Ein taktiles Bild sagt mehr als tausend Worte

Von Po Keung Cheung · 06.02.2012
Mit sogenannten "Screenreadern", die Bildschirmtexte in tastbare Brailleschrift umwandeln, können Blinde lesen, was auf dem Computerbildschirm steht. Bilder und Grafiken lassen sich damit bislang noch nicht erkennen. Doch mit einem neuen Gerät namens "Hyperbraille" soll das anders werden.
Die Finger von Oliver Nadig fliegen förmlich über die Tastatur. Der 28-Jährige beherrscht sie blind - im wahrsten Wortsinne, denn er ist es. Trotzdem gehört es für ihn zur Normalität, am Computer zu arbeiten. Die Technik hilft ihm dabei.

Damit Oliver Nadig erkennt, was er macht, ist anstelle eines normalen Bildschirms ein sogenannter "Screenreader" angeschlossen, eine breite Zeile mit vielen winzigen Stiften, die sich nach oben und unten bewegen und ertastet werden können. Der Bildschirminhalt wird "taktil", also fühlbar dargestellt. Und wenn die Finger über die Stifte hinweg gleiten, klingt es wie ein sich öffnender Reißverschluss.

Der 28-Jährige nutzt aber keinen normalen Screenreader, der nur Text darstellen kann. Statt einer Braille-Zeile hat er einen sechs Zentimeter hohen Kasten mit einer knapp DIN A4-großen Platte und insgesamt 7200 winzigen Stiften, dazu gut ein Dutzend große Tasten am Rand, mit denen er sich auf dem Bildschirm bewegen kann.

"Ich könnte jetzt zum Beispiel Überblicksansicht einschalten. Und jetzt habe ich die Desktopsymbole als kleine Kästchen repräsentiert, kann mir einen grafischen Überblick über den Desktop verschaffen, wo die Symbole sitzen und wenn man die Sprachausgabe einschaltet, kann man sich auch ansagen lassen, was das einzelne Symbol bedeutet."

Olivers Screenreader kann erstmals Grafiken darstellen. Das Gerät ist ein Prototyp. Es wird "Hyperbraille" genannt. Damit öffnet sich erstmals das Tor für Blinde und Sehbehinderte zu gezeichneten Inhalten.

"Das fängt an bei ganz einfachen Zeichnungen, geometrischen Zeichnungen, kann über Kurven gehen, kann über Diagramme gehen, die mir sonst beschrieben werden müssten oder der klassische Screenreader in Tabellenform ausgeben kann, die werden direkt zugänglich für die Finger. Und es stimmt auch, was optisch gilt, dass auch ein taktiles Bild mehr als tausend Worte sagt."

Je nach Grafik heben sich die entsprechenden Stifte auf der Platte.

"Was ich jetzt hier sehe, ist die Zeichnung, nicht nur eines Dreiecks, sondern es ist ein Dreieck mit Inkreis, mit Umkreis und sämtliche Seiten und Winkel und Ecken sind beschriftet."

Bei einem Dreieck beispielsweise ordnen sie sich zu drei zueinander verlaufenden Linien an, bei einem Quadrat sind es vier, bei einer Kurve ist es eine geschwungene Linie. Die Grafiken können außerdem wie bei einem normalen Monitor vergrößert und verkleinert werden. Was einfach klingt, ist äußerst kompliziert, sagt Uwe Grotz, Technik-Vorstand der Firma Metec, die Hyperbraille mit entwickelt hat.

"Es ist eine hohe technische Anforderung, 7200 Stifte mechanisch einzeln zu bewegen, und die zweite Angelegenheit ist die Software. Es musste eine komplett neue Software geschrieben werden, die normale Anwendungsprogramme wie Word, Excel, Power Point, Internet-Browser dementsprechend auf dieses Medium übersetzt, sodass das Medium auch dann sinnvoll eingesetzt werden kann."

Auch der Mensch muss mit den neuen Möglichkeiten klarkommen. Denn Geburtsblinde kennen keine Grafiken, auch die sogenannte Schwarzschrift nicht, die Buchstaben der Sehenden. Denn sie unterscheidet sich erheblich von der Schrift für Blinde. Für sie ist beispielsweise das "A" ein einzelner Punkt, das "B" bilden zwei untereinander liegende. Oliver Nadig lehrt an der Blindenstudienanstalt im hessischen Marburg, mit diesen neuen Möglichkeiten umzugehen.

Vier Jahre wurde an dem vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Projekt gearbeitet. Nun steht Hyperbraille kurz vor der Markteinführung. Für die private Nutzung ist das Gerät mit 50.000 Euro noch zu teuer, doch am Arbeitsplatz könnte es rasch Verbreitung finden, dank Fördergelder. Allerdings habe die Technik auch Grenzen, sagt Oliver Nadig.

"Auf jeden Fall kann man keine Bilder im Sinne von Urlaubsfotos darstellen. Man könnte zwar natürlich auf der Platte etwas ertasten, aber es wäre keine direkte Erfahrung, im Sinne von: Das ist aber die Oma, die lieb guckt oder das ist unser Hund, man würde das nicht erkennen. Es wird immer Dinge geben, die mit den Fingern nicht in der Form gemacht werden können, wie mit den Augen."

Für ihn zählt aber etwas ganz anderes: Blinde und Sehbehinderte hätten eine bessere Chance, in die Arbeitswelt integriert zu werden und für sich selbst zu sorgen - und das sei viel wert. Die Anschaffungskosten verzerrten ohnehin das Bild, ergänzt Metec-Technik-Vorstand Uwe Grotz. Denn Behinderte, die arbeiten, müssen nicht von der Gesellschaft gestützt werden. Und seiner Ansicht nach steht die Entwicklung erst am Anfang.

"Der eine Bereich ist natürlich das Bestreben, solche Displays so kostengünstig zu machen, dass jeder blinde Mensch sich sowas leisten kann. Die andere Richtung ist natürlich, dass es im zweidimensionalen Bereich jetzt nicht aufhören kann, sondern dass es hier weitergehen muss, im dreidimensionalen Bereich, in Konturen, die fühlbar sind und dergleichen mehr."

Die 3D-Darstellung könnte beispielsweise durch Stifte realisiert werden, die unterschiedlich stark aus der Platte hervorstehen. Das ist noch Zukunftsmusik, aber dass Blinde wie Oliver Nadig einmal Grafiken am Computer erkennen können, war vor Jahren auch noch undenkbar.
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