Ein Streitgespräch

Darf man bei Popmusik die Moralkeule schwingen?

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Mit großen Gesten präsentiert Morrissey seine Songs. © picture alliance / dpa / epa Mitchell
Tobias Rapp und Fabian Wolff im Gespräch mit Andreas Müller · 05.12.2017
Bono, Morrissey, Xavier Naidoo - Darf man die Musik mehr oder weniger böser Menschen hören? Ist es egal, was einer sagt und tut, solange der Song toll ist? Zu Gast im Streitgespräch ist der Pop-Feuilletonist Fabian Wolf und Tobias Rapp vom "Spiegel".
Andreas Müller: "Berlin ist die Vergewaltigungsstadt geworden wegen der offenen Grenzen, ich will, dass Deutschland deutsch bleibt" — diese Worte fielen nicht etwa beim AfD-Parteitag in Hannover vergangenes Wochenende, sondern stammen aus einem Interview, das Morrissey dem "Spiegel" gegeben hat.
"Ein faschistischer Führer würde Großbritannien gut tun" — das erzählte 1976 David Bowie dem "Playboy"-Magazin. Und im selben Jahr rief Eric Clapton auf offener Bühne: "Schmeißt die Fremden und die Schwarzen raus aus England, haltet Großbritannien weiß!" — und fordert dazu auf, den Neonaziführer Enoch Powell zu wählen. Das von einem Musiker, dessen gesamte Karriere auf der Ausbeutung schwarzer Musik basierte.
Das sind ein paar Äußerungen von Popgrößen, den beiden Letztgenannten haben Sie nachweislich nicht geschadet, im Falle von Morrissey wird man sehen. Im HipHop und R'n'B sind frauen- und allgemein menschenverachtende Äußerungen quasi Bestandteil des Genres, Künstler wie Chris Brown, R. Kelly oder auch Michael Jackson sind beziehungsweise waren gelinde gesagt fragwürdige Charaktere.
Und einen will ich noch nennen: Seit Jahren ist bekannt, dass U2-Sänger Bono sein Geld in Steueroasen parkt. "Feed the world", aber bitte nicht mit meinem Geld, könnte man sagen.

Darf man die Musik mehr oder weniger böser Menschen hören? Ist egal, was einer sagt und tut, solange der Song toll ist? Darum soll es in dieser Stunde gehen im Wesentlichen, zu Gast hier im Streitgespräch ist heute Nachmittag der freie Popfeuilletonist Fabian Wolf, schönen guten Tag!
Fabian Wolff: Hallo.
Moderator: Und Tobias Rapp vom "Spiegel", schönen guten Tag!
Tobias Rapp: Hallo.
Müller: Bleiben wir vielleicht erst mal bei Morrissey. Der äußert seit Jahren Rechtspopulistisches, nur hat man das hier bei uns nicht so richtig wahrgenommen oder wahrnehmen wollen. Partikel davon tauchten aber auch schon in Liedern auf. In dem eben gehörten Lied, wie gesagt, geht es darum, dass die Medien uns manipulieren, also die Mär von der Lügenpresse, wenn man so will. Gleichzeitig ist es das beste Morrissey-Stück seit Jahrzehnten. Und da ist das Dilemma.
Können wir das trennen? Können wir sagen, na gut, der erzählt da so ein komisches Zeug, aber die Musik ist toll?

"Da spricht nicht das Morrissey-Ich"

Rapp: Ich glaube, dass man bei Morrissey und insbesondere bei diesem Song, den wir gerade gehört haben, erst mal genau hinhören sollte. Weil, das ist jetzt nicht notwendigerweise die Privatperson Morrissey, die da spricht, sondern die Person, aus deren Perspektive da gesungen wird, spricht am Schluss davon, dass sie lieber im Bett bleibt, damit sie keinen Ärger mit dem Chef bekommt, damit sie nicht im Regen an der Bushaltestelle stehen muss.
Also das letzte Mal, dass Morrissey im Regen an der Bushaltestelle stand, um zu seinem Chef zu fahren, um irgendwie zu knechten, ist glaube ich lange her. Also man muss schon erst mal sehen: Da spricht jetzt ein Lyrisches Ich und nicht das Morrissey-Ich.
Müller: Das dachte ich auch, bis zu diesem Interview im "Spiegel"!
Rapp: Richtig. Ich will Morrissey überhaupt nicht verteidigen, ich finde den schon immer fürchterlich. Aber ich möchte doch sozusagen zur Differenzierung aufrufen insofern, als das Set von politischen Meinungen, die Morrissey mit sich herumträgt, wirklich äußerst eklektisch ist. Er hat Margaret Thatcher, nachdem sie tot war, noch aufs Grab gespuckt, er hat einen Song darüber geschrieben, dass er sie am liebsten hängen sehen würde, ...
Müller: Auf der Guillotine wollte er sie ...
Rapp: ... auf der Guillotine sehen würde. Er ist radikal pro Israel und all diese ganzen Sachen, die du gerade gesagt hast. Also bei Morrissey kommt wirklich, glaube ich, ein nicht notwendigerweise politisch konsistentes Set an politischen Meinungen zusammen, dass sich für mich eher so aufsummiert als so die Gedanken eines Exzentrikers und eines Dandys, der sozusagen Gegenpositionen sammelt fast schon, der Leuten auf die Nerven gehen möchte damit und der sich nach dem Nervfaktor aussucht, was er so sagt.
Müller: Fabian Wolf, darf ein Exzentriker machen und tun und sagen, was er will?
Wolff: Wie nennt man jemanden, der alles ästhetisiert und sich von der Allgemeinheit verfolgt fühlt, aber trotzdem sich danach sehnt, in einem Kollektiv aufzugehen? Gibt es da nicht einen Begriff für? Also sicherlich ist das ein bisschen Provokation und auch so ein bisschen l'art pour l'art und so, Oscar Wilde für arme Post-Thatcher-Opfer und so.
Ich würde das trotzdem als einigermaßen konsistent sehen, weil es schon zu einer britischen Tradition passt, links und trotzdem irgendwie komisch rechts zu sein beziehungsweise gegen zu sein und trotzdem für regressive Sachen.
Müller: Aber ist es nicht so: if it walks like a duck and talks like a duck, it's a racist?

"Probleme mit Leuten, die nicht so sind wie er"

Wolff: Ich glaube tatsächlich, dass Morrissey Probleme hat mindestens mit Leuten, die nicht so sind wie er, und dass das, woran sich das aufzieht, das Nicht-so-wie-er-Sein, durchaus Sachen wie Herkunft, Stand und Hautfarbe und vielleicht musikalischer Geschmack sind, und die sind dann auch irgendwie kodiert.
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Morrissey-Konzert zu Ehren des Friedendsnobelpreises - 2013 in Oslo© picture alliance / dpa / Terje Bendiskby
Müller: Ich will noch kurz zu Tobias Rapp kommen. Ich habe derlei Argumentation so oft schon gehört, denn es gibt gerade in einer Generation der um die Fünfzigjährigen so viele, für die bedeutet Morrissey alles, also das war der Gute, der war der Erfinder des Indie-Pop et cetera, der Dandy, der Geschlechtslose, was weiß ich, eine ganz, ganz wichtige Figur, und seit Jahren ...
Wer es wissen wollte, konnte seltsame Äußerungen von ihm hören, lesen. Und jetzt sind sie alle dabei, ihn zurechtzukonstruieren, Dandy, exzentrisch, was weiß ich. Ist es nicht einfach viel einfacher? Er ist jetzt um die 60, ein frustrierter Typ, der eigentlich auch bei Pegida oder AfD mitmachen könnte, weil da eine Entwicklung irgendwie stattgefunden hat und er ist, sage ich mal, gewechselt vom Guten zum Bösen?

"Morrissey war schon immer eine ambivalente Figur"

Rapp: Nee. Ich glaube, dass der schon immer so eine ambivalente Figur war und dass, wenn Leute sich das jetzt so zurechterklären müssen, dann ist das deren Problem und nicht Morrisseys Problem. Ich glaube, dass das, was Fabian gerade gesagt hat, vollkommen richtig ist: Morrissey mag alle nicht, die nicht so sind wie er, und das sind eben fast alle, und deswegen mag er auch fast niemanden. Und das goutieren Leute. Und was Leute auch goutieren, glaube ich, ist das Gefühl, nicht verstanden zu sein, was zu sagen, was ins Leere geht. Also das sind ja auch alles so halbpolitische Gesten, die da mitschwingen.
Ich bin wirklich der Letzte, der Morrissey in irgendeiner Art und Weise glorifizieren würde, ich habe den noch nie gemocht, auch nicht als ich 16 war und ihn zum ersten Mal gehört habe 1987. Mich hat immer schon so eine bestimmte passiv-aggressive Larmoyanz bei Morrissey abgestoßen und mich hat das nie gewundert, dass da fragwürdige politische Äußerungen aus dieser Geste entstanden sind.
Aber wir müssen uns doch schon auch noch mal die Frage stellen: Worüber reden wir eigentlich, wenn wir über Popmusik reden?
Ich glaube, dass Pop eine ganz spezifische Kunstform ist, die auf der einen Seite aus der klassischen Kunst sozusagen das Werkhafte nimmt – das ist dann meistens der Song oder der Videoclip –, die aber sozusagen aus der modernen Medientechnologie noch andere Dinge mitgenommen hat, nämlich den Körper des Künstlers und die Idee des Stars. Also die Idee, dass sozusagen alle Äußerungen, die ein Star tätigt, eben auch sozusagen Werkcharakter zweiten Grades haben. Und daraus ergibt sich sozusagen ein ganz starker Gegenwartsbezug.
Deswegen kommt uns Popmusik immer so viel echter vor, so viel mehr vor wie ein Kommentar zur Zeit als, sagen wir mal, ein Roman oder ein Film oder Kunstwerke, die sozusagen einen längeren Zeitraum beanspruchen.
Und daraus ergibt sich natürlich dieser ganze Quatsch, dass, wenn Amoklauf ist, sofort jemand bei dem Redakteur anruft und sagt: Hat der Attentäter Rammstein gehört, müssen wir da nicht einen Kommentar machen? Als hätte sozusagen eine Rammstein-Platte was mit einem Attentäter zu tun. Aber diese Gefährlichkeit, die sich sozusagen in Pop verkapseln kann, ist sozusagen gleichzeitig ästhetisch und man muss sie sozusagen als Kunst behandeln, aber sie ist eben auch das Pfund, mit dem Popstars wuchern, das ist das, was sie interessant macht, was sie zeitgenössisch macht.
Und ich finde sozusagen, das, worüber wir jetzt sprechen, spielt in diesem Graubereich. Also in diesem Graubereich zwischen, dass man sozusagen die Kunstbehauptung erlaubt – und ich glaube, dass Kunst einen Raum bieten muss, wo erst mal alles erlaubt ist, wo jedes menschliche Gefühl, alle grotesken, kranken, kaputten, ekligen Sachen irgendwie erlaubt sein müssen, weil, die Menschheit braucht sozusagen die Möglichkeit, ungeschützt über diese Dinge sich äußern zu können –, und eben dieser andere Bereich, wo die Frage ins Spiel kommt, wie verhalte ich mich dazu, finde ich das überhaupt gut, darf ich das, also wo sozusagen die Moral reinspielt und die Politik.
Müller: Klar, Freiheit, Freiheit der Kunst natürlich, Freiheit der Meinungsäußerung. Aber es gibt ja noch eine andere Perspektive. Ganz kurz zu Morrissey, der sich auch dahingehend geäußert hat, also es gibt zu viele Pakistanis in England, das müssten eigentlich mal weniger werden, so. Jetzt bin ich kein Pakistani, aber ich könnte mir vorstellen, dass, wenn ich in England lebe und lese das oder höre das womöglich im Radio, dass ich sozusagen mich durchaus als Opfer begreifen kann und das eigentlich nicht gut finde, wenn so einer im Radio gespielt wird oder dass Leute ihm Geld geben. Fabian, wie siehst du das?

"Postmoderne Hilflosigkeit und frühmoderne Heldenverehrung"

Wolff: Das ist eben die Frage, ob man sich tendenziell damit identifiziert, mit so einer Art von meinetwegen Befreiungskampf, ob man sagt: Okay, ich stehe jetzt als Hörer auf der Seite von Gruppen, die irgendwie marginalisiert sind oder verfolgt werden vielleicht sogar aktiv, auch wenn ich nicht zu diesen Gruppen gehöre. Im Gegenteil, wenn ich zu diesen Gruppen gehöre, ist es vielleicht ein bisschen einfacher, mich da irgendwie selber rauszunehmen und das dann trotzdem ästhetisch zu goutieren.
Oder ob man eben sagt – und für mich klingt das dann immer wie so eine Mischung aus postmoderner Hilflosigkeit und frühmoderner Heldenverehrung –, das gehört alles zum Werk, und was er macht, das gehört zu seinem Image, und ja, er sagt das, aber Rollenprosa und so. Das ist dann für mich immer so glitschig, weil ich dann denke: Letztlich gibt es nun mal Fakten, letztlich ...
Zum Beispiel wenn jemand ein Verbrechen begeht, also nicht einen Thought Crime oder so, nicht irgendwas Antisemitisches in einem Song sagt, sondern tatsächlich sich an irgendeinem Menschen vergeht oder irgendwas sagt in einer Interviewsituation, das irgendwie strafrechtlich relevant wäre, da finde ich es dann immer so eine Anton-Loos'sche oder irgendwie 80er-Jahre-everything-goes-mäßige Haltung, die ins Nichts führt, dann zu sagen, na ja, das gehört zu seinem Image oder er muss oder vielleicht ist er in einer Rolle gefangen.
Xavier Naidoo und die Band «Söhne Mannheims» treten am 10.07.2015 in Mannheim im Ehrenhof des Schlosses während eines Konzerts zum 20-jährigen Bühnenjubiläum der Band auf.
Die Songtexte von Xavier Naidoo sind gespickt mit religiösen Botschaften.© dpa / Uwe Anspach
Müller: Jemand, dessen Image sich über die Jahre ziemlich verändert hat, ist das von Xavier Naidoo. Er war der große deutsche Soulstar, er hätte unser Marvin Gaye werden können, und dann veränderte sich ein bisschen was, plötzlich tauchte er sogar – und das war ganz extrem – im Bereich der Reichsbürger auf. Und es gibt zwei Produkte von ihm in diesem Jahr, über "Für dich", das letzte Album, haben wir hier kürzlich schon gesprochen.
Anfang des Jahres erschien auf einem Söhne-Mannheims-Album dieser Track: "Marionetten", Söhne Mannheims mit Xavier Naidoo. Da hat es ziemliche Wellen gegeben und klar, da kann man natürlich sagen, das ist eine Analogie zum Bauernkrieg, die Forke des Bauern, der sozusagen die Herrschenden hinwegsticht. Aber hier könnte man auch sagen, das ist eine Aufforderung zum Mord an deutschen Politikern.
Rapp: Ich würde vor allem erst mal sagen, das ist ein wahnsinnig schlechter Song. Also das ist schlecht gereimt, schlecht gerappt und auch für Xavier Naidoos Verhältnisse, der ja wirklich eine sehr gute Stimme hat, auch nicht gut gesungen. Da sieht man, dass die politische Absicht die künstlerische Absicht deutlich überlagert.

"Totaler Quatsch, also totaler Irrsinn"

Wolff: Wenn es um Pop und Politik geht – und das möchte ja ein politischer Song sein, auch wenn man das sofort als irgendwie Abfallprodukt von irgendeinem Blog oder so oder irgendeinem Facebook-Fake-News-Account oder so abtut, aber es möchte ja ein politischer Song sein, der irgendwie eine Vision der Gesellschaft präsentiert – ist ja die Frage: Was ist einem wichtiger? Ob es jetzt irgendwie stimmt, also ob es irgendwie ...
Es hat mal jemand bei Pitchfork im Zuge von einer M.I.A.-Diskussion aufgebracht: Is it right or is it resonant? Löst das irgendwie was aus, ästhetisch, in mir, auch wenn es Quatsch ist? Oder ist es quasi politisch auf der Linie, die ich irgendwie für sinnvoll erachte, aber halt ein bisschen langweilig? Hier ist halt das Problem, es hat beides nicht, es ist totaler Quatsch, also totaler Irrsinn. Aber selbst diese Bauernkrieg-Bilder kicken halt nicht so, die sind auch einfach langweilig und so ein Abziehbild und Plastik und schwach.
Müller: Jetzt bin ich natürlich kein Jurist, jetzt weiß ich nicht: Könnte eine sozusagen ästhetisch gelungene Version der Aufforderung, einen Politiker zu töten — Ist das erlaubt?
Wolff: Nee, Schlingensief ist dafür ja damals belangt worden, als er sein "Tötet Helmut Kohl"-Poster auf der documenta aufgehängt hat.
!Müller:!! Und heute ist es ein Klassiker des Theaters der vergangenen 25 Jahre.
Rapp: Gut, das wird dieses Stück sicherlich nicht sein, das wird auch nirgendwo gespielt, habe ich das Gefühl.
Wolff: Deswegen ja. Radio, das ist quasi so vorauseilende Kritik: Na ja, ihr werdet das ja sowieso nicht spielen! Da kommt man ja auch mit, sozusagen, du wirst das, was ich jetzt sage, sowieso dir nicht anhören.
Müller: Auf seinem neuen Album, also auf dem Soloalbum, ist er dann eher ins Private gegangen, auf die Feier der Familie, auf "Für dich", sehr viel Liebe et cetera, aber vielleicht auch kein besonders tolles Album. Vielleicht in einem Satz: Ist das jetzt ein Trottel, den man irgendwie vor sich schützen muss, oder ist das ein gefährlicher Mensch, dieser Naidoo?
Wolff: Ich halte ihn für lieb, aber verstrahlt.
Rapp: Ja, das würde ich auch sagen. Der ist sozusagen jemand, der eine große Hoffnung war und der sich verirrt hat.
Mick Jagger bei der Eröffnung der Ausstellung The Rolling Stones Exhibitionism im Industria Superstudio in New York 15.11.2016
Mick Jagger bei einer Ausstellungs-Eröffnung im November 2016© imago
Müller: Ich hab mal geguckt und bin auf einen Text einer Band gestoßen, ein Stück, das 1968 veröffentlicht wurde. Die Band war damals schon relativ bekannt, und sinngemäß geht es darum, dass ein Mann irgendwo oben im Hause im Bett liegt und die Schritte einer jungen Frau hört und sagt, du brauchst keine Angst vor mir zu haben, das wird jetzt ein richtiges Fest. Ich kann sehen, dass du gerade mal 15 Jahre alt bist. Das ist doch nicht schlimm, ich will auch keinen Ausweis sehen et cetera. 15 Jahre, wie gesagt.
In der Live-Version des "Stray Cat Blues" der Rolling Stones, gesungen von Mick Jagger 1969, ist sie dann gerade noch 13 Jahre alt. Also das ist eine ganz klare Feier des Sex mit Minderjährigen. Der Künstler, der jetzt hier kurz zu hören ist, hat solche Texte meines Erachtens nicht gemacht.

Das ist R. Kelly, "I wish", einer der ganz Großen des R'natürlich'B, jemand, der dieses Genre in den 90er-Jahren neu definiert hat. Über den, ich glaube, es war seine Platte, hat Tobias Rapp im "Spiegel" eine unfassbare Eloge geschrieben. Es war ein fantastisches Album, eine Feier der Sexualität. Ich glaube, wenige Tage später erschien in der "Village Voice" in New York ein gut recherchierter Artikel eines Journalisten aus Chicago, der quasi nachwies, dass R. Kelly sich sozusagen einen Harem minderjähriger Mädchen hält, das seit Jahrzehnten tut, also Sex mit Minderjährigen hat und durch seine Geldmacht es immer wieder verhindert hat, dass das ans Tageslicht kommt.
Es gab Leaks schon vor zehn Jahren etwa, 15 Jahren, aber er ist immer wieder durchgekommen. Tobias, mal die Frage, wie hat sich das angefühlt für dich? Du feierst ihn, schreibst ihn hoch, und dann, wenige Tage später, platzt diese Bombe?
Rapp: Gut hat sich das natürlich nicht angefühlt. Ich kann da jetzt nur so einen Schritt zurücktreten und sagen, es gibt in der Geschichte des Pop wie in der Geschichte der Kunst eine Menge Leute, die große Sachen gemacht haben, die pädophil waren. Von Edgar Allan Poe über Chuck Berry bis eben zu R. Kelly. Und auch Michael Jackson war ja nicht frei von diesen Anwürfen. Das ändert jetzt erst mal an den Gefühlen und an den Dingen, von denen die Songs handeln, nichts.
Müller: Ich habe gesagt, ich kenne keinen Song von ihm, der das feiert, was Mick Jagger 1968, da kann man sagen, ist das lyrisches Ich, ist das Bad-Boy-Tun?

"Der Fan ist unzurechnungsfähig"

Rapp: Genau. Bei Mick Jagger muss man ja sagen, das hat, glaube ich, weniger damit zu tun, dass Mick Jagger gern mit Teenagern ins Bett gehen würde, als dass er sozusagen so Topoi aus dem Blues aufnimmt und gern ein böser schwarzer Mann sein würde und das dann sozusagen sich zu eigen macht.
Ja, es ist eine komplizierte Frage, weil natürlich, was im Hintergrund steht, ist, dass man sich die Frage stellt, möchte man diesem Mann sein Geld geben, möchte man den Lifestyle, den dieser Mann lebt, damit finanzieren, dass man eine Schallplatte kauft? Man kommt da, glaube ich, in schwieriges Gelände, weil ich glaube, dass man tatsächlich auch trennen muss im Pop sehr stark zwischen dem Verhalten als Fan und dem Verhalten als Kritiker.
Ich glaube tatsächlich, dass als Kritiker einem doch eine Position der Distanz ganz gut zu Gesicht steht, die ich in dem Text möglicherweise ein bisschen hinter mir gelassen habe, da ich da als Fan gesprochen habe. Ich glaube aber, dass das wirklich unterschiedliche Sprecherpositionen sind. Und der Fan artikuliert sich natürlich ganz extrem, und das ist ja auch eine ganz lange Geschichte im Pop, der Fan ist sozusagen …
Müller: Unzurechnungsfähig.
Rapp: Unzurechnungsfähig. Das ist, ganz stark dafür, ganz stark dagegen, das sind intensive Gefühle. Der Kritiker sollte sozusagen so eine Art Ratgeber des Fans sein, aber nicht selbst der Fan.

"Das ist schon alles jenseits von ekelig"

Rapp: Ich war auch Fan, so: "Ignition Remix", der Jam des Jahrtausends, bis eben zu dem Interview, das Jessy Hopper mit Jim DeRogatis, diesem Chicago-"Sun-Times"-Journalist damals geführt hat. Es war nicht ein Exposé, sondern das war ein Interview, in dem Jessica Hopper Jim DeRogatis befragt hat, okay, was hat R Kelly eigentlich gemacht, was haben Sie da in Chicago recherchiert, und warum kümmert uns das nicht? Und seine Antwort: Es kümmert uns nicht, weil die Opfer halt schwarze junge Mädchen waren und damit so ungefähr die marginalisierteste Gruppe in den USA, die denkbar ist, wenn man jetzt irgendwie noch so Trans-Geschichten ausschließt.
Jedenfalls, was ich damit sagen wollte, und dann hat dieser Moment tatsächlich zu einem nicht Umdenken – ich musste mich tatsächlich nicht zwingen, nicht mal Kelly zu hören, sondern wenn, dann "Ignition Remix", da denkt man, okay, es kickt, es jammt, es ist richtiger Jam, aber das ist schon alles jenseits von ekelig. Das ist ja tatsächliches Triebtäterverhalten, irgendwie mit einer Limousine vor McDonalds zu parken und mal zu gucken, was für 14-Jährige rauslaufen, um die dann irgendwie halb einzufangen mit dem Versprechen, ...
Müller: Man kann sagen, er ist natürlich ein kranker Mann. Allerdings ist er durch seinen ungeheuren Reichtum als Gauner und Missbraucher in dieser Situation, wenn man so will, privilegiert. Er kann viel mehr anrichten als viele andere in seiner Position.

"Er tritt immer noch auf, er hat immer noch seine Karriere"

Wolff: Und es gab bisher keinen Moment des Reckoning. Er hat keinen Plattendeal verloren, es hat keine Konzertfirma ihm irgendwie aufgekündigt. Er ist meines Wissens nicht wirklich von Festivals geflogen. Er tritt immer noch auf, er hat immer noch seine Karriere.
Moderator: Also, da ist nichts vor Gericht gelandet beziehungsweise das ist immer noch abgebügelt worden, er ist für nichts verurteilt worden bis jetzt.
Wolff: Weil er Leuten, weil er Eltern Geld gezahlt hat.
Müller: Genau. Aber wir können davon ausgehen, dass da was ist. Jetzt haben wir noch die andere Situation. Wir haben jemanden wie Chris Brown, der seine Frau schlägt. Wir haben Künstler, die weniger im R'n'B, aber im Hip-Hop-Bereich, die seit Jahrzehnten die Gewalt feiern. Und im deutschen Bereich ist es auch so, dass manches davon sofort indiziert wird, unterm Ladentisch nur verkauft werden kann. Da sind wir natürlich dann eher wieder in der Frage Freiheit der Kunst. Aber wenn das alles so zusammenkommt, also echte sozusagen Gangster, die den echten Mord womöglich propagieren oder fordern in Songs. Wie sieht es denn da aus?
Rapp: Ich meine, zynisch gesprochen – nein beziehungsweise man könnte jetzt quasi sagen, ja, das ist das Game, die machen halt das, wovon sie rappen, das ist ja auch irgendwie authentisch. Das ist dann noch mal so ein ganz eigener Fetisch. Aber ich glaube trotzdem, dass da vielleicht eventuell die Täter-Opfer-Balance ein bisschen verschoben ist, als jetzt im Fall von Chris Brown, wo es ja auch einfach um häusliche Gewalt und jemanden, der jemanden umbringen möchte oder in einer eindeutig schlechteren Position ist, geht.
Müllerr: Ich weiß nicht, ob wir das hier in irgendeiner Weise zusammenbinden können, aber ich könnte mir vorstellen, dass Menschen jetzt denken, ja, meine Güte, was soll ich denn jetzt tun? Soll ich die heruntergeladene Datei von Morrissey wieder löschen?
Rapp: Davon hat er eh nichts, wenn es geklaut ist.
Müller: Ich sag jetzt, im Store gekauft oder wie auch immer. Können wir Lebenshilfe geben an irgendeiner Stelle? Muss es einfach jeder mit sich selbst ausmachen?
Rapp: Ich finde den Hinweis der Journalistin Alyssa Rosenberg von der "Washington Post", die ja so Feuilletonistin ist, ganz gut, dass sie sagt, wenn man sich jetzt aus irgendwelchen Gründen – und die Gründe können genauso legitim wie illegitim sein –, dass man sagt, okay, ich konsumiere jetzt einen Film von Polanski oder von Woody Allen oder einen Song von R. Kelly und fühle mich danach irgendwie schlecht, dass man dann sagt, okay, karmamäßig kann man das ausgleichen.
Keine Ahnung, dass man sich danach einen Film von Julie Dash anguckt oder ein Album von Tori Amos oder so kauft. Das ist natürlich sehr neoliberal – jeder Dollar rettet die Welt. Andererseits ist es ja durchaus legitim und führt eventuell dazu, dass man seinen eigenen ästhetischen Horizont erweitert.

Viel erklären und wenig verdammen

Rapp: Ich glaube, dass gerade wir Kritiker tatsächlich vorsichtig und differenziert sein sollten. Ich erinnere nur daran, was in den 90er-Jahren in Deutschland los war, als alle Kritiker dachten, Rammstein seien Nazis. Das war vollkommen absurder, bizarrer Quatsch, der darauf hinaus lief, sich auf einen moral higher ground zu begeben, der in Wirklichkeit aus einer ganz kleinen Welt heraus sprach.
Und ich glaube, gerade in Deutschland, wo wir eben nicht in einer Welt leben, die so popistisch ist wie die britische oder die amerikanische, ist es für Kritiker sehr wichtig, viel zu erklären und wenig zu verdammen.
Müller: Vielen Dank an Tobias Rapp und Fabian Wolf für diese Debatte hier über Pop und die Moral.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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