Ein Syrer bangt um seine Familie in Afrin

"Ich bin ein Mann ohne Seele"

Trümmer in Jindaris, Afrin, im Norden Syriens nach einem türkischen Artillerieangriff
Teile von Afrin wurden durch die türkischen Angriffe zerstört. © dpa / Sputnik
Von David Bedürftig und Hiba Obaid · 05.03.2018
Alan Ibo floh vor dem Krieg in seiner syrischen Heimat nach Deutschland. Hier ist er in Sicherheit. Doch nun muss er um seine Familie bangen, die in der von der Türkei angegriffenen Stadt Afrin zurückgeblieben ist.
Alan Ibo atmet tief durch. Wie jeden Abend sitzt der 22-Jährige auf dem grauen Sofa seiner kleinen Wohnung im 11. Stock in Berlin-Lichtenberg und versucht, seine Familie und Freunde in Syrien zu kontaktieren.
"Ich komme aus der kurdischen Stadt Afrin, die im Norden des Landes liegt. Dort bin ich aufgewachsen. Mein halbes Leben war in Afrin."
Seit Wochen wird die kurdische Stadt von der türkischen Armee bombardiert. Ibo umklammert seine Kaffeetasse. Er hat Angst. Angst, um seine Familie und Freunde. Angst vor Todesnachrichten auf dem Handy. Ununterbrochen versucht er, Kontakt aufzunehmen.
"Es ist nicht sicher, draußen zu sein. Die Leute verstecken sich in Kellern vor den militärischen Flugzeugen und können keinen Kontakt aufnehmen. Im Keller gibt’s gar keine Verbindung."

In Afrin gibt es nur selten Internet

Erreicht Ibo seine Liebsten, weiß er wenigstens, dass sie noch leben. Aber die Kontaktaufnahme ist nicht einfach. Meist gibt es vor Ort kein Internet.
"Manchmal machen wir es auch so, dass ich meine Mutter in Aleppo anrufe und sie ruft dann meine Tante in Afrin mit einem anderen Telefon an und legt die Handys nebeneinander. Auf diesem Weg kann ich dann die Stimmen aus Afrin hören."
Der etwas schüchterne Mann flüchtete vor zwei Jahren aus dem Krieg in Syrien über die Balkanroute nach Deutschland. Hier findet er einen Job als Integrationslotse im Bezirksamt Berlin-Mitte. Aber der Krieg in Syrien lässt ihn nicht los.
"Man kann sich das nicht vorstellen, wie es ist, wenn man eine Nachricht bekommt und man liest, dass jemand gestorben ist. Dass jemand verletzt wurde. Ich kann dann meinen Tag nicht weiter leben."
Es fällt dem jungen Syrer schwer, die Nachrichten einzuordnen, seine Gefühle zu kontrollieren. Er isst kaum noch und schläft schlecht.
"Man hat keine Lust zu atmen. Meine Verwandten, Freunde, Bekannte: Sie sind in der Schlange zum Tod."

"Ich habe schreckliche Angst"

Niroz hat auch das Gefühl in dieser Schlange zu stehen. Sie lebt zusammen mit ihrem Mann und ihrer fünf Monate alten Tochter in Afrin und heißt eigentlich anders. Ihren echten Namen traut sie sich nicht zu nennen. Per WhatsApp schildert sie ihr Leben in Afrin.
"Ich habe schreckliche Angst um das Leben und die Zukunft meiner Tochter und ich trauere um alle Toten. Meine größte Sorge ist, dass die Welt sich an die Bombardierung und die Blockade in Afrin gewöhnt, die hier und da mal im TV läuft."
Die Menschen in Afrin sind eingesperrt, das syrische Regime lässt niemanden raus. Knapp 4000 Euro bezahlt mancher für Schleuser, um sich nach Aleppo schmuggeln zu lassen. Zu viel für Niroz. Ihr bleibt nur ein kalter Keller, um sich vor den türkischen Bomben zu verstecken.
"Die meiste Zeit leben wir jetzt im Keller. Ich habe zu viel Angst, nach oben zum Kochen zu gehen oder Sachen für meine kleine Tochter zu besorgen. Die Hygiene im Keller ist sehr schlecht, es ist kalt und meine Tochter wurde krank. Auch für die Psyche ist das schwer. Mein Alltag besteht daraus, hier zu warten auf das Knallen der Bomben."

Selbst das Rote Kreuz ist nicht sicher

Dr. Nuri Shayk Qanbar ist der Direktor des Kurdischen Roten Kreuzes in Afrin. Viele Tote, viele Verletzte – auch Kinder – werden bei ihm eingeliefert. Es gebe fast keine Medikamente mehr aufgrund der Blockade:
"Die ärztliche Versorgung von regulären Patienten muss derzeit ob der vielen Kriegsverletzungen fast komplett ausgesetzt werden. Außerdem haben die Krankenwagen große Probleme von Ort zu Ort zu kommen. Besonders in der Nacht werden Autos von Bomben und Raketen gezielt zerstört. Unsere Krankenwagen wurden schon mehrfach angegriffen."
Hier in Deutschland geht der Integrationslotse Alan Ibo demonstrieren gegen den Krieg und sammelt Spenden für Afrin. 3500 Kilometer entfernt bangen seine Familie, Niroz und Dr. Qanbar um ihre Leben. Ibo verliert zunehmend die Hoffnung, fühlt sich ohnmächtig und wehrlos.
"Ich kann dagegen nichts machen, außer dass ich sage: Bleibt ruhig. Versteckt euch im Keller. Ich bin einfach hilflos und ein Mann ohne Seele. Körper ohne Seele."
Bomben, Terror und Tod ließen den jungen Syrer vor zwei Jahren fliehen. Er kam nach Deutschland, weil es hier Frieden, Sicherheit und Arbeit gibt. Momentan kann er sich aber auf nichts Anderes konzentrieren als die Bomben in seiner alten Heimat, muss seinen Führerschein und Deutschkurs auf Halde legen.
"Ich kann nicht überlegen und nichts machen. Außer, dass ich auf dem Handy die Informationen checke, die aus Afrin kommen."
Und - während er das sagt – blickt er schon wieder auf sein Handy. Vielleicht kommen ja irgendwann wieder gute Nachrichten aus Afrin.
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