institut Berlin und kann die Rede wahrscheinlich auch auswendig, jedenfalls hat er sie mal kommentiert. Herr Krippendorff, ich grüße Sie.
Ekkehart Krippendorff: Danke.
Heise: Was ist es bei Abraham Lincoln, was ihn zu einem so großen, vielleicht dem größten Präsidenten der USA macht?
Krippendorff: Ja, mit dem größten, das ist so eine ambivalente Definition, aber er ist schon eine überragende Figur gewesen. Vor allen Dingen deswegen, weil er nicht aus der alten politischen Klasse kam. Er ist ein Mann, der von unten kam, der Holzfäller war, Tischler, Flussschiffer und so, sich selber gebildet hatte. Er war eigentlich Analphabet ursprünglich, hat das also selber sich alles angelernt. Also ganz ungewöhnliche Biografie.
Er wurde dann Rechtsanwalt, hat selber sich das Recht beigebracht, sozusagen das privat studiert, und wurde ein hervorragender Anwalt. Und in dieser Eigenschaft als Anwalt hat er eine Fähigkeit entwickelt, die wenig Leute in der politischen Klasse eigentlich haben, nämlich zuhören zu können und die andere Seite immer zu sehen. Und das war für ihn als politische Erfahrung sehr wichtig, auch immer die andere Seite mit zu sehen.
Heise: Als er dann das politische Zepter übernommen hat, war ja gerade eine Zeitenwende. Es ging um die Sklaverei, und da waren die zwei Seiten sehr gespalten. In einigen Staaten der USA war die Sklaverei unhinterfragt gang und gäbe, andere haben sich klar dagegen ausgesprochen. Was hat das eigentlich in so einer Situation bedeutet, sich als Präsident gegen die Sklaverei zu positionieren?
Krippendorff: Nun, er sagte sehr richtig, ein Haus kann nicht zu gleicher Zeit geteilt sein zwischen zwei abgeschotteten Räumen, also man nicht gleichzeitig frei und unfrei sein. Er war ein Gegner der Sklaverei, aber das Wichtige ist, glaube ich - und er hat auch immer wieder darüber selber nachgedacht, es auch ausgesprochen -,es ging ihm weniger um die Sklaverei zunächst einmal, sondern es ging ihm um die Erhaltung der Union, um die Erhaltung der USA, des Staatsverbandes. Weil das war ja nicht klar gewesen, 1776 wurden die ja gegründet als Vereinigte Staaten von Amerika, in denen der Präsident sozusagen eine Verwalterfunktion haben sollte.
Das Regieren sind die Gouverneure der einzelnen Staaten. Und da war es eigentlich nicht klar, ob es möglich sein würde für einzelne Staaten, auch wieder auszutreten aus diesem Vereinigte-Staaten-Bund. Also ist es ein Bundesstaat oder ein Staatenbund? Und diese Entscheidung stand an. Und für Lincoln war der Erfolg oder das Scheitern des Staatenbundes identisch mit Erfolg oder Scheitern des Entwurfes der Republik, der Demokratie, dieser Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk.
Heise: Er wollte den Bürgerkrieg nicht, aber er hat ihn dann quasi in Kauf genommen, und er hat ihn geführt. War er ein Krieger?
Krippendorff: Nein, überhaupt nicht, sondern ein völlig ziviler Mann, aber er war eben kein Pazifist, und sagte, es muss eben durchgekämpft werden. Aber die Logik, warum er sagte, es ist gerecht, diesen Krieg zu führen, ist auch, dass der Reichtum, der angehäuft wurde in den Südstaaten durch die Sklaverei - es war ja ein reicher Teil der USA -, dass dieser Reichtum mit unfairen oder gotteswidrigen, unchristlichen Mitteln erwirtschaftet worden ist. Und deshalb darf man eben ihn in diesem Falle zerstören und darf Krieg führen.
Heise: Aber nicht nur irgendeinen Krieg, sondern einen der blutigsten Kriege Amerikas. Also sozusagen für ein humanes Ziel?
Krippendorff: Ja, das wusste man natürlich nicht vorher, dass es der blutigste Krieg sein würde, und es ist eigentlich bis heute der blutigste Bürgerkrieg überhaupt gewesen, weil auch zum ersten Mal mit moderner Technik geführt. Es wurde das Maschinengewehr zum ersten Mal eingesetzt, es wurden zum ersten Mal U-Boote gebaut, es wurden Panzerschiffe gebaut, es wurde der Stacheldraht erfunden, Schützengräben. All diese moderne Kriegführung wurde hier zum ersten Mal ausprobiert und auch die Technik der verbrannten Erde, womit er dann den Süden in den Knie gezwungen hat.
Heise: Wie hat er dann die Menschen aber mitgenommen? Er brauchte ja unglaublich viele Soldaten.
Krippendorff: Na ja, das war gar nicht so einfach. Es gab auch Wehrdienstverweigerung, es gab "riots" (Unruhen, Anm. der Redaktion) in New York, Leute, die wollten sich nicht einziehen lassen. Es war also nicht einfach, die Soldaten zu bekommen. Aber trotzdem war die Faszination mit dem Projekt USA auch bei den sogenannten kleinen Leuten doch sehr groß. Und der Appell, wir verteidigen hier die Union, wir verteidigen die Errungenschaft der Demokratie, die hat gezogen ideologisch.
Heise: Abraham Lincoln wurde heute vor 200 Jahren geboren, unser Thema im Deutschlandradio Kultur mit Ekkehart Krippendorff. Also, Sie betonen die Kraft einer Idee. Diese Kraft einer Idee, die muss ein Politiker aber auch rüberbringen können. Da kommen wir vielleicht doch noch mal auf diese Gettysburg-Rede zurück. Da drücken sich seine Fähigkeiten aus, Leute mitzunehmen, in der Rede.
Krippendorff: Ja, er war ein großer Redner. Wir haben ja keine Tondokumente mehr davon, das gab es damals noch nicht, aber wir haben die Texte. Er hat an seinen Reden sehr intensiv gearbeitet, das war nicht bloß seine natürliche Gabe, sondern eben auch harte Arbeit. Und er hat gesetzt auf die Kraft der Überzeugung und wurde berühmt zunächst mal auf dem Wege in die Präsidentschaft durch eine Serie von Debatten mit seinem Konkurrenten. Und da kamen die Leute also von weit her, mit Kutschwagen, da gibt es Bilder davon, gefahren. Diese Reden, diesen Disput wollten sie anhören. Also hier wurde eigentlich zum ersten Mal, was dann später in den 60er-Jahren mit den Kennedy-Nixon-Debatten am Fernsehen nun zu einer Institution geworden ist, hat damals mit Lincoln angefangen.
Heise: Also die Kraft der Rede und der Widerrede. Sie haben aber auch neulich im "Tagesspiegel" geschrieben und Sie haben es auch vorhin erwähnt, sein großes Können war auch das Zuhören und das Einfühlen. Er hat sich ja selbst die Argumente der Sklavenhalter angehört. Wo endeten seine Kompromisse denn oder seine Kompromisssuche?
Krippendorff: Die endeten dann in der Tat bei der Freiheit beziehungsweise der Versklavung von Menschen, sagt, das ist von Gott nicht gewollt und das dürfen wir nicht tolerieren. Wie man aber wegkommt davon, das ist eine zweite Frage. Und da bestand er nicht darauf, dass das nur kriegerisch möglich sein sollte, hat es aber in Kauf genommen. Aber hat doch versucht, der anderen Seite immer zu sagen, wenn ihr anfangt …
Heise: … dann schießen wir zurück.
Krippendorff: … müssen wir zurückschießen. Aber ihr müsst anfangen. Und das war die berühmte Geschichte. Da gab es ein Fort, das Fort Sumter, und das war in North Carolina und das war in Bundesbesitz und war umgeben von North Carolina, der ein sehr sozialistischer Staat war. Wie kann man Fort Sumter halten? Wenn er Waffen hingeschickt hätte, wäre das ein Vorwand zum Krieg gewesen. Da hat er gesagt, ich schicke nur Lebensmittel hin. Und der Süden hat darauf nicht reagiert, haben sofort geschossen. Also sie haben Fort Sumter bombardiert und damit haben sie den Krieg erklärt, und sagt, gut, wenn ihr es wollt, dann müssen wir es leider durchkämpfen.
Heise: Lincoln kämpfte also quasi dafür, die Wirklichkeit der Verfassung, also alle Menschen sind gleich, anzunähern. Inwieweit zieht sich das eigentlich durch die US-amerikanische Geschichte, diese Spannung zwischen Wirklichkeit und Verfassung?
Krippendorff: Nun, Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit ist eine Spannung, in der alle Republiken, alle Staaten, alle demokratisch verfassten Staaten leben. Aber in den USA ist noch besonders, die Gettysburg-Rede bezieht sich ja auch mit dem ersten Satz "four score and seven years ago" nicht auf die Verfassung von '83, sondern auf die Unabhängigkeitserklärung von '76, die eben sagt, das ist die berühmte Formulierung von Jefferson, "we hold this truth to be self-evident … that all men are created equal", dass alle Menschen gleich geschaffen sind. Darauf bezieht sich Lincoln, nicht aber auf die Verfassung. Das heißt, vor der Verfassung liegt diese Erklärung der Rechte des Menschen und der Gleichheit der Menschen. Das ist auch später dann noch mal wichtig geworden und ist eigentlich bis heute wichtig geblieben, Martin Luther King hat sich auch darauf berufen, nicht auf die Verfassung.
Heise: Also auf noch etwas Höheres.
Krippendorff: Auf etwas Höheres, etwas, was dem eben vorausgeht.
Heise: Obama bezieht sich auf Lincoln, wird auch vielleicht sogar mit ihm verglichen. Ist das zu hoch gegriffen?
Krippendorff: Jeder darf so hoch greifen, wie er kann. Und es ist sehr hoch gegriffen. Aber Obama ist ein Mann, der zutiefst überzeugt ist - und wenn man seine Biografie liest, seine Autobiografie, so spricht das aus jeder Zeile -, der zutiefst überzeugt ist von der Gerechtigkeit der demokratischen Sache. Und dafür stand eben Lincoln und für die Gerechtigkeit der demokratischen Sache, für die auch die USA stehen. Also die USA als ein besonderer, nicht ein Staat wie andere Staaten, sondern mit einem besonderen Auftrag. Nur, in einer perversen Form haben wir das dauernd auch bei Herrn Bush miterleben dürfen.
Heise: Denn das Argument hat er auch immer genommen.
Krippendorff: Aber bei Obama ist es eben ein anderes. Da ist dieser Bezug auf Lincoln von großer Bedeutung, denn Lincoln war ein unglaublich bescheidener Mann. Für mich ist er eigentlich der einzige große Staatsmann, den die Demokratie als Verfassungsform hervorgebracht hat. Es hat andere große Staatsmänner gegeben, aber in diesem Sinne, dass er zugleich eben zuhören konnte, bescheiden war, sich zurückgenommen hat, immer reflektiert hat, ist das, was ich tue, zur Befriedigung meiner Eitelkeit, um der größte Präsident der USA zu werden, oder tue ich das um der Sache Willen.
Heise: Ja. Und um der Sache Willen, wenn Sie, so viel, wie ich raushöre, dass Sie von Obama halten, wird Obama dann irgendwann auch die besprochenen Konsequenzen, werden die von ihm gefordert werden für die humane Sache, für die Idee? Wie weit wird er gehen müssen?
Krippendorff: Wie Lincoln auch versucht Obama, nach allen Seiten offen zu sein. Und wenn wir jetzt, was wir beobachtet haben, ja seine ganze Politik, seine Strategie, auch der Personalpolitik, der Zusammensetzung des Kabinetts etc., war immer zu sagen, ich möchte die andere Seite mit im Boot haben. Wir müssen alle dabei sein, weil, dieses Land ist in einer schweren Krise, der schwersten Krise seit, was weiß ich, 60, 80 Jahren, seit seiner großen Depression, und dazu müssen wir zusammenstehen.
Da gibt es nicht rechts und links, da gibt es nur falsch und richtig oder was hilft. Und dafür braucht er alle. Wenn er hier jetzt parteilich wäre oder parteilich handelt, also nur mit seinen Demokraten operiert, kriegt er diese Krise nicht gelöst, hat er sozusagen potenziell eine Bürgerkriegssituation. Denn er ist bei der Rechten natürlich noch immer verhasst. Und die Gefahr, dass sie völlig ihn blockieren, mauern, die ist sehr groß. Und die versucht er eben zu umgehen durch Lernen aus der Geschichte. Ich kann nur, wenn ich möglichst viele mit rein bekomme.
Heise: Abraham Lincoln zum 200. Geburtstag. Verbindungslinien zu Barack Obama zog Ekkehart Krippendorff, Politikwissenschaftler und erimitierter Professor am John-F.-Kennedy-Institut Berlin. Herr Krippendorff, ich danke Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch.
Krippendorff: Gerne.