Ein Symbol für die amerikanische Gesellschaft

Vorgestellt von Joachim Scholl · 27.07.2005
Jonathan Franzen wurde durch seinen Roman "Korrekturen" weltbekannt. Erst nach diesem Erfolg erschienen auch seine beiden ersten Romane auf Deutsch. In "Schweres Beben" erzählt der Amerikaner, was mit einer braven Mittelstandsfamilie passiert, wenn sie plötzlich 22 Millionen Dollar erbt.
Was passiert mit einer braven amerikanischen Mittelstandsfamilie, wenn plötzlich ein Geldsegen von 22 Millionen Dollar über sie kommt? Richtig, alles gerät durcheinander. So ergeht es den Hollands aus Chicago, als die Mutter Melanie zur einzigen Erbin von Stiefoma Rita erklärt wird.

Die entfernte Verwandte ist in Boston gestorben, betrunken von einem Barhocker gefallen, während eines leichten Erdbebens, das die ganze Region in helle Aufregung versetzt. Die Erbschaft hat allerdings einen Haken: Sie besteht ausschließlich aus Aktien eines Bostoner Chemie-Konzerns, der sich bald unangenehme Fragen gefallen lassen muss. Die junge Seismologin Renée Seitchek, die nach den Ursachen des Erdbebens forscht, kommt nämlich einem Umweltskandal ersten Ranges auf die Spur: Dabei hilft ihr Louis, Melanie Hollands Sohn, ein 23-jähriger Aussteiger, der mit dem Reichtum seiner Mutter überhaupt nicht klarkommt. Seine biedere Schwester Eileen dagegen lässt sich umstandslos eine Eigentumswohnung kaufen, in die sie mit ihrem Freund Peter einzieht. Peter wiederum ist der Sohn des Chemiefirmen-Chefs, er hasst seinen Alten und vermutet, dass er ordentlich Dreck am Stecken hat. Allmählich spitzen sich die Dinge zu, Melanies Aktien verlieren fast täglich an Wert – und dann kommt das "schwere Beben"...

Auf nahezu 700 Seiten entwickelt Jonathan Franzen, Jahrgang 1959, einen groß angelegten Krimi, doch weit über diesen spannenden "plot" hinaus ein wild-aggressives Porträt der amerikanischen Gesellschaft am Ende der 1980er Jahre, zu einer Zeit, in der auch Amerika die Ökologie entdeckt, die Frauenbewegung in Schwung kommt und ein tiefer Riss die Generationen teilt. Die Familie Holland ist dafür symbolhaft: Hier die Mutter Melanie, erpicht auf Geld und Status, der Vater Bob ist desillusionierter Geschichtsprofessor, ein zynischer Alt-68er, der am liebsten kifft. Da der Rebell Louis, der sein Studium schmeißt und alles attackiert, was seine Eltern ihm vorleben, und die Tochter Eileen, die sich aus Angst anpasst und dabei doch unwohl fühlt.

Das ist Franzens zentrales Terrain: In der Familie (und denen der zahlreichen Nebenfiguren) konzentriert er alle sozialen und psychologischen Verwerfungen, Konflikte und Traumata. In den großartigen Dialogen und Szenen geht es immer um alles gleichzeitig: um Karriere, Geld, Ansehen, Religion, Liebe und Sex. – "Schweres Beben" ist Jonathan Franzens zweiter Roman, 1992 erstmals erschienen. Nun bringt der Welterfolg der "Korrekturen" (2001) dieses Frühwerk glücklicherweise zum Vorschein. Nach dem noch reichlich wirren, absurd-postmodernen Erstling "Die 27. Stadt" zeigt "Schweres Beben" die Entwicklung Franzens von der grellen Karikatur hin zu einem souveränen satirischen Realismus. Nun sieht man auch, dass der Donnerschlag der "Korrekturen" nicht aus heiterem Himmel kam, sondern planmäßig vorbereitet war. Alle drei Romane Franzens liegen jetzt auf Deutsch vor, man kann durchaus von einem literarischen Projekt sprechen. Wie wird es weitergehen? Nach der Lektüre von "Schweres Beben" ist man umso mehr gespannt.

Jonathan Franzen, Schweres Beben
Roman
Aus dem Amerikanischen von Thomas Piltz
Verlag Rowohlt Reinbek bei Hamburg
704 Seiten, 24,90 Euro