Ein tragisch-zartes dänisches Markenzeichen

Von Wilfried Dolderer · 23.08.2013
Sie ist für Dänemark, was der Eiffelturm für Paris ist: ein nationales Symbol. Am 23. August 1913 wurde an der Hafenpromenade von Kopenhagen die Bronzefigur der Kleinen Meerjungfrau eingeweiht.
"Da saß sie nun in all ihrer bescheidenen Anmut, und ein beifälliges Gemurmel ging durch die Reihen der vielen Zuschauer."

So schilderte der Berichterstatter der Zeitung "Politiken" den Augenblick, als am 23. August 1913 die Hülle fiel und die Bronzestatue "Kleine Meerjungfrau" am Langelinie-Kai, Kopenhagens Hafenpromenade, sich erstmals dem Publikum präsentierte. Der Bildhauer Edvard Eriksen hatte die Intention des Dichters Hans Christian Andersen offenbar kongenial getroffen.

"Ihre Haut war so rein und so fein wie ein Rosenblatt, ihre Augen so blau wie die tiefste See."

Mit diesen Worten hatte Andersen in seinem Märchen von der Kleinen Meerjungfrau 1837 das Erscheinungsbild seiner Titelheldin gepriesen. "Still und versonnen", so beschrieb sie der Dichter.
Und so sitzt sie seit einem Jahrhundert auf ihrem Stein am Kopenhagener Hafen. Den rechten Arm auf den Fels gestützt, dem Betrachter zugewandt, doch den Blick aufs Meer gerichtet. Sie ist 175 Kilogramm schwer, mit nur 125 Zentimetern deutlich kleiner als die meisten ihrer Verehrer erwarten. Und an denen fehlt es nicht: Mindestens eine Million Besucher im Jahr vermutet das Fremdenverkehrsamt.

"Die kleine Meerjungfrau ist nicht nur Dänemarks beliebtestes Fotografierobjekt, sondern sie kann von den Besuchern des Landes in den unterschiedlichsten Formen auch als Souvenir mitgenommen werden. Es gibt sie als Briefbeschwerer, Lesezeichen, als Schmuck auf Tassen, Tellern und Untertassen. Dass sie auch auf T-Shirts thront, braucht ja wohl gar nicht erst erwähnt zu werden."

Ein globales dänisches Markenzeichen eben. Populär bis in den Fernen Osten. Im Frühjahr 2010 schickten die Dänen ihre Kleine Meerjungfrau zur Weltausstellung nach Schanghai. Zusammen mit 1000 Litern original Kopenhagener Hafenwasser und zur Freude des chinesischen Publikums.

"Ich höre, dass die Kleine Meerjungfrau aus Kopenhagen gezeigt wird. Seit meiner Kindheit fand ich sie immer sehr schön. Wenn ich sie nun in Schanghai sehen kann, geht für mich ein Traum in Erfüllung"

, frohlockte damals eine Bürgerin der Expo-Stadt.

Dass sie in eine tragische Figur ist, macht gewiss vieles vom Charme der Meerjungfrau aus. In Andersens Märchen ist sie die jüngste von sechs Töchtern des Meerkönigs. Sie wächst auf in einem prächtigen Palast aus Muscheln und Bernstein, doch ihre ganze Sehnsucht gehört der Welt, in der die Menschen leben.

"Am wunderbarsten erschien es ihr, dass oben auf der Erde die Blumen dufteten, den das taten sie unten auf dem Meeresgrunde nicht, dass die Wälder grün seien, und dass die Fische, die man dort zwischen den Bäumen sah, so laut und herrlich singen könnten, dass es eine Lust sei."

Als sie zum ersten Mal an die Meeresoberfläche darf, rettet sie einen Prinzen aus einem Schiffbruch. Doch vergebens wirbt sie um seine Liebe, vergebens nimmt sie um seinetwillen sogar Menschengestalt an. An dem Tag, an den sich der Prinz sich mit einer anderen vermählt, stirbt die Kleine Meerjungfrau und löst sich in Schaum auf.

Zu Beginn des 20, Jahrhunderts bearbeitete ein dänischer Komponist den Stoff als Ballett für die Tänzerin Ellen Price. Als der Brauereibesitzer und Kunstmäzens Carl Jacobsen sie sie 1909 in der Titelrolle der Meerjungfrau auf der Bühne sah, stand sein Entschluss stand fest: Er wünschte sich eine Bronzefigur nach dem Bild der Ballerina. Blieb ein kleines Problem: der Unterleib der Dame. Jacobsen wollte eine Nixe mit Fisch-Schwanz, Bildhauer Edvard Eriksen eine Menschenfrau mit Beinen. Schließlich resignierte der Stifter:

"Meine Erfahrung sagt mir: Wenn man Künstler machen lässt, was sie wollen, wird es am besten."

Am Ende stand dennoch ein Kompromiss. Die Figur erhielt Beine. Doch die Füße laufen in einer Schwanzflosse zusammen.

Dass der Jubilarin nicht nur freundliche Begegnungen widerfahren sind, ist wohl der Preis der Prominenz.

"Wir haben in den letzten Tagen Mitleid mit der Kleinen Meerjungfrau gehabt, dem Wahrzeichen von Kopenhagen, dem der Kopf abgeschlagen worden war, dem Wahrzeichen nämlich. Jetzt ist der Kopf wieder da - hurra!"

Das war im Januar 1998, und es war bereits das zweite Mal, dass die Dame den Kopf verlor. Beim ersten Mal blieb das gute Stück verschollen. Auch einen Arm hat man ihr schon abgesägt, sie wurde bemalt und sogar Opfer eines Sprengstoffanschlages. Doch ein dänisches Nationalsymbol ist sie für immer geblieben.