Ein tibetisches Kloster fern der Heimat

Von Nathalie Nad-Abonji · 26.03.2011
Es liegt am Ende eines verschneiten Tales, mitten in der Schweiz. Das Kloster Rikon versteht sich als Anlaufstelle für die rund 4000 Tibeter, die in der Schweiz leben, die größte Exilgemeinde außerhalb Asiens.
"Wir kommen in den Kultraum, hier haben wir sehr viel Rauchopfergaben. Deshalb riecht das entsprechend."

Kalter Wachholderrauch steigt in die Nase. Nur schemenhaft ist der Saal, in der Größe eines Klassenzimmers, zu erkennen.

"Wir ziehen jetzt die Schuhe aus, wenn wir in den Kultraum eintreten."

Der große, schmale Mann betritt den Teil des Raumes, der mit roten Teppichen ausgelegt ist. Vor zehn Jahren hat sich Philip Hepp in eine Tibeterin verliebt. Daraufhin kündigte er seinen gut bezahlten Job als Maschineningenieur und begann mit 40 Jahren ein Ethnologie-Studium. Als Kurator des Klosters ist er Verwalter und Schnittstelle zwischen der westlichen Welt und den Mönchen.

Philip Hepp geht auf einen erhöhten Thron unter einem roten Baldachin zu. Seitlich führt eine Treppe zum Sessel hinauf:

"Dieser Thron darf nur vom Dalai Lama selbst besetzt werden. Im Moment ist ein Bild von ihm da, das er der ersten Mönchsgemeinschaft mitgegeben hat - zur Eröffnung dieses Klosters 1968. Ihm selber war aus politischen Gründen die Einreise nicht möglich in dieser Zeit. Und dieses Bild hat bis heute eine große Bedeutung. Wird auch in verschiedenen Zeremonien verwendet."

Linkerhand befindet sich ein Altar aus dunklem Holz. Darauf stehen sieben Silberschalen, Kerzen und mit Reis gefüllte Behälter – Opfergaben für die Götter. Ein Mönch im traditionellen roten Gewand füllt die Schalen mit frischem Wasser:

"Mein Name ist Geshe Tsündu. Jeden Morgen kommen wir zum Morgengebet zusammen. Auf Tibetisch nennen wir das "Tschochtso". "Tscho" heißt morgens "Tso" bedeutet so viel wie Mönche, die gemeinsam beten. Wir beten dafür, dass alle Lebewesen in Frieden leben."

Der 35jährige Tibeter ist diesen Monat für die Pflege des Altars zuständig. Etwas gebückt schlägt ein älterer Mönch auf einen kupfernen Gong – Gleich beginnt das Morgengebet. Nach und nach nehmen die Mönche Platz auf den roten Samtkissen. Jeder hat eine verzierte Glocke dabei. Manche rezitieren frei – andere mit Hilfe buddhistischer Schriften, die sie vor sich liegen haben. Dazu wippen sie sanft mit dem Oberkörper hin und her. Eine Tibeterin, die seit 50 Jahren in der Schweiz lebt, hat sich etwas abseits dazugesetzt. Knapp eine Stunde dauert das Gebet. Die Frau sitzt noch eine Weile still, versunken in ihre Meditation. Dann steht sie auf und zieht die Schuhe an:

"Die Mönche stehen immer für uns bereit, haben immer offene Ohren. Und jedermann kann mit seinen Sorgen, wenn er das Bedürfnis hat, ins Kloster gehen oder anrufen."

Davon macht vor allem die ältere Generation Gebrauch. Meist sind sie nach dem Einmarsch der Chinesen in den 50er Jahren in die Schweiz geflüchtet. Das Kloster Rikon ist das religiöse Zentrum der Exiltibeter in der Schweiz. Philip Hepp:

"In den 60er Jahren hatten wir einen sehr hehren Entscheid des schweizerischen Bundesrates. Er hat bewilligt, tausend tibetische Flüchtlinge aufzunehmen in der Schweiz. Das ist das erste westliche Land gewesen, das so einen großen Schritt getan hat. Und die Tibeter wurden dann in verschiedenen Siedlungen in der Schweiz angesiedelt. Und ebenso ist eine der Siedlungen hier in Rikon. Das war die Initiative der Pfannenfabrik Kuhn."

Die Gebrüder Kuhn gaben den Tibetern Arbeit in ihrer Fabrik. Doch die Integration in eine vollkommen fremde Kultur fiel den Buddhisten schwer. Außerdem litten sie unter den Fluchterfahrungen. Die Sorge um die Angehörigen in der Heimat quälte sie. Immer mehr Tibeter griffen zum Alkohol. Die Familie Kuhn sah Handlungsbedarf. Sie reiste nach Indien, wo der Dalai Lama noch heute im Exil lebt. Gemeinsam mit dem politischen und religiösen Oberhaupt der Tibeter beschlossen sie, ein Kloster in der Schweiz zu bauen. Geshe Tsondue und Philip Hepp steigen die Treppe hinauf. Philip Hepp:

"Wir sind jetzt in einem Zwischengeschoss dieses vierstöckigen Gebäudes. Wir haben hier die zwei Zwischengeschosse mit den Zellen der Mönche. Es sind insgesamt 16 Zellen."
Mit Geshe Tsondue leben zur Zeit neun Mönche im Kloster, die älteren schon beinahe seit 40 Jahren. Die Jüngeren unter ihnen, kommen nur noch für drei bis sechs Jahre nach Rikon. Dann gehen sie zurück in ihre Heimatklöster. Geshe Tsondue:

"Als mein Flugzeug am Flughafen Zürich landete - es war Mai 2006 - bemerkte ich gleich die klare, frische Luft. Das erinnerte mich an meine Heimat Tibet."

Der junge Mann mit dem rundlichen Gesicht wurde mit 14 Jahren von seiner Mutter ins Kloster geschickt. Die Bauersfrau wünschte sich für ihren Sohn ein besseres Leben. Das Klosterleben bedeutete Bildung, genug Essen und eine gesicherte Zukunft. Mit Mitte 20 zweifelte Geshe Tondsue daran, ob ein Leben als Mönch für ihn das Richtige ist:

"Meine Mutter und mein Meister sind enttäuscht, wenn ich etwas Falsches mache. Deshalb muss ich auf sie Rücksicht nehmen."

Auch die Entscheidung nach Rikon zu kommen, wurde nicht von ihm, sondern vom Abt seines Heimatklosters getroffen. Geshe Tondsu verabschiedet sich und verschwindet in seiner winzigen Zelle. Übernachtungsgäste gibt es im Kloster kaum. Wenn, dann sind es Tibeter – Frauen dürfen generell nicht dort schlafen. Sie sind bloß als Tagesgäste willkommen. Rikon ist eine reine Männermönchsgemeinschaft. Philip Hepp sorgt als Kurator dafür, dass immer wieder Veranstaltungen für interessierte Schweizer abgehalten werden. So auch an diesem Nachmittag.

Unten im Kultraum sitzt bereits ein junger Mann im Schneidersitz. Zu seiner Jeans trägt er ein rotes Sweatshirt. Sein Kopf ist kahlrasiert, wie der eines buddhistischen Mönches. Martin Weber ist 30 und konvertierter Buddhist:

"Schon seit drei Jahren komme ich regelmäßig hierher zum Meditieren und verschiedene Themen anschauen - über Buddhismus. Vor acht Jahren habe ich angefangen, mich zu interessieren für tibetischen Buddhismus. Das Zentrum ist auch in der Nähe."

Rund 90 Minuten Zugfahrt sind es bis nach St. Gallen, wo Martin Weber wohnt. Der etwas schüchtern wirkende junge Mann ist Pianist. Früher hat er zur Sonntagsmesse in der Kirche Orgel gespielt:

"Ich war früher schon praktizierender Christ. Aber dann habe ich die Religion gewechselt. Ich habe den Sinn nicht mehr so gesehen."

"Wir stellen ein großes Interesse der schweizerischen Bevölkerung am Thema Tibet fest. Wir haben auch ein großes Interesse am Buddhismus","

freut sich Kurator Hepp. Für Martin Weber besteht der Unterschied zum Christentum vor allem darin, dass er als Buddhist das Gefühl hat für sich, anstatt zu Gott zu beten. Sein Glaubenswechsel macht sich auch im Alltag bemerkbar:

""Vor allem wie man mit Tieren umgeht. Die Tiere sind ja ein sehr zentrales Thema. Ich esse kein Fleisch. Ich esse auch keine Eier, ich trage kein Leder. Man tötet auch keine Tiere."

Martin steht auf und streckt sich. Ein junger Mönch kommt die Treppe herunter. Er wird den Schweizer nun in rituelle Mönchstänze einführen, die sonst ausschließlich Mönchen vorbehalten sind. Martin Weber soll einen Engel darstellen, der auf die Erde herabkommt. Es ist eine große Ehre für ihn, diese Tänze zu lernen.