Ein überzeugter Amerikaner

In Aufsätzen und Artikeln beschreibt der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht seit fast zwei Jahrzehnten seine Erfahrungen in den USA. Nun ist sein neuestes Buch mit dem Titel "California Graffiti" erschienen.
1989, im Jahr des Mauerfalls und der stimulierten deutschen Volksseele, beschließt Hans Ulrich Gumbrecht - Vorzeigeintellektueller, erfolgreicher Publizist und akademisches Schwergewicht -, in die USA auszuwandern. Er zieht nach Kalifornien, ans westliche Ende der Welt.

Er nimmt den Ruf nach Stanford an, eine der besten amerikanischen Universitäten, in unmittelbarer Nähe zu San Francisco. Und bewirbt sich um die US-Staatsbürgerschaft. "Er wollte da sein, wo man den wirklichen Problemen ins Auge sieht und wo die wirklichen Entscheidungen fallen" – so schreibt er über sich selbst in einem seiner 16 Essays, die nun unter dem Titel "California Graffiti. Bilder vom westlichen Ende der Welt" gesammelt sind.

Der älteste der Texte stammt aus dem Jahr 1993, der jüngste ist von 2009, erstmals erschienen zumeist in der Zeitschrift "Merkur", der selbst ernannten "deutschen Zeitschrift für europäisches Denken". Das ist interessant, denn Gumbrecht bekennt sich überschwänglich zum "Amerikaner-Sein". Er feiert den "american way of life", propagiert das amerikanische Universitäts- und Gesellschaftssystem, schickt seine Texte aber nach Deutschland. Leidenschaftlich, pointiert, auf hohem Niveau, ein wenig eitel, aber auch selbstironisch, bricht er eine Lanze für die Nation, der er sich zugehörig fühlt: die Vereinigten Staaten. In Kalifornien will er leben, dort will er eines Tages beerdigt werden.

Kalifornien hat in Gumbrechts Augen im 20. Jahrhundert das Lebensgefühl der Menschheit verändert. Hollywood, Castro und Silicon Valley, der Film, das "gay movement" und die elektronische Technologie verkörpern für ihn eine Kultur, "in der wirklich keine Möglichkeit begrenzt oder gar ausgeschlossen ist, weil nie eine einzige Wirklichkeit auf Dauer dominieren darf".

Der Autor führt in seinen "Skizzen", "Bildern" und "Szenen" jede Menge Argumente an, die ihn zum überzeugten Amerikaner machen: das effiziente Hochschulsystem - er nennt es eine "demokratische Aristokratie" -, ein Heimatbegriff, der von Minderheiten geteilt wird, die Formbarkeit der Gesellschaft ("moving on ist eine kalifornische Spezialität"), aber auch die Landschaft. Und nicht zuletzt die Verweigerung einer vom Schicksal verordneten Staatsbürgerschaft: der deutschen, die für den 1948 geborenen Gumbrecht immer damit verbunden ist, "als Neffe und Enkel derer geboren zu sein, die den getöteten Juden und Homosexuellen ihre Goldzähne aus dem Mund brachen".

Lustvoll widerlegt Gumbrecht anti-amerikanische Klischees. Er begründet, warum ihn ein von der Supermarktkassiererin zugeworfenes "take care of you" rührt, was ein "Marilyn-Lachen" von einem "Bonanza-Lachen" unterscheidet, warum man sich auch als geborener Europäer für American Football begeistern kann. Und genauso lustvoll seziert er am amerikanischen Alltag, was ihm unheimlich vorkommt: Flower-Power Tourismus in Berkeley, "Potluck", ein gemeinschaftliches Picknick, bei dem man die Tupperware der Nachbarn leeren muss oder die faltenfreien Blusen amerikanischer Businessfrauen.

Gumbrechts Essays vermitteln lehrreich eine Kultur, die wir zu kennen glauben, aber üblicherweise nur aus der Ferne wahrnehmen. Dabei verliert der Autor nie seine Position als Einwanderer aus den Augen. So entsteht ein doppelschichtiges Porträt: von Kalifornien und vom Autor, eines Deutschen, der Amerikaner sein will.

Besprochen von Carsten Hueck

Hans Ulrich Gumbrecht: California Graffiti. Bilder vom westlichen Ende der Welt
Carl Hanser Verlag, München 2010
205 Seiten, 15,90 Euro