"Ein Tag der Genugtuung"

Moderation: Carsten Burtke und Martin Steinhage · 11.06.2011
Das schwarz-gelbe Atomgesetz enthalte mittlerweile fast alle Forderungen der SPD, sagte die Generalsekretärin der Sozialdemokraten, Andrea Nahles. Nachgebessert werden müsse aber beim Ausbau erneuerbarer Energien und beim Thema Gebäudesanierung.
Deutschlandradio Kultur: Wir begrüßen heute Andrea Nahles, die Generalsekretärin der SPD. Guten Tag, Frau Nahles.

Andrea Nahles: Guten Tag.

Deutschlandradio Kultur: Frau Nahles, was überwiegt bei Ihnen in diesen Tagen, die Freude darüber, dass Schwarz-Gelb nun Ja sagt zum Atomausstieg, oder der Ärger darüber, dass sich Frau Merkel an die Spitze der AKW-Bewegung stellt und der Opposition damit ein schönes Thema wegnimmt?

Andrea Nahles: Die Freude, weil letztendlich, muss ich sagen, kann es nur gut sein, wenn wir diesen Weg beschreiten. Es ist der sicherste langfristig für unsere Bevölkerung, aber auch, weil ich mich einfach freue, dass wir bestätigt werden. Ich meine, letztendlich ist es ein Tag der Genugtuung gewesen im Deutschen Bundestag, dass wir gesagt haben, jetzt schaffen wir da wieder die Anknüpfung an unseren eigenen Ausstieg, den Frau Merkel aufgekündigt hatte. Und es ist ein Tag der Genugtuung auch, wir haben '84 in der SPD den Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Atomenergie beschlossen. Und jetzt wird es tatsächlich, auch über alle Parteien hinweg, möglich. Gut.

Deutschlandradio Kultur: Eine Energiewende, da werden Sie uns zustimmen, macht ja nur dann Sinn, wenn drei Kriterien definitiv erfüllt sind. Sie darf die Umwelt nicht zusätzlich belasten. Sie muss Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit garantieren. Wird der schwarz-gelbe Ausstieg diesem Maßstab gerecht, sodass die SPD der Gesetzesvorlage in Bundesrat und Bundestag wird zustimmen können?

Andrea Nahles: Ich sehe einmal das Atomgesetz. Da haben wir unseren Ministerpräsidenten im Bundesrat zu danken. Es sind fast alle die Forderungen, die wir hatten, hin bis zur ergebnisoffenen Suche nach einem Endlager, enthalten. Das sehe ich mittlerweile recht positiv. Und dann gibt es daneben noch gesetzliche Grundlagen, wo wir sehr deutlich sagen, da sind wir noch unzufrieden. Wir haben keine klare Strategie, was das Investitionsvolumen in erneuerbare Energien angeht. Wir müssen aber bei einem Umstieg aber eben mehr investieren, insbesondere bei Gebäudesanierung.

Da hat die Bundesregierung ein Gesetz erlassen, wonach die Mieter die Einzigen sind, die hier belastet werden, was die energetische Gebäudesanierung angeht. Das kann so nicht bleiben. Und wenn das Kriterium ist, es darf nicht mehr CO2-Ausstoß am Ende herauskommen, auch erfüllt werden soll, dann ist Effizienzsteigerung und energetische Gebäudesanierung ein ganz wichtiger Part.

Es gibt also noch viele Baustellen an der Stelle. Das heißt, wir werden uns sehr genau angucken, was die Bundesregierung wirklich vorlegt, und davon unser Votum abhängig machen. Beim Atomgesetz ist aber mittlerweile ein Punkt erreicht, wo ich sagen würde, da können wir mit dem, was wir bisher schon raus verhandelt haben, sehr zufrieden sein.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir gleich mal bei dem Thema Effizienzsteigerung. Was sagt denn die Kleine-Leute-Partei SPD dazu, wenn am Ende vielleicht die Vermieter die großen Gewinner sind, weil die Kosten umgelegt werden auf die Mieter und diejenigen, obwohl sie Energiekosten sparen, am Ende mehr ausgeben müssen?

Andrea Nahles: Es muss ganz klar, wenn sie schon die Verlängerung der Atomlaufzeiten zurücknehmen kann die Frau Merkel innerhalb von einem halben Jahr, dann muss es auch möglich sein, dass sie zurücknimmt, dass bei der Gebäudesanierung einseitig die Mieter belastet werden. Und dann muss es auch möglich sein, dass wir in erneuerbare Energien, auch dezentrale, die Stadtwerke stärken, auch mehr investiert werden kann als bisher und dass es nicht nur große Offshore-Projekte, die den vier großen Energiekonzernen nutzen, gibt, sondern dass es wirklich auch Onshore-Windkraft gibt, Biomasse, Förderung von Stadtwerken, Kraftwärmekopplung halten wir für ein sehr unterschätztes Instrument immer noch... Da gibt es also sehr viel, was notwendig ist. Weil, sie kann nicht hingehen und sagen, wir schalten jetzt ab und dann nur als Antwort auf die Frage, wie wird denn die Stromversorgung gesichert, Gaskraftwerke sagen. Das ist zwar eine Möglichkeit, aber die reicht nicht. Ich glaube, dass fossile Träger noch eine Weile auch gebraucht werden, aber sie sind nicht die Zukunft in dem Sinne, dass sie die Grundlast sind. Letztendlich in den nächsten 20, 30 Jahren brauchen wir grundlastfähige erneuerbare Energien. Und das können wir schaffen. Also, von daher bin ich der Auffassung, dass fossile Energieträger, ob das jetzt Gas oder Kohle ist, auch eben eine wichtige Rolle haben für 'ne Weile, aber auch...

Deutschlandradio Kultur: Als Brückentechnologie.

Andrea Nahles: Als Brücken, wenn man diesen Begriff, den ich immer schon ziemlich bescheuert fand, jetzt mal auf die Kohle- oder die Gaskraftwerke anwenden will, ja, als Brückentechnologie.

Deutschlandradio Kultur: Anderes Stichwort, Frau Nahles. Sie sagten schon "dezentral". Dezentral allein wird ja nicht gehen. Für die Energiewende braucht man auch den Ausbau der Stromnetze. Auch dieses soll gesetzlich in einem Beschleunigungsgesetz geregelt werden. Dabei sollen dann aber die Kompetenzen der Länder beschnitten werden, damit es nicht so schrecklich lange dauert. Was sagen denn zum Beispiel die SPD-Ministerpräsidenten dazu, wenn bald in ihrem Sprengel die Bundesregierung rein regiert?

Andrea Nahles: Ja, das geht gar nicht. Energieumstieg kann nicht mit weniger Demokratie verbunden werden. Es muss möglich sein, einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen. Da sind übrigens auch die Grünen gefragt, die sehr oft solche Bürgerinitiativen anführen vor Ort, dass sie auch bei einer Energiewende konsequent sind und dann auch vor Ort sagen, so, jetzt muss aber auch ein Stromnetz möglich werden, wenn wir eben die Erneuerbaren von der Nordsee nach Bayern auch ermöglichen wollen.
Deswegen aber die Länder zu entmachten oder weniger demokratische Beteiligungsmöglichkeiten, das halte ich nicht für sinnvoll, weil ich glaube, das provoziert erst Widerstände. Und die werden, das sieht man ja bei Stuttgart, dazu führen, dass Großprojekte erschwert und nicht beschleunigt werden.

Deutschlandradio Kultur: Wenn ich mir das Ganze so anhöre, ein bisschen Skepsis schwingt da doch mit. Geht das Ganze vielleicht alles doch zu schnell? Ist es wirklich bis zu Ende gedacht?

Andrea Nahles: Es wäre sicherlich durchaus vernünftig gewesen, auf die Verlängerung der Laufzeiten zu verzichten und dann den Konsens, den wir haben, zu machen. Aber die Bundesregierung hat bereits im letzten Herbst nicht genügend investiert und konsequent genug in den Ausbau von erneuerbaren Energien. Und deswegen ist die Unzufriedenheit über diesen Punkt ohnehin bei mir schon seit über einem Jahr jetzt massiv gewachsen und auch in meiner Partei, sodass ohnehin diese Auseinandersetzung um die Frage, wie konsequent geht man denn eigentlich voran, gekommen wäre.

Wir verlieren im Verhältnis auch zu anderen Ländern den Vorsprung, den wir mühsam erarbeitet hatten unter Rot-Grün, den wir dann auch noch in der Großen Koalition retten konnten, zum Beispiel durch das EEG, das Energieeinspeisegesetz, das hat ja uns auch auf den internationalen Märken Vorsprünge verschafft, weil andere Länder natürlich nicht schlafen, sondern jetzt auch investieren und vorantreiben. Und ich kann nur hoffen, dass der Atomausstieg jetzt diesen Vorsprung, den wir haben – in der Technologie, auch im Zeigen von vernetzten Möglichkeiten, wie man so was in einem Industrieland machen kann -, dass wir den jetzt sogar noch mal wieder ausbauen können. Aber was da bisher von der Bundesregierung liegt, das überzeugt mich nicht.

Deutschlandradio Kultur: Frau Nahles, das Bundeskartellamt erwartet, dass mit der Energiewende die Marktmacht der vier großen Stromproduzenten zunächst einmal sogar noch größer wird, bevor es dann möglicherweise irgendwann tatsächlich zu mehr Wettbewerb kommen könnte. Die SPD will erklärtermaßen, das ist nicht neu, das Oligopol von E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall aufbrechen. Aber wie können Sie das im Interesse der Verbraucher für mehr Wettbewerb zuverlässig organisieren?

Andrea Nahles: Ja eben, indem wir mehr Wettbewerb ermöglichen. Und das bedeutet, dass wir eben die Stromleitungen ausbauen müssen. Das ist eine der demokratischen Antworten, die eben auch mehr Wettbewerb bringen, dass eben kleine Stadtwerke und andere auch die entsprechenden Kapazitäten im Netz haben. Das ist eine der Haupthindernisse für diese strategische Frage, wer eigentlich hat welche Zugänge und wer kann wie über die Netze entscheiden.

Wir haben eine Bundesagentur Netz gefordert schon vor zwei, drei Jahren, als wir noch in der Großen Koalition waren, und damit bezwecken wollten, dass eben hier nicht die Marktmacht eine Wettbewerbs verhinderungsmacht ist. Und das genau fordern wir jetzt auch.

Deutschlandradio Kultur: Sieht das die Bundesregierung auch so?

Andrea Nahles: Die Bundesregierung hat ja einen unklaren Kurs. Man weiß ja ohnehin nicht genau, wenn der Herr Röttgen was sagt, was der Herr Brüderle dann antwortet. Also, ich erkenne zurzeit jedenfalls nicht einen einzigen Vorschlag, der die Marktmacht der vier Großen beschränkt. Sie haben aus fiskalischen Gründen die Brennelementesteuer jetzt erst mal belassen. Das war auch eine Forderung, die die SPD hatte, aber sie wollen, glaube ich, die großen Energiekonzerne jetzt nicht noch weiter reizen. Die drohen ja auch schon mit Klagen. Und deswegen trauen sie sich jetzt auch nicht daran, wirklich Klarheit zu schaffen, was die Netzpolitik angeht.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir mal bei der Macht der Atomkonzerne. Es gibt ja nicht wenige, die befürchten, den deutschen Energiekonzernen könnte im Zuge des Atomausstiegs die Luft ausgehen mit der Folge, dass dann andere große ausländische Anbieter vor der Tür stehen, Stichwort Gazprom aus Russland, Stichwort Gerhard Schröder, ohne dass es für die deutschen Stromkunden preisgünstiger würde. Was tun?

Andrea Nahles: Die Gewinnmargen der deutschen Energiekonzerne sind im Verhältnis zu allen anderen Ländern in Europa deutlich höher. Und wenn Sie jetzt ein bisschen weniger Gewinne machen, dann wird das nicht dazu führen, dass ich mir Sorgen mache um die Prosperität und die Existenz dieser Anbieter.

Deutschlandradio Kultur: Das wäre eine schöne Schlagzeile gewesen.

Andrea Nahles: Ja, das wäre schön gewesen, aber es tut mir leid, diese Sorge hege ich nicht für eine Sekunde. Dass natürlich, wenn jetzt Bayern sagt, sie wollen sechs Kraftwerke Gas machen, jetzt möglicherweise auch noch andere Anbieter, die Gas auch anbieten, mit ins Spiel kommen und mehr als bisher – gut, das ist jetzt für mich eine Sache, da muss ich mich politisch nicht einmischen, sondern das ist eine des Marktes, das sage ich auch mal ganz klar. Und trotzdem: Nein, die Sorge teile ich nicht. Die haben hier sich eine goldene Nase verdient, das ist doch die Wahrheit, in der Vergangenheit.

Deutschlandradio Kultur: Frau Nahles, Atomausstieg und Energiewende haben natürlich auch eine wahltaktische Dimension in dem Sinn, dass die Konstellation Schwarz-Grün auf Bundesebene zumindest eine Option wird. Erleben wir demnächst das große Buhlen von Union und SPD um die Gunst der Grünen?

Andrea Nahles: Wir buhlen nicht, wir haben die größte Schnittmenge mit den Grünen – immer noch. Es geht dabei nicht nur um eine Politik des Atomausstieges, wo, wie gesagt, neben der Frage Atomgesetz auch die Frage des konsequenten Umsteigens auf Erneuerbare sicherlich zwischen SPD und Grünen weitaus mehr Gemeinsamkeiten aufweist als zwischen CDU und Grünen.

Aber es geht ja auch zum Beispiel um Fragen, um Reform des Gesundheitswesens in Richtung Bürgerversicherung, auch wenn wir da noch unterschiedliche Konzepte haben, kann man sich da einigen. Das ist ein gemeinsames politisches Projekt, das wir vorantreiben wollen – Zweiklassenmedizin abbauen, Versorgungsmöglichkeiten auch im ländlichen Raum sichern. Oder die Frage Fachkräftemangel, gleichzeitig aber auch Langzeitarbeitslose nicht ausklinken und da also entsprechend in Politik für Arbeit und faire Arbeitsbedingungen, das halte ich auch für mit den Grünen am besten umsetzbar.

Wenn die CDU und die Grünen, und das schließe ich nicht aus, auch in Teilen der Grünen wird das ja ganz offen gesagt, weiter da mit Koalition spielen, dann heißt das für mich als Sozialdemokratin nur eins: Wir machen uns da nicht abhängig von den Konstellationen, die am Himmel sind, sondern wir müssen auf unsere eigene Stärke setzen, weil am Ende entscheidet doch lediglich: Reicht es für Rot-Grün oder nicht? Und das hängt an uns.

Deutschlandradio Kultur: Trotzdem bleibt die Frage, eine absolute Mehrheit werden Sie nicht kriegen, da muss man kein Prophet sein, wo sind denn Ihre Partner? Bei den Grünen, haben wir gerade diskutiert, könnte es möglicherweise ein bisschen schwierig werden, wenn die sich in Richtung CDU bewegen. Ob es dazu kommt, wissen wir nicht. Bleibt die Konstellation SPD - FDP, SPD - Linkspartei. Ist das eine Option für Sie?

Andrea Nahles: Also, ich kann weder bei der FDP erkennen, dass sie überhaupt die... Die werden erst mal sich erholen müssen in der Opposition, das ist meine Prognose.

Die zweite Frage, die Linkspartei: Da beobachten wir massive innerparteiliche Auseinandersetzungen. Da wage ich eigentlich vor Oktober, November keine Prognose, in welche Richtung sich das entwickelt. Wir warten das auch, offen gesprochen, ab, weil, wenn es keine programmatische eindeutige Linie gibt, die sagt, ja, wir wollen Regierungsverantwortung übernehmen, und die sehe ich zurzeit nicht, ich sehe eine Mehrheit, die sagt, nein, lieber keine Kompromisse machen müssen.... Wenn das aber so bleibt, dann erübrigt sich die Frage auch für uns als Sozialdemokraten.

Wenn es sich überraschenderweise anders entwickelt und sich auch Reformkräfte, auch Leute, die wirklich Regierungsverantwortung übernehmen, dann muss man das mal bewerten, aber eben nüchtern in aller Gelassenheit. Sie werden ja gemerkt haben, dass Sigmar Gabriel und ich die alten Aufgeregtheiten auch im Hinblick Verhältnis SPD - Linke ein stückweit auch versucht haben hinter uns zu lassen. Das hat uns ja nix genutzt, sondern es hat uns immer nur geschadet. Und in dem Moment, wo diese Reibungsfläche nicht mehr da ist, fällt plötzlich der Scheinwerfer auf die Linken und wie die miteinander umgehen und was die inhaltlich für Konflikte haben. Und das ist genau das, was wir wollen. Das soll bitte auch dann innerhalb der linken Partei geklärt werden.

Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie mich an einer anderen Stelle noch mal kurz nachhaken. Sie haben eben wenig überraschend für Rot-Grün plädiert als einer Perspektive. Was ist denn mit der Perspektive Grün-Rot? So unwahrscheinlich ist die Frage ja nicht.

Andrea Nahles: Die Wahrscheinlichkeit für so eine Konstellation auf Bundesebene ist gleich Null. Das sage ich mal ganz klar. Das werden wir auch jetzt hier in Berlin sehen, dass die SPD, die man ja gerne schwächer schreibt, weil das auch eine historische Niederlage war 2009, dass die noch die Power hat, das sehe ich ganz eindeutig. Wir haben über zwei Jahre noch Zeit, auch aus einer schwersten Wahlniederlage herauszufinden. Wir tun unser Bestes, indem wir uns erneuern, die Türen und Fenster unserer Partei auch aufstellen und auch einladen zur Diskussion. Wir sind auch inhaltlich dabei, viele Klärungsprozesse zu machen, die notwendig waren. Das haben wir bei der Rente, das haben wir bei Hartz IV gemacht. Das müssen wir aber auch noch in der Steuerpolitik schaffen. Ich hab das jetzt auch im Bereich der Gesundheitspolitik mit vorangetrieben.

Sie werden sehen, dass 2012, spätestens nach der gewonnenen Schleswig-Holstein-Wahl, die werden wir gewinnen, sag ich jetzt mal, auch klar ist, die SPD ist fit für die Regierungsübernahme und stellt den Kanzler. Da bin ich sehr sicher. Und deswegen, muss ich sagen, beschwert mich dieser Gedanke auf der Bundesebene überhaupt nicht.

Deutschlandradio Kultur: Frau Nahles, Sie sagten kürzlich mit Blick auf die Grünen, kommen wir noch mal zu den Grünen, "dort spiegelten sich, anders als es bei der SPD ist, die Spannungen in der Gesellschaft nicht wider". Das müssen Sie uns mal erklären.

Andrea Nahles: Sagen wir mal so: Wir haben immer wieder festzustellen, das ist mir bei der Rentendebatte aufgefallen, dass die bei den Grünen überhaupt nicht mehr stattgefunden hat. Warum, hab ich mich gefragt. Es gab keinen einzigen öffentlichen, mir bekannten einigermaßen renommierten Grünenpolitiker, der mit der Feststellung, dass man an der Rente 67 festhält, Punkt, eine kritische Anmerkung gemacht hätte. Also, das scheint offensichtlich nicht die Gemüter zu bewegen der Grünen.

Bei uns in der SPD ist das ein Riesenthema. Und da kann ich nur spekulieren, aber aus meiner Sicht sind die Leute, fühlen sich da nicht betroffen. Das heißt, wir haben schon auch noch mal eine andere Klammer zu finden zwischen unterschiedlichen Interessen und Gruppen in unserer Gesellschaft als das offensichtlich die Grünen haben. Deswegen sind wir auch eine Volkspartei. Und nach eigenen Aussagen der Grünen sind sie keine Volkspartei.

Deutschlandradio Kultur: Frau Nahles, warum ist die Volkspartei SPD, wenn sie denn noch eine ist, was ich bestreiten würde, warum ist Ihre Partei so kraftlos und mutlos und ideenlos?

Andrea Nahles: Wir sind weder kraftlos, noch mutlos, noch ideenlos. Und wir sind selbstverständlich auch eine Volkspartei, weil eine Volkspartei absolut nicht nur danach sich orientiert, ob man jetzt bei einer Wahl 23 oder 43 Prozent bekommt, sondern auch die Frage, was für einen Anspruch an Politik habe ich.

Ich beobachte, dass unser Land immer mehr sich in einzelne Gruppen differenziert, wo es immer weniger Miteinander gibt, was funktioniert, was zumindest Interessenkonflikte hervorruft, die teilweise nicht zum Vorschein kommen, weil die einen schon resignieren, sich nicht mehr an Wahlen beteiligen. Wir haben jetzt Kommunalwahlen, da ist die durchschnittliche Wahlbeteiligung 40 Prozent, wo man sich doch fragen muss, was passiert hier eigentlich im Land? Und da ist für mich eine Volkspartei dann eine Volkspartei, also, die SPD ist für mich eine Volkspartei, wenn sie das Miteinander in unserem Land organisieren will.

Übrigens, der Wahlslogan in Bremen von Jens Börnsen war ganz simpel: "Miteinander". Und da hat die SPD 38 x Prozent erreicht. Und ich glaube, das ist auch etwas...

Deutschlandradio Kultur: Bremen ist aber immer Heimspiel für die SPD.

Andrea Nahles: Das ist klar, aber ich denke, wir können auch andere Beispiele nehmen, wo wir deutlich über 30 Prozent haben, was ja auch das Ziel auf der Bundesebene sein muss. ... ist immer da, wo wir es schaffen, eben genau diese unterschiedlichen Interessen, diese unterschiedlichen Gruppen, von denen ich eben auch gesprochen habe, in ihren gemeinsamen Anliegen und ihren gemeinsamen Werten auch anzusprechen. Das ist für mich das Ziel. Und das ist für mich dann eine Volkspartei.

Ideenlos? Warum? Wir haben zum Beispiel jetzt meiner Meinung nach das beste Konzept zur Umsetzung einer Bürgerversicherung vorgelegt – mit neuen Ideen, Lohnsumme für..., die Arbeitgeber anders beteiligen usw. Das ist klassisches Kernthema SPD, soziale Kompetenz wird uns übrigens in der Gesundheitspolitik wie in keinem anderen Thema auch in der Bevölkerung zugestanden.

Und wir haben darüber hinaus, das halte ich für wichtig, Glaubwürdigkeitsprobleme auch offen angesprochen, die wir durch die Hartz-Reformen hatten. Und da sehe ich zum Beispiel das Thema Leiharbeit. Da hat die SPD klare Politik. Wir sagen: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Wir kritisieren auch Fehlentwicklungen, die aus der eigenen Regierungszeit herrühren. Aber ich sage Ihnen eins: Dass wir das korrigiert haben, haben noch nicht alle mitbekommen. Und die Glaubwürdigkeit, die wir verloren haben, ist auch noch nicht zurückgewonnen. Und deswegen, fürchte ich, müssen wir auch weiter darum kämpfen, dass das neue Profil, auch insbesondere das neue soziale Profil der SPD, wirklich auch wieder stärker sichtbar wird, als das jetzt noch der Fall ist.

Deutschlandradio Kultur: Ich will trotzdem noch mal nachfragen: Warum kommen Sie, salopp gesagt, einfach nicht aus den Puschen? Also, die Umfragen sprechen nicht wirklich für Sie. In vielen Großstädten sind Sie kontinuierlich unter 27 Prozent. Über die Ergebnisse in einigen ostdeutschen Ländern wollen wir gar nicht reden. Das ist ja wirklich beängstigend, was sich da für die SPD abspielt. Warum geht es nicht voran? Warum kommt das, was Sie gerade alles angesprochen haben, bei den Wählern, bei den potenziellen Wählern nicht an?

Andrea Nahles: Die SPD stellt in den fünf größten Städten Deutschlands den Bürgermeister bzw. Ministerpräsidenten. Wir sind in den Städten, also, da kann ich Ihre Meinung überhaupt nicht nachvollziehen, die Sie hier vortragen, in einem...

Deutschlandradio Kultur: Städte sind nicht Bundesländer!

Andrea Nahles: Ich will nur sagen, da haben wir natürlich ein differenziertes Parteienspektrum. Teilweise sind ja noch andere kleine Parteien oder freie Wählergruppen auf dem Markt da unterwegs. Da haben wir nicht mehr die Situation, dass wir da, was weiß ich, mit 37 Prozent, wie jetzt in Bremen, oder was auch auffahren können. Aber, ganz ehrlich gesagt, in den Städten sind wir, auch weil wir gute Personen natürlich haben, die auch überzeugen, immer noch in den großen Städten gerade vorne.

Deutschlandradio Kultur: Frau Nahles, es fiel schon das Stichwort von Ihrer Seite, Werben um Mitglieder der Linkspartei, es fiel das Stichwort Parteireform. Dieses alles geschieht ja auch deswegen, weil die SPD in den letzten 30 Jahren die Zahl ihrer Mitglieder halbiert hat. Man könnte zugespitzt sagen, die SPD vergreist. Das Durchschnittsalter der Mitglieder liegt um die 60. Der Mitgliederschwund rührt weniger daher, dass so viele austreten, sondern die Mitglieder sterben weg, es kommen zu wenig neue dazu.

Das heißt doch ganz klar: Die SPD muss sich vor allem um junge Menschen bemühen, dass die wieder Mitglied werden wollen. Wie wollen Sie das schaffen?

Andrea Nahles: Wir haben am allerwenigsten Probleme bei den jungen Mitgliedern, weil, da treten zurzeit die meisten ein. Wir haben positive Bilanzen seit ein paar Jahren wieder.

Die Jusos funktionieren, also die Jugendorganisation der SPD, auch. Das ist erstaunlich.

Deutschlandradio Kultur: Und wo sind denn die 500.000 verloren gegangen?

Andrea Nahles: Wir verlieren... Wir haben 1972/ 74 mal in einem Jahr locker 100.000 Leute aufgenommen. Das war die "Willy-Welle", sag ich jetzt mal. Diese Leute sind jetzt genau in dem Alter, Durchschnittsalter, was Sie beschrieben haben, um die 60. Und die scheiden aus, auch ältere Generationen. Wir kompensieren definitiv nicht mehr den Bestand der eigenen Mitgliedschaft durch neue Mitglieder, also durch neue junge Leute, die dazu kommen, aber ich sage Ihnen, das ist echt ein Gerücht. Wir haben sehr gute Eintrittszahlen, zig-tausende von jungen Leuten jedes Jahr. Das ist gar nicht mal das Hauptproblem.

Das Hauptproblem ist, dass wir bei der jungen Generation aber insgesamt eine große Skepsis gegenüber Großorganisationen insgesamt haben. Entscheidend ist für mich, dass die Leute das Gefühl haben, wenn sie zu uns kommen, können sie mitbestimmen. Wenn sie zu uns kommen, ist ihre Stimme wirksam und ist nicht umsonst. Und die meisten Leute, mit denen ich rede, die sagen, ich geh nicht mehr wählen, ich geh nicht eine Partei, ... ist eben mal folgende, nämlich: Ich hab nicht das Gefühl, dass das irgendwas bringt. Ich hab nicht das Gefühl, dass ich was mit meiner Beteiligung ändern kann. – Und wenn wir da an dem Punkt Angebote machen, das tun wir gerade, gegen Widerstände auch in unserer eigenen Partei, dann können wir, denke ich, auch attraktiver werden für Junge und für andere.

Deutschlandradio Kultur: Liegt das vielleicht auch daran, dass den meisten, die vielleicht sogar ein Interesse an Ihrer Partei haben, nicht klar ist, wo bei Ihnen noch das Sozial-Demokratische ist?

Andrea Nahles: Ich denke, dass viele Leute das Gefühl haben, die SPD muss das Thema soziale Gerechtigkeit wieder stärker in den Mittelpunkt stellen. Und damit bin ich einverstanden. Jawohl, das müssen wir tun.

Wir müssen auch für solide Haushalte stehen. Wir müssen auch sicher in der Energiedebatte, wie in den letzten Monaten, selbstverständlich auch die Position, die wir immer hatten seit '84, vertreten. Aber ich denke schon, dass die SPD da ihre eigentliche Stärke auch hat, wenn es um das Miteinander, den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht und wenn es auch verbunden wird nicht nur mit einem bewahrenden Ansatz, es muss alles so bleiben, wie es ist, aber wenn man sagt, Veränderung ja, aber gerecht.

Und wir haben nun mal in der letzten Regierungszeit, in den elf Jahren, empfindliche Verletzungen da auch ausgelöst, für notwendige Reformen teilweise den Kopf hingehalten, der diese Glaubwürdigkeit, die wir über Jahrzehnte auch hatten, irritiert hat. Und da hilft nichts anderes als immer wieder und konsequent gute Vorschläge machen, sich in jeder Äußerung, wie ich das auch versuche, zu Leiharbeit, zu Gesundheitspolitik usw. klar zu positionieren. Das muss unsere Stärke bleiben.

Deutschlandradio Kultur: Frau Nahles, in zwei Jahren wird die SPD 150. Wenn Sie jetzt stellvertretend für die Jubilarin einen Wunsch frei hätten, eine gute Fee erschiene Ihnen, was würde sich die SPD von heute aus gesehen zum runden Geburtstag wünschen?

Andrea Nahles: Dass wir es schaffen, die sozialdemokratische Idee einer Gesellschaft, in der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität im Mittelpunkt stehen, auch auf der europäischen Ebene gegen rechtspopulistische Strömungen, wie wir sie überall beobachten, zu behaupten. Das sehe ich als das eigentliche Projekt der nächsten 20 Jahre an.

Deutschlandradio Kultur: Herzlichen Dank.


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