Ein unbehaglicher Verdacht

18.10.2010
Ist Verena Becker schon vor dem Attentat auf Siegfried Buback vom Verfassungsschutz angeworben worden? Pünktlich zum neuen Stammheim-Prozess untersucht der Hamburger RAF-Experte Wolfgang Kraushaar diesen Verdacht in einer präzisen Studie auf seine Plausibilität.
In der Geheimdienstwelt läuft mathematische Logik in die Irre, gibt Minus mal Minus nicht unbedingt Plus, bilden verbundene Punkte eher ein Labyrinth als eine Linie. Enttarnte Desinformation führt kaum zu belastbarer Information. Feine Politthriller-Autoren schleifen daraus literarische Brillanten, lösen ein spezifisches Unbehagen aus: Jedes entdeckte Loch im Netz der Manipulationen zieht die Leser tiefer hinein, am Ende wissen sie nur eins mit eisiger Klarheit: Es gibt keine unzweideutige Wahrheit im Milieu der falschen Fährten, Szenerien, Identitäten.

Gut möglich, dass diese Art Unbehagen Michael Buback umtreibt, spätestens seit 2007. Nur kann er, können wir alle kein Buch zuklappen und einen gepflegten Whisky drauf trinken. Hier geht´s um Realität: Wer hat seinen Vater, den Generalbundesanwalt Siegfried Buback, und zwei Mitfahrer 1977 wirklich erschossen? Der Sohn klaubt mit naturwissenschaftlicher Akribie Fakten zusammen, die die eigentlich zuständigen Institutionen seit 1977 zu ignorieren scheinen. Fazit: Bundesdeutsche Geheimdienste müssen eine zentrale Figur dabei gedeckt haben, Verena Becker.

Ein in der Tat unbehaglicher Verdacht. Er macht ihn öffentlich. Seitdem liefern sich "RAF-Experten" mediale Schlachten, hauen Ex-Mitarbeiter des ermordeten Generalbundesanwalts auf den Sohn ein, suggerieren investigative Edelfedern, der arme Sohn sei einfach zu betroffen, womöglich paranoid, werden Verschwörungstheorien gehäkelt. Vor allem werden gewisse Behörden plötzlich doch aktiv, Vermutungen bestätigt oder auffallend laut dementiert, tauchen alte Akten und neue DNA-Tests auf, wird Verena Becker wieder verhaftet, wieder freigelassen, wieder vor Gericht gestellt.

Pünktlich zum Prozessbeginn hat Wolfgang Kraushaar, einer der genauesten Kenner der Epoche 1968ff, Forscher am Hamburger Institut für Sozialforschung, ein Buch vorgelegt, das da weiter macht, wo Buback passen muss. Er nimmt dessen Verdacht ernst, geht ihm mit eigenen wissenschaftlichen Mitteln nach und spitzt ihn zu. Inzwischen ist unbestritten, dass Becker ab 1981 für das Bundesamt für Verfassungsschutz tätig war. Und vorher? Vor der RAF gehörte sie zur "Bewegung 2. Juni" in West-Berlin. Die war gut infiltriert vom Landesamt für Verfassungsschutz. Wurde sie da schon abgeschöpft, gar geführt? Von einem - seit den Schmücker-Mord-Prozessen quasi gerichtlich anerkannten - Skandaldienst? Der wurde 2000 aufgelöst, seine Akten (vielleicht) vernichtet.

Dem Berliner LfV und Beckers Frühzeit widmet Kraushaar breiten Raum. Hier vermutet er den Schlüssel zu vielen noch verschlossenen Räumen. Die Stasi jedenfalls wusste schon 1978, dass "westdeutsche Abwehrorgane" an Becker dran waren. Warum wurde ausgerechnet sie, bei der die Tatwaffe gefunden wurde, 1977 nicht für den Buback-Mord angeklagt? Was hatte der nur zur Auslandsaufklärung legitimierte Bundesnachrichtendienst bei der Beratung über Beckers Begnadigung 1989 zu suchen? Warum darf man bis heute nicht wissen, wer mit welcher Begründung dafür war, sie vorzeitig freizulassen? Was steht in den Akten, die Ex-Innenminister Schäuble im Namen der nationalen Sicherheit sperren ließ? Etwa ein unzweideutiger Beleg dafür, dass der Generalbundesanwalt durch eine "freie Mitarbeiterin" der eigenen Behörden zu Tode kam?

Kraushaar fragt in alle Richtungen, klopft den ungeheuerlichen Verdacht auf Plausibilität ab, de- und rekonstruiert Fakten und schließt: "Der Verdacht ist und bleibt eine begründete Vermutung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger." Mehr ist vorerst nur vom Prozess selbst zu erwarten. Vermutlich extrem Unbehagliches. Weniger geht nicht mehr - nach Kraushaars präziser Studie.

Besprochen von Pieke Biermann

Wolfgang Kraushaar: Verena Becker und der Verfassungsschutz
Hamburger Edition, Hamburg 2010
203 Seiten, 16 Euro
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