Ein Stück wüstes Land
In ihrem neuen Roman blickt Christina Viragh auf ein Stück wüstes Land. Sie beschreibt eine Wiese und deren Veränderungen im Laufe von Jahrhunderten. Dabei gräbt die Schweizer Autorin auch Erinnerungs- und Erfahrungsräume der Anwohner aus. "Im April" ist ein vielschichtiger Roman, der erst beim genauen Lesen einen regelrechten Sog auf den Leser entwickelt.
"April, der ärgste Monat, verquickt Erinnern und Verlangen" (T.S. Eliot)
"Im April" ist der Titel des neuen Romans von Christina Viragh. Wie ein Motto könnte ihm die Anfangszeile des Gedichtes von T.S. Eliots "The Waste Land" vorangestellt sein. Die in Rom lebende Schweizer Autorin beschreibt einen Flecken wüstes Land, eine Wiese, und deren Veränderungen im Laufe von Jahrhunderten. Sorgsam gräbt sie Erinnerungs- und Erfahrungsräume der Anwohner um. Die "Matte" ist der Mikrokosmos, in dem Christina Viragh menschlichem Dasein nachspürt. Objekt und Instrument ihrer Betrachtungen.
Viraghs Erzählprinzip ist die Verschleierung, die detaillierte Beschreibung der Welt bis zur Undurchsichtigkeit. Wer in Geschichten nur Sachverhalte sucht, das schnell Versteh- und Erfassbare, wird diesen Roman verzagt beiseite legen. Je mehr Informationen die Autorin gibt, desto vieldeutiger werden Vorgänge und Figuren. Indem sie wie eine umgekehrte Archäologin vorgeht, erweitert die Autorin unablässig den Erzählraum. Schicht um Schicht legt sie aufeinander.
"Im April" hat eine Anzahl Hauptfiguren und jede Menge Nebenfiguren. Keine geradlinige Handlung, vielmehr viele verschiedene, simultane Handlungsabläufe. Sie ergänzen sich, finden zur Deckung, laufen parallel oder auseinander. Auf vier verschiedenen Zeitebenen erzählt Christina Viragh in diesem Roman: spätes Mittelalter, Beginn des 20. Jahrhunderts, die 1960er Jahre, Beginn des 21. Jahrhunderts. Immer wieder fügt sie neue Figuren in ihre Geschichte ein, von denen manche zeitversetzt in unterschiedlichen Lebensaltern wiederholt auftauchen. Alle Vorgänge drehen sich um die Wiese, ihre sich verändernde Vegetation und Topographie. Recht spät hat deren Besiedlung eingesetzt, irgendwann im 19. Jahrhundert. Vielleicht eine Folge der merkwürdigen Ereignisse an diesem Ort, von dem es heißt, er sei einst Kultstätte für Geister der Luft und Erde gewesen.
An einem Aprilabend des Jahres 1415 finden sich mehrere Reiter auf der Wiese ein. Ungemäht, von dichtem Wald umgeben, ist sie schon damals keineswegs einladend. Einige Monate zuvor war hier ein Mord geschehen. Man munkelt über die Hintergründe, scherzt und ist doch beklommen. Die Stelle des Verbrechens wird mit einer Stange markiert. Später kommen weitere hinzu.
An einem Aprilabend in den 1960er Jahren betreten zwei Schwestern, Töchter vom Bauern Schacher, Hand in Hand die Wiese. Der alte Weider beobachtet sie am Fenster seiner Villa durch ein Fernrohr. Es ist das letzte, was er sieht, bevor er am Herzinfarkt stirbt.
40 Jahre später, Anfang des 21. Jahrhunderts, liest die junge Mutter Selena Zumwald ein Buch. Autorin ist Mari, eine gebürtige Ungarin, die in den 1960er Jahren als junges Mädchen mit ihrem Vater im selben Mietshaus am Rand der Wiese lebte, in dem Selena Zumwald gerade liest. Alles zeigt sich, wenn man will - so der Titel des Buches. Und wohl auch die These der Autorin Christina Viragh. In den Beschreibungen einzelner Figuren, im Freilegen ihrer Beziehungen, im Entdecken lebensgeschichtlicher Details, im Beschwören einzigartiger Momente.
Ausgestattet mit ungemein hoher Aufmerksamkeit für die Aussagekraft alltäglicher Gegenstände und Redensarten, webt sie ein dichtes Netz an Bezügen. Man liest von Bau- und Abrissarbeiten rund um die Wiese, Familientragödien, Angst, Sexualität und Gewalt. Und kaum einem Glück an diesem Ort.
Bei der ersten Begegnung ist dieser Roman nicht vollständig zu erfassen. Aber er entwickelt einen Sog. Man möchte den beschriebenen Dingen auf den Grund gehen und beginnt erneut. Der Roman fordert die Kombinationsfähigkeit des Lesers heraus und schärft dessen sinnliche Wahrnehmung: durch die genaue Beobachtungen der Autorin, ihre feinen, mitreißenden Naturschilderungen, die reiche, präzise Sprache. Durch ihre hochmusikalische Fähigkeit, das Erzähltempo immer wieder zu verändern, Motive episch und rhapsodisch auszubreiten, auszublenden, wieder aufzunehmen.
"Schacher", heißt es an einer Stelle, "hatte das Gefühl, das man beim Hören von einzelnen Sätzen immer hat, nämlich dass sie in eine riesige Flut hineingesagt sind, in die Flut der vielen Sätze, die man während eines Lebens sagt, eine Flut, in der all das Gesagte bald unkenntlich wird. Und doch gibt es dann einzelne Sätze, die Jahrzehnte überdauern." Christina Viraghs Roman ist voll von solchen Sätzen.
Rezensiert von Carsten Hueck
Christina Viragh: Im April
Zürich, Ammann Verlag
332 Seiten, 19,90 Euro
Rezensiert von Carsten Hueck
"Im April" ist der Titel des neuen Romans von Christina Viragh. Wie ein Motto könnte ihm die Anfangszeile des Gedichtes von T.S. Eliots "The Waste Land" vorangestellt sein. Die in Rom lebende Schweizer Autorin beschreibt einen Flecken wüstes Land, eine Wiese, und deren Veränderungen im Laufe von Jahrhunderten. Sorgsam gräbt sie Erinnerungs- und Erfahrungsräume der Anwohner um. Die "Matte" ist der Mikrokosmos, in dem Christina Viragh menschlichem Dasein nachspürt. Objekt und Instrument ihrer Betrachtungen.
Viraghs Erzählprinzip ist die Verschleierung, die detaillierte Beschreibung der Welt bis zur Undurchsichtigkeit. Wer in Geschichten nur Sachverhalte sucht, das schnell Versteh- und Erfassbare, wird diesen Roman verzagt beiseite legen. Je mehr Informationen die Autorin gibt, desto vieldeutiger werden Vorgänge und Figuren. Indem sie wie eine umgekehrte Archäologin vorgeht, erweitert die Autorin unablässig den Erzählraum. Schicht um Schicht legt sie aufeinander.
"Im April" hat eine Anzahl Hauptfiguren und jede Menge Nebenfiguren. Keine geradlinige Handlung, vielmehr viele verschiedene, simultane Handlungsabläufe. Sie ergänzen sich, finden zur Deckung, laufen parallel oder auseinander. Auf vier verschiedenen Zeitebenen erzählt Christina Viragh in diesem Roman: spätes Mittelalter, Beginn des 20. Jahrhunderts, die 1960er Jahre, Beginn des 21. Jahrhunderts. Immer wieder fügt sie neue Figuren in ihre Geschichte ein, von denen manche zeitversetzt in unterschiedlichen Lebensaltern wiederholt auftauchen. Alle Vorgänge drehen sich um die Wiese, ihre sich verändernde Vegetation und Topographie. Recht spät hat deren Besiedlung eingesetzt, irgendwann im 19. Jahrhundert. Vielleicht eine Folge der merkwürdigen Ereignisse an diesem Ort, von dem es heißt, er sei einst Kultstätte für Geister der Luft und Erde gewesen.
An einem Aprilabend des Jahres 1415 finden sich mehrere Reiter auf der Wiese ein. Ungemäht, von dichtem Wald umgeben, ist sie schon damals keineswegs einladend. Einige Monate zuvor war hier ein Mord geschehen. Man munkelt über die Hintergründe, scherzt und ist doch beklommen. Die Stelle des Verbrechens wird mit einer Stange markiert. Später kommen weitere hinzu.
An einem Aprilabend in den 1960er Jahren betreten zwei Schwestern, Töchter vom Bauern Schacher, Hand in Hand die Wiese. Der alte Weider beobachtet sie am Fenster seiner Villa durch ein Fernrohr. Es ist das letzte, was er sieht, bevor er am Herzinfarkt stirbt.
40 Jahre später, Anfang des 21. Jahrhunderts, liest die junge Mutter Selena Zumwald ein Buch. Autorin ist Mari, eine gebürtige Ungarin, die in den 1960er Jahren als junges Mädchen mit ihrem Vater im selben Mietshaus am Rand der Wiese lebte, in dem Selena Zumwald gerade liest. Alles zeigt sich, wenn man will - so der Titel des Buches. Und wohl auch die These der Autorin Christina Viragh. In den Beschreibungen einzelner Figuren, im Freilegen ihrer Beziehungen, im Entdecken lebensgeschichtlicher Details, im Beschwören einzigartiger Momente.
Ausgestattet mit ungemein hoher Aufmerksamkeit für die Aussagekraft alltäglicher Gegenstände und Redensarten, webt sie ein dichtes Netz an Bezügen. Man liest von Bau- und Abrissarbeiten rund um die Wiese, Familientragödien, Angst, Sexualität und Gewalt. Und kaum einem Glück an diesem Ort.
Bei der ersten Begegnung ist dieser Roman nicht vollständig zu erfassen. Aber er entwickelt einen Sog. Man möchte den beschriebenen Dingen auf den Grund gehen und beginnt erneut. Der Roman fordert die Kombinationsfähigkeit des Lesers heraus und schärft dessen sinnliche Wahrnehmung: durch die genaue Beobachtungen der Autorin, ihre feinen, mitreißenden Naturschilderungen, die reiche, präzise Sprache. Durch ihre hochmusikalische Fähigkeit, das Erzähltempo immer wieder zu verändern, Motive episch und rhapsodisch auszubreiten, auszublenden, wieder aufzunehmen.
"Schacher", heißt es an einer Stelle, "hatte das Gefühl, das man beim Hören von einzelnen Sätzen immer hat, nämlich dass sie in eine riesige Flut hineingesagt sind, in die Flut der vielen Sätze, die man während eines Lebens sagt, eine Flut, in der all das Gesagte bald unkenntlich wird. Und doch gibt es dann einzelne Sätze, die Jahrzehnte überdauern." Christina Viraghs Roman ist voll von solchen Sätzen.
Rezensiert von Carsten Hueck
Christina Viragh: Im April
Zürich, Ammann Verlag
332 Seiten, 19,90 Euro
Rezensiert von Carsten Hueck