Ein Treffen von Wissenschaft und Sinnlichkeit

Verleger Arnulf Conradi hat Vogelbeschreibungen und Illustrationen des ersten großen Vogelforschers Johann Friedrich Naumann ausgewählt und veröffentlicht. Beim Lesen der Berichte aus dem 19. Jahrhundert fühlt man sich in die Natur versetzt.
Er lebte zu einer Zeit, als die Felder noch von Hand bestellt wurden und man Reisen mit dem Pferd unternahm. Trotzdem konnte Johann Friedrich Naumann, Deutschlands erster großer Vogelforscher und Begründer der Ornithologie, schon im 19. Jahrhundert den Schwund des Artenreichtums in der Vogelwelt beobachten.

Insgesamt zwölf Bände umfasst sein Hauptwerk "Naturgeschichte der Vögel Deutschlands" – das er von 1819 bis 1844 schrieb. Seinerzeit war es das berühmteste Nachschlagewerk für Vogelkundler und Naturforscher. Johann Wolfgang Goethe, Alfred Edmund Brehm und andere berühmte Zeitgenossen äußerten sich begeistert über die umfangreichen Beschreibungen und detailgetreuen Zeichnungen des außergewöhnlichen Vogelforschers.

Trotzdem gerieten Naumann und sein Werk in Vergessenheit. Zu Unrecht, fand der Verleger und Vogelliebhaber Arnulf Conradi. Er wählte aus Naumanns umfangreichem Werk 17 verschiedene Vogelbeschreibungen und über 100 Illustrationen aus, die er in einem wunderschönen großformatigen Buch veröffentlichte und schuf damit selbst einen Klassiker.

Die Aquarelle, Kupferstiche und Zeichnungen einheimischer Vögel allein schon sind ein ästhetischer Genuss: detailreich, formschön und farbenfroh. Dass Arnulf Conradi hier mehr als nur die Wiederentdeckung des großen Vogelforschers im Sinn hat, zeigt sich unter anderem in den extra auf dünnem Folienpapier abgedruckten Aquarellbildern Naumanns. Mit jedem Umblättern wird spürbar, welchen Wert diese Arbeiten aus den Anfangsjahren der ornithologischen Forschung haben.

Conradi hat den Bildern und Texten Naumanns ein längeres Einleitungskapitel vorangestellt, in dem er Leben und Arbeit des Forschers liebevoll beschreibt. Darin enthalten sind neben viel Biographischem auch wichtige politische und wissenschaftliche Ereignisse dieser Zeit. Man braucht also keine Vogelkenner oder Experte für das 19. Jahrhundert zu sein, um die Leistung Naumanns ermessen zu können: Jede freie Minute hat dieser mit der Erforschung der Vogelwelt verbracht.

Seine Texte zeugen von langen Stunden der Beobachtung in der Natur. Er lauschte dem Gesang von Nachtigall, Rothkehlchen oder Amsel, beschreibt Aussehen und Verhalten des Uhus, Turmfalken oder des Gartenrotschwanzes – immer einfach und direkt. Sprachschnörkel sucht man hier vergebens. "Die Wacholderdrossel liebt Regenwürmer, frisst aber auch Nacktschnecken. Der Wanderfalke ist ein mutiger, äußerst gewandter Raubvogel, dessen volltönende Stimme fast nur in der Paarungszeit zu hören ist. Die Küstenseeschwalbe hat etliche Feinde, darunter größere Vogelarten, aber auch den Mensch, der ihre wohlschmeckenden Eier sammelt."

In Naumanns Texten treffen Sinnlichkeit und wissenschaftliche Information zusammen, dass sie mehr als 160 Jahre alt sind, fällt lediglich durch die Satzstellung auf. Ansonsten fühlt man sich beim Lesen in die Natur versetzt, hört im Geiste das Pfeifen und Zwitschern. Nur wenige aktuelle Vogelbücher schaffen es, so viel Leidenschaft und Begeisterung für die Vogelwelt zu vermitteln wie Johann Friedrich Naumann mit den "Vögel Mitteleuropas".

Besprochen von Susanne Nessler

Johann Friedrich Naumann: Die Vögel Mitteleuropas
Herausgegeben von Arnulf Conradi
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2009
593 Seiten, 99 Euro