"Ein tiefer Graben"

Von Gudula Geuther |
Anlässlich des 35. Geburtstages der Frankfurter Karl-Marx-Buchhandlung waren die Mitbegründer Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit sowie ein früherer Kunde, der Historiker Dan Diner, auf dem Podium im Studierendenhaus der Universität versammelt. Die Diskussion unter dem Titel "Politische Urteilskraft - Amerika, Mittlerer Osten und die Zukunft Europas" erhielt vor dem Hintergrund des Atomstreits mit dem Iran und den Auseinandersetzungen um die Mohammed-Karikaturen ungeahnte Aktualität.
"Das wird eine Situation für uns schaffen, wo Europas Sicherheit ganz unmittelbar berührt wird. Und zwar in einem Maße, wie wir alle – ich nehme mich da gar nicht aus – es uns gar nicht trauen, heute zu denken. Klingt alles sehr pessismistisch, ich bin aber der Meinung, es ist realistisch."

Fischer führte die Krise in der arabischen Welt und mit dem Westen nicht unmittelbar auf den israelisch-arabischen Konflikt zurück. Von Anfang an aber sei er benutzt worden, um von den Problemen der Region abzulenken.

"Und das ist eine Krise, die ich als Modernisierungskrise bezeichnen möchte. Und Modernisierung heißt bei einer Bevölkerung in der arabischen Welt ist die Hälfte der Bevölkerung unter 18 Jahre, heißt das: nicht nur der Ruf nach Bildung und Ausbildung. Der Ruf nach ökonomischer Perspektive, um Familie gründen zu können. Sondern eben auch selbst das Gefühl zu haben, zur Gestaltung des eigenen Lebens Wesentliches beizutragen und es nicht von außen aufgestülpt zu bekommen. – Diese Modernisierungskrise steht im Zentrum."

Kritik übte Fischer an den USA. Der Irak-Krieg habe ein Vakuum geschaffen, zu imerialen Ordungskriegen sei der Staat nicht in der Lage. Die größte Sorge im arabischen Raum, so Fischer, bereite ihm der Iran.

Der eher ökonimischen Modernisierungsthese stellte Dan Diner eine historische gegenüber. Seit der Aufklärung in Europa sei die gesellschaftliche Entwicklung auseinandergelaufen. Durch die fehlende Säkularisierung im arabischen Raum. Aber auch die jüngere Geschichte, die unmittelbar das politische Handeln leite, werde dort teils völlig anders interpretiert als in Europa oder den USA. Als Beispiel nannte Diner den 8. Mai 1945. In der westlichen Welt verbunden mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Im arabischen Raum dagegen mit einem französischen Massaker in Algerien.

"Ich habe den Eindruck, dass diese unterschiedlichen Wahrnehmungen aufeinander zulaufen – konflikthaft zulaufen. Eine europäische Interpretation der Geschichte, der letzten 100, 150 Jahre, und eine aus der kolonialen Welt, vor allem aus der arabisch-islamischen. "

Diner sprach von einem tiefen Graben, der sich hier auftue. Fischers düstere Prognosen will er aber trotzdem nicht unbedingt teilen.

"Das ist in der Tat die Kulisse, vor der sich alles abspielt. Aber heißt das, dass die Dinge sich im Einzelnen derart dramatisch werden zuspitzen müssen? Weiß ich nicht. Die Kurzfristigkeit des politischen Handelns ist etwas anderes als die Langfristigkeit des philosophischen oder historischen Denkens."

Etwa weil die Hamas in politischer Verantwortung stehe, die allzu ideologische Zielsetzungen verhindere.

Gleichzeitig liegt aber für Diner gerade in der Auseinandersetzung um die Karrikaturen eine ganz neue Dimension des Konfikts mit der westlichen Welt.

"Was mich also in der Tat verschreckt hat, war – obwohl es ja vielleicht ein rein symbolischer Akt gewesen ist – dass das EU-Büro in Gaza und vielleicht sogar in Ramallah angegriffen worden war. Die gesamte Rationalität des politischen Diskurses auch um den Irak-Krieg herum war: Europa handelt so oder handelt nicht, die Vereinigten Staaten handeln anders, es gibt einen politischen Konflikt zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. – Plötzlich gibt es gar keine Differenzen im Westen mehr. Es gibt den Westen, und es ist völlig unerheblich, ob die dänische, die norwegische, die deutsche Fahne sozusagen für das Ganze des Westens dann herhalten muss. Also sozusagen eine Einebnung der Unterschiede, die politisch relevant werden, wenn man politisch handeln will."

Daniel Cohn-Bendit, auf dem Podium in der Rolle des Moderators, fragte nach den Folgen der Entwicklung für Europa – vor allem in Europa selbst, in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Vorstellungen zum Beispiel türkischer Zuwanderer führten dazu, dass sich Lehrer oder allgemein die Gesellschaft mit Problemen konfrontiert sähe, mit denen sie an sich abgeschlossen hätten.

"Bis hin zur Problematik der Karrikaturen, wo im Grunde unsere Positionen immer klar waren. Und im Grunde jetzt in dieser Situation - der Respekt vor dem Gefühl usw., Begriffe aufkommen, die nicht unsere Begriffe waren."

Dan Diner, der sich sonst auf seine Rolle als Historiker berief und damit auf die Analyse beschränken wollte, plädierte in der Frage, wie in Europa mit anderen Wertvorstellungen umzugehen sei, für klare Grenzen. Schon bei der Diskussion um die Karrikaturen sah er Gefahren:

"Auch ich bin der Meinung: Es ist schon wichtig, einer anderen Kultur gegenüber Respekt zu bekunden. Aber: Sind es die Karrikaturen? Oder sind die Karrikaturen eigentlich schon ein Symbol für ein Prinzip? Es kann ja morgen heißen, sagen wir für einen Migranten in Dänemark, oder in Schweden, dass ihn der aufreizende Aufzug von Frauen auf der Straße in seinen religiösen Gefühlen verletzt. Wo ist die Grenze? Wo findet eigentlich die Auseinandersetzung der so genannten Werte statt? Wenn es nur die Karrikaturen sind, sage ich: verzichtet auf die Karrikaturen. Aber vielleicht ist es mehr als die Karrikaturen. Ich weiß es nicht. Ich denke nur, dass es in der Tat so scheint in den letzten Tagen, dass in irgendeiner Weise ein qualitativer Sprung eingetreten ist. "

Joschka Fischer dagegen erinnerte daran, dass auch die europäische Geschichte erst neuerdings von Frieden geprägt ist.

"Also im Grundsatz: Religiöses Gefühl und Freiheit – bin ich immer für die Freiheit. Aber gleichzeitig gehört zur Freiheit Verantwortlichkeit. Und ich vermag den Sinn, Öl ins Feuer zu gießen, nicht ganz zu erkennen."