Ein Strafgericht Gottes?

Es ist nicht unbedingt die Zahl der Opfer, die eine Naturkatastrophe zu einem prägenden Ereignis macht. Das Erdbeben von Lissabon von 1755 erschütterte den Glauben der Menschen zutiefst. In dem Sammelband von Gerhard Lauer und Thorsten Unger wird der Frage nach dem Grund dafür nachgegangen.
Das Erdbeben von Lissabon, das am 1. November 1755 die portugiesische Hauptstadt zerstörte und etwa 30.000 Menschenleben forderte, hat das Zeitalter der Aufklärung tief erschüttert. Bereits die Zeitgenossen fühlten sich durch die Katastrophe herausgefordert, das Beben entweder naturwissenschaftlich oder religiös zu deuten.

So war man damals der Meinung, Erdbeben wären unterirdische Gewitter, vor denen man sich mit dem 1752 von Benjamin Franklin entwickelten Blitzableiter schützen könne, indem man lange Metallstangen in die Erde eingräbt. Im Unterschied zu den naturwissenschaftlichen Deutungen erkannten religiöse Interpretationen in dem Erdbeben ein Strafgericht Gottes.

Aus ganz verschiedenen Perspektiven (religiöser, naturwissenschaftlicher, philosophischer, bildkünstlerischer und literarischer Sicht) wird in dem von Gerhard Lauer und Thomas Unger herausgegebenen Band über "Das Erdbeben von Lissabon" dem Phänomen nachgegangen, warum gerade diese Naturkatastrophe das Weltbild des 18. Jahrhunderts erschütterte. In 35 Aufsätzen wenden sich Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen dem außerordentlichen Ereignis zu und fragen danach, welche Wirkung die Katastrophe ausgelöst hat.

Odo Marquard deutet in seinem Aufsatz "Die Krise des Optimismus" das Erdbeben als den Beginn der modernen Geschichtsphilosophie. "Diese Geschichtsphilosophie", so Marquard, "begreift - ihrer Tendenz nach - die Welt nicht mehr als Schöpfung Gottes, sondern - weil sich die Welt nicht mehr als gute Schöpfung Gottes verstehen lässt - als Schöpfung des Menschen: als Geschichtsphilosophie mit problematischer Gegenwart, aber guter Zukunft."

Für das 18. Jahrhundert wurde das Erdbeben von Lissabon zur Chiffre. Kein anderes Erdbeben hat sich so eingeprägt, obwohl es schwerere Beben gab. So kamen 1683 bei einem Erdbeben, von dem Sizilien heimgesucht wurde, etwa 60.000 Menschen ums Leben. Doch es war das Unglück von Lissabon, das den Glauben der Menschen tief erschütterte.

In der Mitte des 18. Jahrhunderts stellt die verheerende Naturkatastrophe deshalb eine Zäsur dar, weil sie unvereinbar mit einem optimistischen Weltbild war. Die bebende Erde ließ das Denken der Menschen erzittern, wobei der Glaube an das Wahre und Gute auffällige Risse erfuhr.

Während nach Leibniz' Auffassung Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen hatte, stellt sich nach dem Erdbeben die Frage, warum es Gott dann nicht verhindert hat. Vehement ging Voltaire mit dieser philosophischen Ansicht in seinem Roman "Candide" von 1759 ins Gericht. Er erwähnt nicht nur das Erdbeben, sondern karikiert in der Figur des Doktor Pangloss die Auffassung, dass alles allein deshalb gut ist, weil es existiert.

Dass Erdbeben durchaus einen Nutzen haben, diese Auffassung vertritt Kant in seiner Schrift "Vom Nutzen der Erdbeben". Seiner Meinung nach ist der Mensch durch Katastrophen gezwungen, Bewältigungsstrategien zu entwickeln, wie Steffen Dietzsch in seinem Aufsatz "Denken und Handeln nach der Katastrophe" ausführt. Für Kant erwächst aus der Katastrophe ein philosophischer Gewinn, da das Unglück das experimentelle Denken herausfordert - die "verwüsteten Gedanken" müssen neu sortiert werden.

Sortieren und entwerfen musste man auch beim Wiederaufbau der Stadt, wobei architektonische Trümmerarbeit zu leisten war: "Begraben wir die Toten und ernähren die Lebenden", war ein Motto von Pombal, der den Wiederaufbau der zerstörten portugiesischen Hauptstadt leitete.

Wie das 18. Jahrhundert mit einem Ereignis umging, das das Weltbild des Zeitalters erschütterte, lässt sich in diesem Buch nachlesen, das die Wirkungsgeschichte umfassend darstellt. Dabei lädt das Buch auch dazu ein, Vergleiche zu heutigen Katastrophen zu ziehen, die schon immer als Medienereignisse aufgebaut wurden.

Rezensiert von Michael Opitz

Gerhard Lauer und Thorsten Unger (Hg.): Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert
Wallstein Verlag, Göttingen 2008
608 Seiten, 59 Euro