Ein Stück gemeinsame Geschichte

09.07.2010
Geschichtsschreibung, die Grenzen überwindet: Die Historiker Jean-Jacques Becker und Gerd Krumeich zeigen in ihrem gemeinsam verfassten Band über den Ersten Weltkrieg, wie Deutsche und Franzosen das Geschehen der Jahre 1914 bis 1918 erlebt haben. Die Doppelperspektive hebt das Buch aus den üblichen Darstellungen heraus.
Der 11. November wird in Frankreich noch immer mit großer Würde und mit großem Pathos gefeiert. Es ist das Ende des Ersten Weltkriegs, der jenseits des Rheins weiterhin "La Grande Guerre", der Große Krieg, genannt wird. Seit langem schon wurde dieser Völkerschlacht in Frankreich mehr Gewicht beigemessen als bei uns: Der Große Krieg war Geburt und Katastrophe des 20. Jahrhunderts zugleich.

Es war ein Krieg, der sich größtenteils in Europa abspielte, und dort tatsächlich in erster Linie zwischen Frankreich und Deutschland. In Nordfrankreich haben die wichtigsten und blutigsten militärischen Operationen stattgefunden. Aber abgesehen von den Ereignissen wollen auch die geistigen Befindlichkeiten der betroffenen Völker untersucht werden. Der Franzose Jean-Jacques Becker und der Deutsche Gerd Krumeich nennen es eine "politische Geschichte der Kriegsmentalitäten".

Es hat lange gedauert, bis diese gemeinsam verfasste, vergleichende Geschichte aus deutscher und französischer Sicht zustande kam. Der Antagonismus zwischen beiden Nationen war zu groß. Jetzt ist die Zeit reif, die Argumente des anderen zu verstehen und anzunehmen, ohne unliebsame Wahrheiten unter den Teppich zu kehren: Das ist das Unternehmen der beiden Forscher. Der eine ist Präsident des Historial de la Grand Guerre in Péronne an der Somme, der andere Historiker an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Im Zentrum des Buches steht nicht der Kriegsverlauf als militärisches Geschehen, sondern der Krieg in der Wahrnehmung der Franzosen und der Deutschen. So beziehen die Autoren in großem Umfang nicht offizielle Quellen in ihre Darstellung ein. Ausgangspunkt ist die Frage: War es ein deutsch-französischer oder doch ein Völkerkrieg? Die Antwort der Autoren: Es war eher ein deutsch-französischer Krieg. Und es war ein totaler Krieg: Frankreich mobilisierte insgesamt sieben Millionen, Deutschland gar 13 Millionen Mann. Damit hatte keiner der Militärplaner vor Kriegsausbruch gerechnet - auch nicht, dass dieser Krieg vier Jahre dauern würde. Die beiden Forscher unterstreichen, dass der Krieg kürzer gewesen wäre, wenn der Siegeswille auf beiden Seiten nicht so groß gewesen wäre.

Die doppelte Perspektive als "Schritt hin zu einer international vergleichenden Geschichtsschreibung" hebt das Buch aus den üblichen Darstellungen heraus. Aber auch die Tatsache, dass es in einer klaren, sauberen Sprache die Erfahrungen aller berücksichtigt: die der Soldaten und der Zivilbevölkerung, der hohen Militärs und Politiker beider Seiten, es beschreibt das Leben an der Front und zu Hause, zitiert Briefe und Schriftsteller, erwähnt Desertionen und Versorgungsmängel. So werden die Autoren dem Anspruch gerecht, mit dem der Verlag das Buch ankündigt: unterschiedliche Kriegserzählungen als gemeinsame Geschichte zu begreifen.

Besprochen von Peter Urban-Halle

Jean-Jacques Becker/Gerd Krumeich: Der große Krieg. Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg 1914-1918
Aus dem Französischen von Marcel Küsters und Peter Böttner
Klartext Verlag, Essen 2010
354 Seiten, 24,95 Euro
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