Ein Stück Europa im Indischen Ozean

Von Burkhard Birke · 30.12.2010
Im März nächsten Jahres wird Mayotte, eine kleine Insel vor Madagaskar offiziell zum französischen Departement. Ein Stück Afrika wird so Teil der EU, für viele der großteils muslimischen Bewohner Mayottes geht damit ein Traum in Erfüllung. Ein Traum, der auch die Bewohner der anderen Komoren-Inseln, auf denen politische Instabilität herrscht, jetzt noch mehr als früher lockt. Der Fluss illegaler Einwanderer will schier nicht abebben, für viele eine Flucht in den Tod.
Donnerstagabend an der Strandpromenade von Mamoudzou. Open-Air-Radio: Unter einem Wellblechdach unweit des Fährhafens haben sich die Amateurmoderatoren und Gäste von Kwezi FM 106,9 um einen runden Tisch versammelt. Slam: Heute ist Gedicht-Tag: Anrufer präsentieren ihre Verse, die Moderatoren antworten auch in Reimform. Thema auch die Départementalisation, wie es hier heißt: Mayotte wird Departement Frankreichs mit allen Rechten und Pflichten:

Die Älteren hört er davon reden: Mayotte Departement ... ...

"Und wird unser kulturelles Erbe das überstehen?(...) Diese Kultur aus einer anderen Welt ... ? Ich sehe dieses Frankreich, das von unten, wo die Moscheen im Keller sind ... Ist das unser Ideal für Kultur und Toleranz? Ich lebe in dieser obskuren Realität, wo Leichen am Strand traurige Banalität eines zum Albtraum gewordenen Traumes geworden sind."

Autor dieser Gefühle von Zweifeln und unweigerlichen Fakten war ein Neuntklässler. 8000 Kilometer vom französischen Mutterland entfernt erlebt er, wie der Traum seiner Eltern Wirklichkeit wird. Gleichzeitig erlebt dieser Teenager auch den Albtraum unzähliger Flüchtlinge: Deren Traum von einem besseren Leben auf Mayotte zerschellt oft an den Korallenriffen, die die Lagune um die Inseln Grande - und Petite Terre umgeben und endet nicht selten auf dem Meeresgrund ... .. oder bestenfalls im CRA, dem Centre de Retention, dem Abschiebelager für illegale Einwanderer.

Mayotte, geografisch Teil des Inselarchipels der Komoren, ist privilegiert, da die einstige Kolonialmacht Frankreich an ihr festgehalten hat. Als sich die anderen Komoreninseln bei einer Volksbefragung 1975 mehrheitlich für die Unabhängigkeit entschieden, stimmten die Mayotter mehrheitlich für den Verbleib beim Mutterland. Statt global für alle Komoren wertete Frankreich das Votum separat, Mayotte wurde Territoire d'outre mer.
Ein völkerrechtlich umstrittener Akt. Die Komoren, unterstützt auch von den Vereinten Nationen, erheben nach wie vor Anspruch auf Mayotte.

"Ihr Anspruch ist unbegründet. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, ein elementarer Bestandteil der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen, gibt uns Mayottern das Recht, den Willen unserer Bevölkerung durchzusetzen. Die Mayotter haben stets gegen die Unabhängigkeit, gegen die Einheit mit den Komoren und für Frankreich gestimmt."

Erläutert Abdoulatifou Aly, Abgeordneter Mayottes in der Nationalversammlung und dort einziger Muslim. 1841 wurde Mayotte vom Sultan an Frankreich verkauft, wurde also viel früher als die Komoren Bestandteil des Kolonialreiches. Nur von 1946 bis 1975 bildete Mayotte eine administrative Einheit mit den Komoren.

Bei der Volksbefragung vom 29. März 2009 haben sich 95 Prozent dafür ausgesprochen, Département zu werden, also den gleichen rechtlichen Status wie die französischen Überseegebiete La Réunion, Martinique und Guadeloupe zu erlangen. Das Ergebnis überrascht kaum, denkt man an die extreme Armut und politische Instabilität in den Nachbarländern der Region. Soibahadine Ibrahim Ramadini, einer der beiden Senatoren Mayottes:

" Schauen Sie sich doch den jüngsten Putschversuch auf Madagaskar an. Auf den Komoren gab es mehr als 40 Staatsstreiche seit der Unabhängigkeit 1975. Das sind doch keine stabilen Verhältnisse. Die Mayotter indes streben nach institutioneller Stabilität. Das ist ein Grund dafür, dass wir Département werden. Und zweitens wollen wir mit dem Mutterland und den anderen Übersee-Départements gleichgestellt werden." "

Denn obwohl Mayotte Teil des Mutterlandes Frankreich war, wurde die dicht bevölkerte Insel in der Vergangenheit eher stiefmütterlich behandelt. Die allgemeine Schulpflicht wurde erst Mitte der 90er-Jahre eingeführt. Nur ganz allmählich wurden weiterführende Schulen gebaut, wurde der Bevölkerung Zugang zu einer umfassenden Gesundheitsversorgung gewährt. Aus vielen Sandpisten und Trampelpfaden durch die tropische Vegetation der Vulkaninsel wurden erst im Zuge der letzten 20 Jahre asphaltierte Straßen.

Mit Blick auf die strategische und auch militärische Bedeutung der Insel im Indischen Ozean, an der Route der großen Tanker vor der Küste Südostafrikas, hat die Regierung in Paris aber in den letzten Jahren die Entwicklung und Hilfen beschleunigt, wie Überseeministerin Marie Luce Penchard am 23. November bei der Verabschiedung der letzten Übergangsgesetze auf dem Weg zur Département-Werdung betonte. Bereits 2008 wurde vom Parlament ein auf sechs Jahre angelegter 550-Millionen-Euro-Pakt auf den Weg gebracht, der zu zwei Dritteln aus Pariser Kassen gespeist wird, mit dem Ziel:

"Das französische Justizwesen, die Gleichheit zwischen Mann und Frau sowie ein vertrauenswürdiges Personenstandsregister einzuführen. Das waren die Grundvoraussetzungen. Dieser Pakt zielt aber auch auf die wirtschaftliche Entwicklung, die Beschäftigungsproblematik, und sieht gewisse Sozialleistungen auf einem Mindestniveau vor: Maßnahmen, die ab 2012 über eine Periode von 20 Jahren greifen sollen."
Gut Ding will Weile haben?! Der soziale Fortschritt kommt aus Sicht der Mahorais, wie die Bewohner Mayottes auf Französisch genannt werden, zu langsam, die Anpassung des Justiz- und Steuersystem indes geht vielen Traditionsbewussten zu schnell.

Fakt ist: Die Sozialleistungen wie Arbeitslosenunterstützung und Ähnliches werden zunächst auf 25 Prozent des Niveaus im Mutterland festgelegt. Einige Leistungen wie Kindergeld werden auf reduziertem Niveau schon heute gezahlt, aber beispielsweise nur für die ersten drei Kinder! Im Gegensatz zum restlichen Frankreich explodiert die Bevölkerung auf Mayotte förmlich: Das Durchschnittsalter liegt bei 17 Jahren!

Départementalisation bedeutet jedoch aus Sicht der Arbeitnehmervertreter die Anwendung aller Sozialvorschriften, zumal die Lebenshaltungskosten teilweise höher als im Mutterland liegen, da fast alles importiert werden muss! Salim Nahouda Generalsekretär der Gewerkschaft CGT auf Mayotte:

"Wir fühlen uns nicht an den Pakt gebunden. Die Sozialvorschriften müssen wie in den anderen Départements angewandt werden. Diese 25 Prozent hat der Staat festgelegt: Aber ohne die Bevölkerung oder die Volksvertreter zu fragen. Bevor irgendwelche Prozentsätze festgelegt werden, sollte der reale Bedarf festgestellt werden. Diese 25 Prozent entsprechen keineswegs den Bedürfnissen! Wir verlangen 50 Prozent mit einer weiteren Anpassung spätestens in fünf Jahren!"

Salim Nahouda meint es ernst: Seine Kollegen in anderen Überseedepartements wie Guadeloupe haben schließlich vorexerziert, wie man einen Arbeitskampf wirkungsvoll führen kann.

Woher aber nehmen, wenn nicht stehlen? Mayotte hängt finanziell am Tropf der Zentralregierung in Paris, und die tritt gerade auf die Ausgabenbremse, um ihre ausufernden Defizite in den Griff zu bekommen. Der amtierende Präfekt, Hubert Derache:

"Inklusive Investitionen zahlt der Staat pro Jahr etwa 600 Millionen Euro. Das ist der Preis dafür, dass dieses Gebiet bei Frankreich bleibt, nachdem es vier Mal in den letzten 35 Jahren seinen Willen der Zugehörigkeit demonstriert hat."

Im Grunde wünschen sich die Menschen das Beste aus zwei Welten. Besonders die Jugend ist gefangen zwischen Tradition und Moderne, wird von Zweifeln geplagt. Was nutzt denn die französische Rechtsprechung, die Zwangsehen und insbesondere die von minderjährigen Mädchen untersagt, wenn die Familien ihre Tradition weiterleben? Mit 17 wurde die Oberschülerin Ishata mit einem 20 Jahre älteren Mann verheiratet:

"Als ich mich geweigert habe, haben sie mir gesagt: Entweder du heiratest oder du verlierst deine Familie. Da habe ich mir gesagt: Was soll ich ohne Familie machen? Ich war erst 17 und ohne Familie, wo ich noch zur Schule gehe ... und noch nicht weiß, was ich mit meinem Leben machen werde."

Trotz Aufforderung ihres Mannes verrichtet Ishata keine Hausarbeit, kocht nicht. Zwar wäscht sie ihre Kleider, aber bügeln muss ihr Mann. So viel Verständnis? Oder ein Missverständnis? Der ureigensten ehelichen Pflicht musste sie freilich nachkommen, zumindest ein Mal:

"Für mich war das Vergewaltigung, denn es war nicht einvernehmlich. Ich hätte das erste Mal gerne mit jemandem geschlafen, den ich liebe. Das ist doch etwas Intimes – sonst ist das so, als würde man sich verkaufen, prostituieren."

Ishata ist die Jüngste der Familie: Sie hat einen Bruder und vier Schwestern, von denen eine auf den Komoren sich der Zwangsehe verweigert hat und aus dem Familienkreis verbannt wurde. Das war Ishata offenbar Warnung! Sie hat auch jede Menge Halbgeschwister: Denn ihr mittlerweile verstorbener leiblicher Vater hatte insgesamt drei Frauen! Alle stammen von den Komoren.

Im Jahr 2000 kam Ishata nach Mayotte, ganz regulär mit dem Flugzeug, aber ohne dauerhafte Aufenthaltsberechtigung. Damals war sie acht. Jetzt hat sie ihre Papiere bei der Präfektur beantragt und hofft, bald Französin mit allen Rechten zu werden oder sie wird zurück auf die Komoren gebracht, obwohl sie ihre Schulbildung auf Mayotte bekommen und ihre Familie längst Wurzeln hier geschlagen hat.

Auch das ist Teil der Realität dieser französischen Insel im Indischen Ozean. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung von 200 000 stammt von den benachbarten Komoren, hält sich illegal auf Mayotte auf. Das Wohlstandsgefälle wirkt wie ein Magnet, der im Zuge der Departement- Werdung Mayottes noch an Kraft gewinnt. Präfekt Hubert Derache Ende November:

"Wir kämpfen gegen diese illegale Einwanderung. Um eine Zahl zu nennen: Bisher haben wir in diesem Jahr 23.255 Personen von Mayotte nach Anjouan zurückgeführt. Im ganzen Jahr 2009 waren es 19.972 – das heißt wir verzeichnen einen deutlichen Anstieg von 30 Prozent. Wir werden unsere Bemühungen aufrechterhalten, um zu unterstreichen: Mayotte hat sich für Frankreich entschieden, und das müssen wir respektieren."

Vier schnelle Patrouillenboote eskortieren die illegalen Einwanderer zurück oder fangen die Boote auf dem Weg ins vermeintliche Paradies ab.

"Die Marine hat drei große Radarstationen rings um die Insel aufgestellt. Das
Personal in der Zentrale meldet uns Bewegungen und unsere Aufgabe ist es, festzustellen, ob es sich um Fischer, Segler oder illegale Einwanderer handelt."

Erläutert Major Christophe Peyrache die Mission der Grenzpolizei auf einer Patrouillenfahrt. Häufig gehen ihnen nur komorische Fischer ins Netz. Die kommen, um ihren Fisch gegen Euros teuer auf Mayotte zu verkaufen . Uninteressant für die Grenzschützer, die an diesem Abend jedoch erfolgreich sind.

Eine Kwassa Kwassa – ein kleines Boot vollgepackt mit Menschen, die zusammengekauert, teils flach auf dem Schiffsboden liegen. Kwassa Kwassa ist eigentlich ein afrikanischer Tanz, bei dem sich die Hüften heftig hin- und herwiegen und schwingen – so wie die gelegentlich mit bis zu 50 Personen völlig überbesetzten Fischerkanus, die die 70 Kilometer von der nächsten Komoreninsel, Anjouan, nach Mayotte zurücklegen. Wenn sie es schaffen.
Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, wie viele Boote, wie viele Menschen auf dem Meeresgrund liegen, die Suche nach Wohlstand und Glück auf Mayotte mit dem Leben bezahlt haben.

Diese Kwassa Kwassa hat es zumindest bis Mayotte geschafft. An Bord befinden sich acht Personen, darunter Kranke. Einer nach dem anderen werden Passagiere und die Schlepper an Bord der Patrouille gehievt, die Kranken oberflächig untersucht. Prellungen und Verbrennungen – angeblich von einem Autounfall – berichtet der Grenzpolizist: Er spricht ihre Sprache: Komorisch und Shimaorais sind nahezu identisch. Auf Anjouan gibt es kein Krankenhaus: Deshalb wollten sie nach Mayotte, um gratis behandelt zu werden. Und ihre Rechnung geht auf. Major Peyrache:

"Sechs werden zurückgebracht! Die beiden Schlepper kommen vor den Richter, zwei kommen ins Krankenhaus und kommen davon. Das ist nicht schlimm, das gehört zu den Spielregeln: Wir fangen keine Illegalen in den Schulen, an religiösen Kultstätten oder in Krankenhäusern. Wir haben genug Zeit, sie anderswo zu erwischen."

Vor der Rückführung werden die illegalen Einwanderer im CRA, dem Centre de Rétention – ein Gefängnis für Abschiebehäftlinge untergebracht – tabu für Journalisten – nicht aber für Mitarbeiter der Hilfsorganisation Cimade. Sylvie Bryant ist eine von ihnen:

"Es gibt einen großen Raum für die Frauen, einen anderen für die Männer. Alles ist dreckig. Auf dem Boden liegen ein paar kleine Matratzen, aber nicht für alle. 25 Kinder befinden sich momentan dort. Es gibt keine Fenster, kein Sonnenlicht, keine frische Luft. Es stinkt. Es gibt nichts, womit die Kinder spielen oder sich beschäftigen könnten. Letzte Woche waren 104 Personen dort untergebracht und darunter befanden sich mehr als 40 Kinder."

Häufig lassen Eltern einen Teil ihrer Kinder zurück, um die 200 bis 500 Euro für einen erneuten Einwanderungsversuch zu sparen oder wenigstens ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. 8000 solcher Kinder oder Halbwüchsige Straßenkinder soll es mittlerweile geben - bei 40 Familien, die bereit sind, ein solches Kind bei sich aufzunehmen. Präfekt Hubert Derache:

"Das ist ein Problem – deshalb habe ich Anfang November zusammen mit den Sozialdiensten des Conseil Géneral, der Justiz, den Hilfsorganisationen eine Anlaufstelle für allein gelassene Minderjährige eingerichtet, um eine Lösung zu finden. Zunächst müssen wir sie identifizieren, sie resozialisieren und zur Schule schicken."

Die Straßenkinder freilich sind nur Symptom des Gesamtproblems: Mayotte als Teil Frankreichs schwimmt als isolierte und subventionierte Wohlstandszelle im Kanal von Mozambique während die Cousins auf den benachbarten Inseln hungern:

"Man hat eine Grenze, eine Mauer um Mayotte errichtet. Das hat Ungleichheit und Verzweiflung gesät, ja führt selbst zum Tod, denn viele ertrinken."

Als Sprecher verschiedener humanitärer Organisationen kämpft Thibault Lemière für die Rechte insbesondere der Kinder illegaler Einwanderer. Allein mit Repression ist das Problem nicht zu lösen. Davon ist auch Michel Taillefer überzeugt. Der Unternehmer steht seit Jahren bereits dem MEDEF, dem örtlichen Unternehmensverband vor:

"Allein mit Repression hätten wir den Kampf von vorneherein verloren, wenn wir es nicht schaffen, im Einklang mit unseren komorischen Nachbarn deren Gesundheits- und Bildungswesen zu finanzieren und den Warenaustausch zu liberalisieren. Da bei uns Land immer knapper wird, sollten wir Anjouan als unseren Gemüsegarten betrachten und deren Tomaten, deren Gemüse verzehren."

Die Idee besticht, denkt man allein an die Kosten. Zurzeit produziert Mayotte nicht genug oder zu teuer: Mindestlohn über 1000 Euro auf Mayotte, 30 bis 50 Euro pro Monat auf der Komoreninsel Anjouan: Klassische Produzenten von Ylang Ylang, Vanille oder Pfeffer sind deshalb schon lange nicht mehr konkurrenzfähig, es sei denn sie beschäftigen Illegale zu Hungerlöhnen.

Die Einführung des französischen Steuersystems ab 2014 wird die Situation noch verschärfen. Mayotte Département - Die Mahorais und die Regierung im Mutterland spekulieren natürlich auch auf EU-Fördermittel: Schließlich wird Mayotte ultraperiphere Randzone der Europäischen Union.

Wird der Wunsch der Mayotter dennoch zum Albtraum? Endgültiger Verlust der Wettbewerbsfähigkeit, Bruch mit Traditionen, mit islamischer Rechtsprechung, Bruch mit familiären Banden zur großen Familie der Komorer? Auch als Département wird Mayotte noch auf absehbare Zeit nicht nur geografisch weit entfernt vom Mutterland bleiben.