Ein Symbol für Urbanisierung, Platzangst und Hysterie
Bei dem Buch handelt es sich um eine kulturwissenschaftliche Doktorarbeit, die dennoch gut lesbar ist. Autor Andreas Bernhard ist Journalist bei der "SZ". Mit seiner "Geschichte des Fahrstuhls" erzählt er von den veränderten Vorstellungen vom Haus und der Stadt zwischen 1870 und 1930 in Berlin und den USA.
Die Geschichte des Fahrstuhls beginnt mit einem dramatischen Akt: Elisha Graves Otis fährt 1854 im Kristallpalast der New Yorker "Exhibition of the Industry of all Nations" mit einem selbstgebauten Fahrstuhl 15 Meter in die Höhe und kappt dann zum Entsetzen der Zuschauer das Tragseil. Doch statt in die Tiefe zu stürzen, bleibt die Plattform nach wenigen Zentimetern in den Führungsschienen stecken. "All safe, gentlemen, all safe", ruft Otis und erläutert den von ihm entwickelten Fangmechanismus.
1857 wird in einem New Yorker Warenhaus der erste Personenfahrstuhl eingebaut. Eine Erfolgsgeschichte beginnt, ohne die unsere Städte anders aussähen. Nur: die Szene ist eine Erfindung der Erben, der Firma Otis, schreibt Andreas Bernard in seiner "Geschichte des Fahrstuhls", und präsentiert zudem einen zweiten Aufzugserfinder. Ironischerweise heißt dieser bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts geehrte, heute vergessene Maschinenbauer ganz ähnlich: Otis Tufts.
Nach diesem Auftakt geht in dem Buch des Journalisten der "Süddeutschen Zeitung" "Über einen beweglichen Ort der Moderne" gemächlicher zu, handelt es sich doch um eine kulturwissenschaftliche Doktorarbeit: Bernard untersucht mit Hilfe nicht-fiktionaler und fiktionaler Dokumente, wie der Fahrstuhl die "Imaginationsordnung" des Hauses und der Stadt zwischen 1870 und 1930 in Berlin und den USA verändert.
Er begreift seinen Gegenstand als "technisches Apriori", als eine oft vergessene Voraussetzung und einen Kreuzungspunkt für die Debatten über Familienstrukturen, Hygiene, öffentlichen und privaten Raum, Urbanisierung, Platzangst, Hysterie und modernes, simultanes Erzählen. Bernard benutzt den Fahrstuhl als Vehikel, um die Geschichte der Moderne noch einmal neu zu erzählen.
Die ersten Fahrstühle kommen im Bergbau zum Einsatz, werden aber aus Sicherheitsgründen lange Zeit nicht für die Beförderung von Menschen benutzt. Das Fortbewegungsmittel setzt sich erst in Büro- und Wohnhäusern durch, indem es verschwindet: Nach zahllosen Unfällen mit Quetschungen und Amputationen wird der anfangs offene Schacht der Kabine geschlossen, nur die Zugangstüren bleiben sichtbar. Für die Benutzer verschwindet der Raum zwischen den Stockwerken, und diese erfahren durch den Fahrstuhl eine neue Bewertung.
Beseitigt wird die alte häusliche Sozialordnung, in der unter und über der Bel Etage des Hausbesitzers zunehmend ärmere Schichten lebten. Der Fahrstuhl wertet die höher gelegenen Etagen auf, ganz oben entstehen nun Penthouses und Direktionsbüros. Käufer und Mieter gewöhnen sich allerdings erst langsam daran.
Im Hausinneren beseitigt der Fahrstuhl die oftmals ineinander geschobenen Stockwerke und wild eingezogenen Zwischengeschosse. Er fordert eine klare Etagenzuordnung: Das vertikale Prinzip setzt die strikte Horizontale durch. Das Stockwerk soll klar und übersichtlich vor dem Fahrstuhlbenutzer liegen, damit er sich nicht verirrt. Flure, die sich durch mehrere Wohnungen hindurchziehen, erscheinen nicht mehr zeitgemäß. Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Raum wird vom Fahrstuhl neu geordnet.
Die Veränderungen der Vorstellungen vom Haus zeichnet Andreas Bernard überzeugend nach. Sein Buch ist gut lesbar, was auch daran liegt, dass er es bei der Ankündigung belässt, mit Foucault die "Überlagerungen von subjektiver Regung und diskursiver Ordnung" zu bedenken. In den besten Passagen ähnelt die Geschichte des Fahrstuhls den Arbeiten von Wolfgang Schivelbusch über die Eisenbahnreise oder die künstliche Helligkeit.
Der Vergleich zeigt allerdings auch, was sich Bernard entgehen lässt: Zeigt Schivelbusch, wie sich Technik und Vorstellung gegenseitig bedingen, berührt der Kulturwissenschaftler nur am Rande die Ersetzung des in die Erde versenkten Druckkolbens durch den elektrischen Antrieb, die Konkurrenz mit dem Paternoster, die verfeinerten Sicherheitsmaßnahmen, die Neuerungen der Kabinensteuerung. Dafür gibt es ein süffiges Feuilleton über den Druckknopf ("haptisches Playback"), das zielstrebig auf den Roten Knopf der amerikanischen Atommacht zusteuert.
Rezensiert von Jörg Plath
Andreas Bernard: "Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne". Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt a.M. 2006, 335 S.
1857 wird in einem New Yorker Warenhaus der erste Personenfahrstuhl eingebaut. Eine Erfolgsgeschichte beginnt, ohne die unsere Städte anders aussähen. Nur: die Szene ist eine Erfindung der Erben, der Firma Otis, schreibt Andreas Bernard in seiner "Geschichte des Fahrstuhls", und präsentiert zudem einen zweiten Aufzugserfinder. Ironischerweise heißt dieser bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts geehrte, heute vergessene Maschinenbauer ganz ähnlich: Otis Tufts.
Nach diesem Auftakt geht in dem Buch des Journalisten der "Süddeutschen Zeitung" "Über einen beweglichen Ort der Moderne" gemächlicher zu, handelt es sich doch um eine kulturwissenschaftliche Doktorarbeit: Bernard untersucht mit Hilfe nicht-fiktionaler und fiktionaler Dokumente, wie der Fahrstuhl die "Imaginationsordnung" des Hauses und der Stadt zwischen 1870 und 1930 in Berlin und den USA verändert.
Er begreift seinen Gegenstand als "technisches Apriori", als eine oft vergessene Voraussetzung und einen Kreuzungspunkt für die Debatten über Familienstrukturen, Hygiene, öffentlichen und privaten Raum, Urbanisierung, Platzangst, Hysterie und modernes, simultanes Erzählen. Bernard benutzt den Fahrstuhl als Vehikel, um die Geschichte der Moderne noch einmal neu zu erzählen.
Die ersten Fahrstühle kommen im Bergbau zum Einsatz, werden aber aus Sicherheitsgründen lange Zeit nicht für die Beförderung von Menschen benutzt. Das Fortbewegungsmittel setzt sich erst in Büro- und Wohnhäusern durch, indem es verschwindet: Nach zahllosen Unfällen mit Quetschungen und Amputationen wird der anfangs offene Schacht der Kabine geschlossen, nur die Zugangstüren bleiben sichtbar. Für die Benutzer verschwindet der Raum zwischen den Stockwerken, und diese erfahren durch den Fahrstuhl eine neue Bewertung.
Beseitigt wird die alte häusliche Sozialordnung, in der unter und über der Bel Etage des Hausbesitzers zunehmend ärmere Schichten lebten. Der Fahrstuhl wertet die höher gelegenen Etagen auf, ganz oben entstehen nun Penthouses und Direktionsbüros. Käufer und Mieter gewöhnen sich allerdings erst langsam daran.
Im Hausinneren beseitigt der Fahrstuhl die oftmals ineinander geschobenen Stockwerke und wild eingezogenen Zwischengeschosse. Er fordert eine klare Etagenzuordnung: Das vertikale Prinzip setzt die strikte Horizontale durch. Das Stockwerk soll klar und übersichtlich vor dem Fahrstuhlbenutzer liegen, damit er sich nicht verirrt. Flure, die sich durch mehrere Wohnungen hindurchziehen, erscheinen nicht mehr zeitgemäß. Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Raum wird vom Fahrstuhl neu geordnet.
Die Veränderungen der Vorstellungen vom Haus zeichnet Andreas Bernard überzeugend nach. Sein Buch ist gut lesbar, was auch daran liegt, dass er es bei der Ankündigung belässt, mit Foucault die "Überlagerungen von subjektiver Regung und diskursiver Ordnung" zu bedenken. In den besten Passagen ähnelt die Geschichte des Fahrstuhls den Arbeiten von Wolfgang Schivelbusch über die Eisenbahnreise oder die künstliche Helligkeit.
Der Vergleich zeigt allerdings auch, was sich Bernard entgehen lässt: Zeigt Schivelbusch, wie sich Technik und Vorstellung gegenseitig bedingen, berührt der Kulturwissenschaftler nur am Rande die Ersetzung des in die Erde versenkten Druckkolbens durch den elektrischen Antrieb, die Konkurrenz mit dem Paternoster, die verfeinerten Sicherheitsmaßnahmen, die Neuerungen der Kabinensteuerung. Dafür gibt es ein süffiges Feuilleton über den Druckknopf ("haptisches Playback"), das zielstrebig auf den Roten Knopf der amerikanischen Atommacht zusteuert.
Rezensiert von Jörg Plath
Andreas Bernard: "Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne". Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt a.M. 2006, 335 S.